Alter weißer Mann allein zuhaus

von Valeria Heintges

Zürich, 17. September 2021. Die Eilmeldung kommt nach dem Ende des Stücks: Frankreich hat seine Botschafter aus den USA und Australien zurückgerufen, meldet Spiegel Online. Washington, London und Canberra hatten zwei Tage vorher ein Bündnis zur Sicherung des indopazifischen Raums geschlossen. Frankreich wolle es aber nicht hinnehmen, wie man "einen Verbündeten und europäischen Partner" behandle. Die Regierung sei ehrlich entrüstet. Frankreich hat Interessen in der Region, wirtschaftliche, natürlich. Die USA und Australien handeln und beziehen Europa nicht mit ein? Is this what is left of Europe?

Hintenrum die Hand aufhalten

Ein merkwürdiger Einstieg in eine Theaterrezension zu Friedrich Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" im ehrwürdigen Saal des Zürcher Pfauen, im Jahr von Dürrenmatts 100. Geburtstag, 65 Jahre nach der Uraufführung am selben Ort? Vielleicht. Aber "This is what is left of Europe" ist der meistgesprochenen Satz in der Inszenierung von Nicolas Stemann. Er wird mehrfach wiederholt von Camilla Sparksss, die an den Turntables steht und die beinahe leere Bühne immer wieder mit martialischen Beats flutet (wie sinnig die Doppeldeutigkeit von beats bei dieser Lautstärke). Und dazu sprechsingt: "We are the heartbeat of humanity, we're bleeding vitality, this is shit."

DerBesuchderaltenDame6 600 ZoeAubry uGeflutet mit Beats und später mit Schuhen und Schulden: Bühne in Nicolas Stemanns "Der Besuch der alten Dame" im Zürcher Pfauen © Zoe Aubry

Um Humanität und Gerechtigkeit geht es in Dürrenmatts vielgespieltem Werk. Und darum, wie sie nur mühsam die Gier nach Geld und Wohlstand bemänteln. Wie alle Werte beschreien – und hintenrum die Hand aufhalten. Mit Gerechtigkeit rechtfertigen die Güllener, dass sie ihren Bürger Alfred Ill umbringen und dafür eine Milliarde kassieren. Ill hatte einst Claire geschwängert, im folgenden Prozess die Zeugen bestochen und dafür gesorgt, dass er nicht als Vater des werdenden Kindes verurteilt wurde. Claire zieht gebrochen in die Welt und kehrt 45 Jahre später zurück, als Milliardärin Claire Zachanassian. Sie verspricht dem heruntergekommenen Ort Wohlstand – und fordert dafür die Leiche ihres ehemaligen Geliebten, Alfred Ill.

Schuhkauf auf Kredit

Zuerst weisen sie in Güllen den Antrag ab. Begründung: "Noch sind wir in Europa. Noch sind wir keine Heiden." Doch viel ist nicht "left of Europe". Alle beginnen, alles auf Kredit zu kaufen. Wissend, dass das Geld schon irgendwann fließen wird. Weil Ill sterben wird und muss.

Lässt Stemann zu Beginn den Text noch beinahe ungekürzt spielen, so wird er je länger je mehr gerafft. Der Mord selbst ist kaum noch ein Thema, der Weg dahin, das Zahlen auf Kredit umso mehr. Paket um Paket mit gelben Schuhen wird geliefert, bis sich hunderte Paare versammelt und hunderte Pakete gestapelt haben. Bezahlt wird später: Das gilt in Sachen Geld, aber auch in Sachen Umwelt. Ill verzweifelt immer mehr – bis er sich eingestehen muss: "Ich kann mir nicht mehr helfen. Und euch auch nicht." Da ist die Ausführung nur noch Formsache.

DerBesuchderaltenDame10 600 ZoeAubry uBezahlt wird später in "Der Besuch der alten Dame" © Zoe Aubry

Der Clou der Inszenierung: Dürrenmatts Personenregister verzeichnet 35 Figuren – Nicolas Stemann streicht viele und lässt den Rest von nur zwei – allerdings großartigen – Schauspieler:innen spielen. Sebastian Rudolph und Patrycia Ziółkowska sprechen selten im Duett, mal sind sie beide Claire oder Ill, beide im langen Kleid oder beide in Hosen, mal beide jemand anders. Meist aber ist er Ill und sie Claire.

Auch eine Machtkritik

In fein ziselierten Szenen lassen sie ihre Facetten leuchten, dann wieder improvisieren sie wild oder geben ihrem Affen Zucker. Ziółkowska ist einmal feine Dame und mit einem Ruck am Rock schon wilde Hure. Ist gekränkte Seele und widerlicher Racheengel. Rudolph ist selbstverliebter Fast-Bürgermeister, selbstsicherer Gutbürger und am Boden zerstörter Nicht-mehr-Kandidat und Alter-Weißer-Mann-allein-zuhaus. Denn auch das ist der Zürcher Ill: Eine Version von #MeToo und ausrangiertem Macho, der seine Boshaftigkeit als läppische Lappalie abtut und der Frau mansplainend die Welt erklärt.

DerBesuchderaltenDame9 600 ZoeAubry uIn vielen Rollen: Patrycia Ziółkowska und Sebastian Rudolph © Zoe Aubry

Auf Videoeinspielungen schwenken Frauen Plakate in vielen Sprachen, mit "My body my choice" und mit mehr Rechten für "mujeres". Es ist nur ein Handlungsstrang von vielen, der Kauf auf Kredit – von Geld, von Schuld, von CO2 – ist Stemann wichtiger und insgesamt vorherrschender.

Fingerspiel, Hörspiel

"Es werden noch viele alte Damen zu euch kommen", sagt Ill und hat wohl Recht. Stemanns Gedanken im Programmheft über Humanismus und Verlogenheit, über Kolonialismus und Kapitalismus mögen stimmen und ihren Platz haben. Doch wirkt die karge Besetzung wie ein Fingerspiel und erschließt sich nicht aus sich selbst heraus.

Wenn die beiden zuweilen sehr statisch inszeniert werden, wird die Aufführung zum Hörspiel: Die Figuren ersticken, die Sätze bekommen zu viel Schwere, zeigen ihre moralinsaure Seite und entblößen die etwas papieren wirkende Grundidee. Das ist nicht dramatisch, nur schade. Die Entwicklung Europas ist besorgniserregender.


Der Besuch der alten Dame
von Friedrich Dürrenmatt
Regie: Nicolas Stemann, Bühne & Video: Claudia Lehmann, Kostüm: Marysol del Castillo, Musik: Camilla Sparksss, Licht: Michel Güntert, Dramaturgie: Benjamin von Blomberg, Laura Paetau.
Mit: Sebastian Rudolph, Patrycia Ziółkowska, Camilla Sparksss.
Premiere am 17. September 2021 am Schauspielhaus Zürich
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

 

Kritikenrundschau

"Ding Dong! Wir nehmen das Paket entgegen, ach was, wir stürzen uns drauf, reissen es auf, greifen gierig nach diesen Sätzendie, so kommt es uns vor, nie besser gesprochen, nie aufregender gedreht, sorgfältiger gewogen wurden", schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (online 18.9.2021, 14.11 Uhr). Stemann strich eher wenig Text, gestatte unverblümte gesellschaftskritische Spitzen, "aber auch witzige Pointen, Spuck- und Kotzorgien, spielerische Standards, Stimmen aus dem Off, auf der Bühne, im Parkett. Audiovisuelle Kurzweil. Entertainment". Subtil sei anders, "doch kryptischen Kram braucht es nicht in dem hochmoralischen Drama mit den unauflösbaren Aporien, in dem irgendwie alle Täter und Opfer zugleich sind." Fazit: "Hingehen!"

"Der nonchalante Reduktionismus der Regie hat seinen Preis. Aber (…) er zahlt sich aus", schreibt Ueli Bernays in der Neuen Zürcher Zeitung (20.9.2021). Stück und Inszenierungen profitierten von den Streichungen im Text. "Es gibt mehr Raum für die Kür von Ziolkowska und Rudolph, die einzelne Passagen in unterschiedlichen Versionen auskosten – mit wechselndem Dialekt, Tempo, Tonfall", so Bernays. "Es bleibt aber auch mehr Zeit für das zentrale Thema: die Verwicklung von Schuld und Verschuldung."

"Ist das noch unser Dürrenmatt, wie wir ihn kennen? Er ist es nicht, glücklicherweise!" schreibt Daniele Muscionico im St. Galler Tagblatt (20.9.2021). "Die Inszenierung lebt von Friedrich Dürrenmatts unwiderlegbar gültiger Metaphorik. In diesem Fall aber auch mindestens sehr von der Wucht der Beteiligten. Patrycia Ziolkowaska und Sebastian Rudolf, die sämtliche 31 Rollen stemmen, schmeissen ein Schauspielertheater über die Rampe in den Zuschauerraum – oder sie spielen vom Publikum aus –, preiswürdig!"

"Nicolas Stemann hat viele Fragen, von heute aus, an den Stoff und stellt sie sehr deutlich", sagt Andreas Klaeui im SRF (20.9.2021). "Was er als Grundthematik erkennt, ist das Leben auf Pump, das ist natürlich eine Frage, die sich sehr leicht ins Heute wenden lässt." Die zwei Performer:innen beschreibt Klaeui als "sehr virtuos".

"Den Plot erzählen Ziolkowska und Rudolph sehr plastisch, hochvirtuos, zart und laut, aber auch mit einer ironisch-überlegenen Distanz", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (23.9.2021). "35 Figuren zu zweit zu spielen, ist für sie kein Problem. Aber bei auch nur einer einzigen mitzufühlen, ist ein Problem für den Zuschauer."

 

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