Kaugummi fürs Kaugeräusch

von Ralph Gambihler

Jena, 6. November 2008. Als Beitrag zum Thema schöner Sterben wird man Marco Ferreris Skandalfilm von 1973 kaum missverstehen können. Seine Schlemmerparabel läuft ja nicht nur auf die Pointe hinaus, dass die fortwährende Steigerung des Genusses eine Form der Todessehnsucht ist. Es ist auch eine Geschichte über die Qual der Lustmaximierung. Wer will schon so schmerzhaft aufgebläht und dauerfurzend verenden wie Michel Piccoli in der Rolle des TV-Regisseurs Michel?

Ohnehin hat der Film etwas zutiefst Anarchisches. Die frivole Gleichgültigkeit, mit der vier Männer und eine Frau ihren Selbstmord zelebrieren, indem sie sich auf höchstem Niveau zu Tode fressen, mit Austern, Nieren à la bourginion und Crêpes Susette, nebst einer letzen sexuellen Ausschweifung, muss jede Gesellschaft provozieren, die Wohlstands- und Glücksvermehrung propagiert. So viel lässige Negation und Entgrenzung geht einem noch heute ans Gemüt.

Damals war es ein Skandal, der dazu führte, dass der Film in Irland verboten wurde und die dralle Mimin Andréa Ferreol Hausverbot in mehreren Restaurants bekam. Das subversive Potenzial und die schwarze Komik des Stoffes reizte vor zweieinhalb Jahren Dimiter Gotscheff an der Berliner Volksbühne zu einer ersten, ziemlich deftigen Bühnenadaption. Nun gibt es eine zweite, nicht minder deftige.

Das große Hören

Der 1976 geborene Regisseur Eike Hannemann hat sie am Theaterhaus Jena im Rahmen einer "Zelluloid"-Reihe (Filmadaptionen) erarbeitet. Er hat dazu allerdings ein verändertes, postmodernistisch anmutendes Arrangement getroffen: Das große Fressen findet nicht statt, es wird nur gespielt. Die Regie schlüpft mit dem Text in die Meta-Fiktion einer Hörspiel-Produktion. Das Publikum sitzt mit im Studio. Das große Fressen wird also zum großen Hören.

Der Reiz dieses Einfalls ist die sinnliche Brechung und Verfremdung. Das schaurige Gelage bleibt unsichtbar und ist, da es ja nur gespielt wird, vom Ursprungsernst entkoppelt, während wir 75 Minuten lang verfolgen, wie die akustische Version mit allen Tricks und Kniffen erzeugt wird. Das hat Raffinesse und Fallhöhe. Vor allem aber ist es haarsträubend komisch, wenn die bizarre Tragödie des egozentrischen Suizids von Andréa, Philippe, Marcello, Ugo und Michel durch das kuriose Geschehen des professionellen Rollensprechens und Geräuschemachens überlagert wird.

Julian Hackenberg und Ralph Jung, die zwei Darsteller, meistern ihre Aufgabe mit Bravour. Sie haben die Haare mit Brillantine angeklatscht, tragen Partyhemden im Retro-Look und sitzen in einem kleinen Hörspielstudio, in dem all das bereitsteht, was der Mann vom Fach so braucht: eine kleine Holzzarge mit einer Normaltür und eine weitere mit einer Schwingtür, eine Gießkanne als Duschkopf-Ersatz, Teller und Gläser zum stilgerechten Klappern, eine Mini-Küche mit allerlei Kochzeug und Messern, viel Kaugummi für das richtige Kaugeräusch, ein Locher als Quietsch-Apparat, Gummihandschuhe, mit denen sich das Aufflattern von Vögeln simulieren lässt – und, mit Gefühl in ein Glas gedrückt, eine unerhörte Furzerei.

Quer durch den Figurengarten

Offenbar konnte man an den Betriebsgeheimnissen einer ARD-Hörspielabteilung partizipieren. Gespielt wird im Malsaal unter dem Dach. Das ist ein kleiner, sehr intimer Rahmen für diese abgründige Radikal-Komödie, die auch einem Werner Schwab hätte einfallen können. Matthias Koch (Bühne) hat den Raum in einem Akt der Rückwärts-Verfremdung komplett mit rotem Samt ausgeschlagen und ausgehängt, auch den Studio-Bereich, der damit den Anschein einer von Hörspiel-Leuten zweckentfremdeten Lusthöhle erweckt.

Die beiden Darsteller sind pausenlos im Einsatz. Sie machen alle Geräusche selber und teilen sich nicht weniger als elf Rollen. In der Kunst der akustischen Figurenzeichnung haben sie es zu einiger Könnerschaft gebracht. Sie markieren Typen, setzen die Stimmen kräftig voneinander ab. Der Fernsehregisseur Michel beispielsweise ist ein bei jeder Gelegenheit greinender Jammerlappen. Philipp, der gastgebende Richter mit der geerbten Villa, wird als parfümierter Feingeist vernehmbar. Der Flugkapitän Marcello, der im Film von Marcello Mastroianni gespielt wird, lässt den notorischen Macho und Weiberheld raushängen. So geht es quer durch den Figurengarten. Eine Toilettenanlage muss auch explodieren. Derart obskur und komisch wird Hedonismuskritik nicht alle Tage formuliert.


Zelluloid 1:
Das große Fressen

nach dem Film von Marco Ferreri
Regie: Eike Hannemann, Bühne und Kostüme: Matthias Koch.
Mit: Julian Hackenberg, Ralph Jung

www.theaterhaus-jena.de

 

Kritikenrundschau

Fast durchweg große Freude hatte Frank Quilitzsch, der für die Thürnger Landeszeitung (8.11.) nach Jena gefahren ist, an diesem, zum Ohrenschmaus umfunktionierten Filmstoff, den er als "spektakulär Unterhaltung", mitunter auch als "deftig-launige Tragikomödie" empfand. Besonders die "hochkarätigen Schauspieler" bekommen viel Lob. Und natürlich Regisseur Eike Hannemann für die überzeugende kleine Form, die er für das ausschweifende Thema fand, diesen gelungen Balanceakt zwischen Farce und Einfühlung.

 

 

Kommentar schreiben