Gedoppelt, gespiegelt, gebrochen ...

von Valeria Heintges

Zürch, 10. September 2021. Die Hauptrolle spielt der Spiegel. Riesengroß bedeckt er fast die gesamte Rückseite der Schiffbau-Box. Leicht gekippt hängt er da – und zeigt alles, was auf der Bühne stattfindet, nochmal. Doppelt die vier Lichtlinien am Rand, die in der Mitte ein großes, schwarzes Quadrat lassen. Doppelt später den Kreis, zu dem sich das Quadrat rundet. Doppelt auch dann den schwarzen Punkt, bis auch der verschwindet und nichts mehr undurchdringlich in der Mitte wabert. Doppelt auch später die Unterwelt, die sich öffnet in dieser "Orpheus"-Inszenierung von Wu Tsang und ihrer Gruppe Moved by the Motion in der Schiffbau-Box des Zürcher Schauspielhauses.

Umgang mit dem Mythos an sich

Denn die Unterwelt liegt hier schlicht unten, unter dem Boden: Platte für Platte heben die Techniker den Boden ab, die Gestänge, die ihn halten. Legen schließlich – in etwas lange währender Zeit – den ganzen tieferliegenden Untergrund frei. Des Spiegels Aufgabe ist es dann, den Zuschauern zu zeigen, was sich da unten, jenseits ihres Blickwinkels abspielt. Noch unter den Wurzelballen der Bäume, die tatsächlich zu sehen sind. Dort verliert Orpheus seine Eurydike. Wieder und wieder...

Orpheus 560 Diana Pfammatter uEurydikes, die ich sah.... © Diana Pfammatter

Wu Tsang gründelt tief in ihrer ersten Inszenierung, die ins Repertoire gehen und den derzeit recht ausgedünnten Zürcher Spielplan anreichern wird. Es interessiert sie der Umgang mit dem griechischen Mythos an sich: Was bedeutet er heute noch? Was bedeutet er für queere Menschen, was für solche mit nicht-weißer Hautfarbe? Und was überhaupt sagt Eurydike zu all dem? Wird sie überhaupt gefragt oder entscheidet der Mann wieder einmal allein? Und Wu Tsang fragt: Wer alles hat sich schon mit diesem Mythos beschäftigt?

Die Antwort ist klar: Es waren viele. Von Claudio Monteverdis "Orpheus", der in manch einem chronologisch-geordneten Opernführer als erstes Werk aufgeführt wird, bis zum Roman "Einstein Intersection" von Samuel R. Delany. Delany ruft letztlich dazu auf, sich von den alten Mythen zu emanzipieren und einen eigenen Mythos zu suchen. Dieser Aussage folgt Wu Tsangs "Orpheus" weitgehend; der Autor des Werks, das 1967 als Bester Science-Fiction-Roman mit dem Nebula Award ausgezeichnet wurde, kommt im Bühnenfilm zu Wort, mit einem Zitat über die Grausamkeit von Religionen im allgemeinen und monotheistischen im besonderen.

Orpheus2 280h Diana Pfammatter uThelma Buabeng  © Diana Pfammatter

Eurydike im Underground

Auf der Leinwand, die das Freilegen der Unterwelt verdeckt, unterhalten sich im Film auch Tosh Basco und Thelma Buabeng als verdoppelte, aber doch recht unterschiedliche Eurydikes. Ihr Tenor ist eindeutig: Es gefällt ihnen in der Unterwelt mit ihrer relaxten Atmosphäre, der Ruhe und der fehlenden Hektik. Man könnte den Zustand der beiden auch mit dem "Underground", der queeren Club-Subkultur assoziieren, in dem sich die Mitglieder von Wu Tsangs Gruppe Moved by the Motion kennengelernt haben. Ganz zu Beginn des Abends fällt das Wort "Club", das zwanglose Herumstreifen der Akteure ist halb eben das, halb wirkt es wie das Abchecken und Kennenlernen zu Beginn eines (jeden) Dating-Abends.

Vieles wird an diesem Abend gedoppelt, gespiegelt, gebrochen. Noch mehr aber wird nur angedeutet und angerissen; könnte so interpretiert werden oder anders. Zu den zwei Eurydikes kommen zwei Orpheus', von denen einer zwischendurch aber auch als Tod gedeutet werden könnte. Und wer ist dieser Cowboy, der sich am Ende dann als Tod entpuppt? Aus Delaneys Roman hat es "Kid Death", der Verschnitt des mordenden Billy-the-Kid mit Totenwächter Charon, auf die Bühne geschafft. Wer das aber nicht im Programmheft liest, wird nicht verstehen, was der Mann mit Western-Hut soll, der zudem noch ein Korsett so über dem Hemd trägt, dass es auch ein Skelett sein könnte.

Spiel mit Schatten und Farbe

Wieder gelingen Wu Tsang großartige Bilder; der Spiegeleffekt lässt immer wieder staunen, wenn sich die Akteure so arrangieren, dass sie wie Gemälde wirken: Zum heterogenen Klangteppich von Asma Maroof, Tapiwah Sohse und Patrick Belaga. Ein Spiel mit Licht, Schatten und Farbe, mit Weiss und Schwarz und Rot. Das beeindruckt. Aber zunehmend stört die Tatsache, dass alles viel oder wenig, dies oder das oder etwas ganz drittes bedeuten könnte. Wenn zudem noch alles in Englisch gesprochen wird, oft genuschelt, oft verzerrt, oft geflüstert, dann spürt man zwar sehr, dass alles mit Bedeutung aufgeladen ist. Aber wenn die für das uneingeweihte Publikum so gar nicht zu entziffern ist, dann schlägt das Beeindruckt-Sein irgendwann in ein Sehr-Genervt-Sein um. Und die grossartige Aussage wird sehr beliebig.

 

Orpheus
von Wu Tsang
Künstlerische Leitung: Moved by the Motion (Wu Tsang, Tosh Basco, Asma Maroof, Josh Johnson, Patrick Belaga), Inszenierung: Wu Tsang, Bühne: Moved by the Motion, Natascha Leonie Simons, Kostüm: Kyle Luu, Musik: Asma Maroof, Patrick Belaga, Tapiwa Svosve Licht: Markus Keusch, Dramaturgie: Joshua Wicke, Kandis Williams
Mit: Tosh Basco, Josh Johnson, Asma Maroof, Raphaël Geb-Loryie, Steven Sowah, Thelma Buabeng, Patrick Belaga, Tapiwa Svosve.
Premiere am 10. September 2021
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

Eine "flirrende, lichtchoreographisch aufgeladene Erzählung" hat Alexandra Kedves gesehen und schreibt im Tagesanzeiger (online am 11.9.2021): Die Gruppe Moved by the Motion um Wu Tsang habe "ein dichtes Gewebe aus Orpheus-Motiven gewirkt und es in neue Kontexte hineingenäht". "Das eigentlich Faszinierende ist aber, dass während der sechzig Minuten immer mal wieder berührende Momente gelingen, die ohne Nachschlagewerk zugänglich sind und trotzdem keine simplen Symbolismen bedienen."

"Die Arbeit ist deshalb so beeindruckend, weil Wu Tsang sich hier mit besonderem Brio auf das Bühnen­dispositiv einlässt," schreibt Daniel Binwanger auf republik.ch (13.9.2021). Der Kritiker hat zum ersten Mal das Gefühl, die Haus­regisseurin Wu Tsang sei mit dieser Produktion, die er als "fuminante Provokation" betrachtet, wirklich im Theater angekommen.

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