Erfindung eines Genres

Von Thomas Rothschild

14. September 2021. Man könnte auf die Idee kommen, dass der beachtliche Erfolg von Joachim Meyerhoffs Exkursionen in die Literatur den Schauspielerkollegen ermutigt hätten, von der Seite der reproduzierenden auf die der produzierenden Künste zu wechseln. Das wäre freilich zu kurz gedacht. Klaus Pohl schrieb schon Dramen, als Meyerhoff noch zur Schule ging, und sein großer Wurf "Das Alte Land" wurde uraufgeführt, als Meyerhoff gerade sein Abitur ablegte und sich auf den Eintritt in eine Schauspielschule einstimmte.

Mit Insiderblick

Klaus Pohls jüngster Roman, dessen Titel "Sein oder Nichtsein" sogleich verrät, in welchem Milieu er sich bewegt, beginnt mit einem Satz, der von Heinrich von Kleist stammen könnte: "An einem sonnigen Montag im Februar 1999 versammelte sich das gesamte Schauspielerensemble von Peter Zadeks Hamlet-Produktion in der Straßburger Wohnung des Regisseurs und seiner Frau, der Autorin Elisabeth Plessen, um mit der Probenarbeit zu beginnen." Mit einem entscheidenden Unterschied gegenüber Kleist allerdings. Er lockt mit bekannten Eigennamen und mit einer Produktion, von der zumindest die meisten nachtkritik-Leser wissen, dass sie in der Realität stattgefunden hat. Die Gattungsbezeichnung Roman wird also fragwürdig und die Erwartung von Fiktion relativiert.

Die kurzen Kapitel sind lose aneinander gereiht wie Filmszenen mit zahlreichen erinnerten oder erfundenen Dialogen. Ein Beispiel – aus einem Gespräch zwischen Zadek und seiner Dramaturgin Bärbel Jaksch, die im Text nur Bärbel heißt:

"Wir haben es einfach nicht geschafft", sagte die Dramaturgin. Sie lächelte bedauernd und zugleich unerschrocken.
"Was nicht geschafft?"
"Wir haben es einfach nicht geschafft, sorry!"
"Sprich nicht Englisch mit mir. Nicht geschafft. Nicht geschafft! Was nicht geschafft?"
"Peter."
"Warum sagst du jetzt meinen Namen? Ich weiß doch, dass ich Peter heiße, noch!"
"Peter."
"Sag mir nicht meinen Namen. Sag mir: Was nicht geschafft? Was habt ihr nicht geschafft?"
"Nachzusehen."
"Nachzusehen? Nachzusehen? Wo nachzusehen?"
"Nachzusehen auf dem Plan."
"Mach mich nicht wahnsinnig! Auf welchem Plan?"
"Auf dem Plan mit den gewährten Schauspielerurlauben für Gastspiele."

Se non è vero, è molto ben trovato.

Über den Tod hinaus verehrt

Peter Zadek wird als launischer Mensch gezeichnet, aber nicht moralisierend ins Unrecht gesetzt. Zu Angela Winkler sagt er: "Warum guckst du so böse? Ich kann nicht inszenieren, solange du den Text suchst, dann muss ich die Souffleuse inszenieren."

Cover Klaus Pohl SeinoderNichtseinWer wollte dem widersprechen? Den gelegentlich cholerischen Zadek charakterisiert der folgende Anruf bei der Sekretärin von Luc Bondy, dem damals für das Schauspiel Zuständigen bei den Wiener Festwochen, wo "Hamlet" aufgeführt werden sollte: "Sie müssen sofort Bondy erreichen. Bitte sofort. Wenn Luc Bondy Frau Winkler klarmachen kann, dass er seinen Festwochen-Job verliert und ich zugrunde gerichtet bin, sollte Hamlet platzen, dann wird sie hoffentlich aufhören mit dem Gezicke und sich, eh es zu spät ist, endlich auf die Arbeit einlassen. Bitte machen Sie das Ihrem Chef klar. Hören Sie mich?“

Breiten Raum nimmt der bewunderte Darsteller des Polonius Ulrich Wildgruber mit seinen Skurrilitäten und Eigentümlichkeiten ein. Er bedarf keiner Erfindungskraft. Er stellt genügend anekdotisches Material bereit, an dessen Authentizität man nicht zweifeln möchte. Wenn es in diesem Roman ein heimliches Objekt von Klaus Pohls Liebe gibt, so ist es nicht, wie man erwarten könnte, die Hamlet-Darstellerin Angela Winkler, sondern der schräge Uli Wildgruber. Neben ihm kommen Eva Mattes, Otto Sander, Hermann Lause, Uwe Bohm und all die anderen wunderbaren Schauspieler*innen, die wir lieben und über ihren Tod hinaus verehren, zu kurz. Aber schließlich ist ein Roman kein Protokoll.

Ästhetik und Information

"Sein oder Nichtsein" ist kein humoristischer Roman. Sein Autor neigt nicht zur Ironie und er sucht nicht krampfhaft nach Pointen, wie sie in Autobiographien von Theaterleuten gebräuchlich sind. Wenn dennoch immer wieder komische Stellen vorkommen, so sind sie durch die beschriebenen Situationen und Repliken der Akteure vorgegeben.

"Sein oder Nichtsein" ist Roman und Tatsachenbericht zugleich. Man könnte von einer fiktionalisierten Dokumentation sprechen. Sie befriedigt sowohl ästhetische Bedürfnisse wie auch das Verlangen nach Information. Für den Theaterliebhaber liefert sie einen unverfälschten Insiderblick eines Beteiligten auf den Theateralltag im Allgemeinen und die Probenarbeit eines herausragenden Regisseurs und eines prominenten Ensembles im Besonderen.

Für die Gattung gibt es kaum Vorbilder. Wo ein Theatermacher – meist im Filmgenre der Docufiction – literarisiert wurde wie, diesmal im Drama, Brecht in "Die Plebejer proben den Aufstand" von Günter Grass, geht es nicht so sehr um die Theaterarbeit wie um andere, mit ihr mehr oder weniger eng verbundene Probleme.

Kleine Hamlet-Exegese

Zu den faktisch interessanten Informationen, die "Sein oder Nichtsein" enthält, gehören die eher knappen Überlegungen Zadeks zu Shakespeares Stück im Vergleich zu seiner vorausgegangenen Bochumer Inszenierung, in der Wildgruber die Titelrolle gespielt hatte. So ist der Roman auch ein, wenngleich marginaler, Beitrag zur umfangreichen Exegese des wahrscheinlich meistinterpretierten Dramas der Weltliteratur. Am Ende steht Ulrich Wildgruber, wer sonst. Er hat ein halbes Jahr nach der Wiener Hamlet-Premiere den mehrfach angekündigten Selbstmord verübt. Leider ist das nicht Fiktion.

Dem Vernehmen nach hat sich Joachim Meyerhoff die Filmrechte an "Sein oder Nichtsein" gesichert. Da darf man gespannt sein. Angela Winkler lebt noch und könnte zur Not sich selbst spielen. Ein wenig bange aber macht die Vorstellung, wer Ulrich Wildgruber oder Peter Zadek verkörpern wird und wie. Zu sehr sind sie uns noch in Erinnerung, als dass wir jedes Zerrbild duldeten.

Sein oder Nichtsein
von Klaus Pohl
Verlag Galiani Berlin 2021, 288 Seiten, 23 Euro

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