Gestrandet in der Teflon-Welt

von Matthias Schmidt

Weimar, 9. September 2021. Flüchtende, die ihre Abreise herbeisehnen. Die wissen, dass sie vielleicht bald nicht mehr möglich sein wird. Die sich verzweifelt um ein Visum bemühen. Die Angehörige suchen, nicht wissend, ob diese noch am Leben sind oder bereits dem Krieg zum Opfer gefallen. – Wie inszeniert man einen Roman, dessen Handlung täglich in den Nachrichten vorkommt, quasi in Echtzeit?

Schrecken des Krieges

Amir Reza Koohestani lässt die Nachrichten außen vor, und er tut gut daran. Seine "Transit"-Fassung stützt sich im Wesentlichen auf den 1944 erschienenen Roman von Anna Seghers. Die Inszenierung hat ihre herausragenden Momente: Wenn sie der traurigen Poesie vertraut, die Anna Seghers ihren eigenen Fluchterlebnissen abtrotzte. Was Marie auf der Suche nach ihrem Mann, den sie eigentlich verlassen hat, in Marseille erlebt, wie sie versucht, eine neue Liebe zu finden, die in ihrem Herzen das Unglück verdrängen kann. Wie der Erzähler den Schrecken des Krieges erliegt und sich auf eine Lethargie zubewegt, die ihn lieber verweilen lässt, als weiterhin zu fliehen. Sich zu ergeben, was immer auch komme – all das steckt in diesem Stoff, und es ist gut, dass Koohestani das nicht nach Kabul oder Damaskus verlegt hat.

Postmoderner "Konsulatszauber"

Dennoch greift die Fassung des Iraners entscheidend in den Roman ein, verlegt die Handlung aus dem Marseille von 1940/41 in eine heutige Welt. Vor allem aber macht er aus dem mexikanischen Konsulat, das immerhin mehr als 40.000 Menschen die Flucht ermöglichte, eine kalte, menschenverachtende Maschinerie, der es scheinbar um das Gegenteil von Hilfe geht. War das Bemühen der Flüchtenden bei Seghers ein "Visa-Tanz" und "Konsulatszauber", ist es in dieser Inszenierung ein schier aussichtsloser Kampf gegen die Abwimmelungskünste der postmodernen Bürokratie mit den Mitteln der Dienstleistungsindustrie.

Transit2 560 Krafft Angerer uUnerbittlicher Service: Szene aus "Transit" © Krafft Angerer

In der Wahrnehmung dieser Idee offenbart sich allerdings möglicherweise ein Missverständnis, denn die Automatenstimmen, die die in der Botschaft Wartenden mit den gängigen Service-Floskeln abweisen – ganz sicher gemeint als Inbegriff einer entmenschlichten Bürokratie, mehr noch: als Grenzposten, die mit Formalitäten schießen und mit falscher Freundlichkeit sortieren, wer ein Land verlassen oder in ein Land einreisen darf – sorgen beim Weimarer Publikum für Schmunzeln. Hierzulande ist es Comedy-Material, wenn die freundliche Frauenstimme in einer Hotline zum dritten Mal von vorne beginnt: Womit kann ich Ihnen helfen? Mit dem "richtigen" Pass in der Tasche mögen uns die Interviews in der amerikanischen oder der russischen Botschaft enervierend oder schikanös vorkommen; für diejenigen, die Koohestani mit seiner "Transit"-Fassung meint, geht es um Leben und Tod.

Ort ohne Seele

Der Abend mag insgesamt kühl wirken, dennoch geht sein Konzept auf, denn die Botschaft, die auch visuell den Mittelpunkt der Bühne bildet, ist ein Ort ohne Seele, und man kann förmlich spüren, wie die drei Protagonisten – Marie, der Arzt und der Erzähler – im kühlen, unbequemen Nicht-Charme des Botschafts-Warteraums leiden. Sie wirken wie in einer anderen, einer glatten, sauberen, aber eben nicht-menschlichen Welt Gestrandete. Der Halt, den sie angesichts des Krieges suchen, ist hier nicht zu finden. Am Ende werden auf das Botschaftsgebäude Videos von Wellen projiziert. Erst ganz kleine, später immer größere. Verbunden mit einer Soundcollage – man sieht sie auf sich zukommen und hört dabei, wie man von den Wellen verschluckt wird – ist das im Zusammenhang mit dem Thema geradezu körperlich bedrückend.

Transit2 560 Krafft Angerer uBotschaft brutal und kein Halt, nirgends: die Bühne von Mitra Nadjmabadi © Krafft Angerer

Zudem genügen Signalworte, um eine Übertragung des Gehörten zurück in die Grausamkeit der aktuellen Nachrichten anzuregen. Da ist der Erzähler, der berichtet, er habe seinen Ausweis vernichtet, und der nun erfährt, ohne Ausweis könne er keinen Termin bekommen. Da sind die sehr intimen Fragen an Marie, die darauf zielen, ihr eine Scheinehe nachzuweisen. Da sind die Bemerkungen über eine Bombe, die der Erzähler in seinem Koffer haben könnte.

Nicht zuletzt sind da die drei Schauspieler, die hochkonzentriert daran arbeiten, in der doppelt unmenschlichen Umwelt aus Krieg und einer fremden, sie abweisenden Teflon-Gesellschaft stark zu bleiben. Toini Ruhnke als Maria, Oliver Mallison und vor allem Nils Kahnwald als Erzähler spielen das mit der "somnambulen Sicherheit", die Heinrich Böll Anna Seghers Schreiben bescheinigte. Ein sehens-, ein lohnenswerter Abend.

 

Transit
frei nach dem Roman von Anna Seghers
in einer Bearbeitung von Amir Reza Koohestani und Keyvan Sarreshteh
Übersetzung aus dem Persischen von Sören Faika
Regie: Amir Reza Koohestani, Bühne: Mitra Nadjmabadi, Kostüme: Gabriele Rupprecht, Musik: Matthias Peyker, Video: Philipp Hohenwarter, Dramaturgie: Susanne Meister.
Mit: Nils Kahnwald, Oliver Mallison, Toini Ruhnke.
Premiere am 9. September 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.kunstfest-weimar.de

 

Kritikenrundschau

Koohesta­ni hat aus dem Stoff ein inti­mes Kammer­spiel entwi­ckelt, das den Wahn­sinn der Flucht zeigt, schreibt Kevin Hansch­ke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (14.9.2021). Nur lang­sam lösen sich die Poker­faces der Schauspieler*innen und setzen die Geschich­ten frei, die sie an diesen Tran­si­t­ort führen. "Sie spre­chen zunächst in Mono­lo­gen, was die bedrü­cken­de Atmo­sphä­re ins Uner­träg­li­che stei­gert." Das Bühnen­bild besteht aus Sprech­ka­bi­nen, "der Regis­seur persi­fliert damit die kafka­es­ke Visa­bü­ro­kra­tie, die keine Indi­vi­du­al­schick­sa­le kennt, sondern nur Fall­num­mern." Obwohl sich Koohesta­ni auch mit der aktu­el­len Flücht­lings­kri­se ausein­an­der­setze, sind die Verbin­dun­gen, die er herstellt, subtil.

Die Vorlage des Romans werde überschrieben mit einem "heutigen Ton", berichtet Thilo Sauer im Deutschlandfunk (10.9.2021). Der Theaterabend konzentriere sich auf die Beziehung der Figuren und ihren Kampf um Dokumente, so entstehe eine fast schon "kafkaeske Parabel über die unpersönliche Maschinerie der Bürokratie." Amir Reza Koohestani schaffe es mit dieser Inszenierung, "über das Thema Flucht hinaus zu gehen", meint der Kritiker. "Die gnadenlose Bürokratie als Problem geht alle an", ordnet er die Inszenierung ein. Dieser Abend sei "sehenswert", schließt er sein Urteil.

 

 

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