Die Theaterrepublik der Wenigen

24. September 2021. Wie sind Mexiko und seine Theaterszene durch die Pandemie gekommen? Welche Inszenierungsformen haben sich bewährt? Und welche politische Wirklichkeit wurde eingefangen – welche ausgeblendet? Ein Essay über ein Land zwischen progressiver und rückwärtsgewandter Politik, über Theater und den Aufstand der Frauen.

Von Gastón A. Alzate

23. September 2021. Ab Juli 2020 erlaubte Mexiko die Wiedereröffnung der Theater, mit einer Auslastung von 20% bis 30% der Platzkapazität. Einerseits verschaffte das dem Theater Erleichterung, andererseits war diese Form der Öffnung ein Tropfen auf den heißen Stein: Aufgrund der Pandemie sind etwa zwei Millionen Theaterangestellte in wirtschaftliche Unsicherheit geraten; die Corona-Maßnahmen führten in der Branche zu Umsatzverlusten von einer Milliarde Pesos (42 Millionen Euro). Geschätzt 300 Veranstaltungsorte in Mexico City sind vom Verschwinden bedroht.

Rückwärtsgewandte Politikmuster

Die Pandemie hat die prekäre Lage von Mexikos Kultur in ihrem Verhältnis zur Regierung hervorgehoben. Die Regierung mag ideologisch fortschrittlich auftreten, hängt aber in der Praxis den Dynamiken des Kalten Krieges an. Dieses Politikmuster wirkt wie der Versuch, zur nationalrevolutionären Vergangenheit der PRI (Partido Revolucionario Institucional) zurückzukehren, die das Land 70 Jahre lang (von 1929 bis 2000) regierte. Kopiert wird auch der Antagonismus zwischen bürgerlicher und proletarischer Kunst des "sozialistischen Realismus", der im Falle Mexikos als Ablenkungsmanöver dient, um von der prekären Situation der indigenen Bevölkerung, der Migrant:innen ohne Papiere, von den Femiziden und den bis August 2021 insgesamt 54.000 Corona-Toten abzulenken.

2 Cachorro de Leon de Conchi LeonConchi Leóns Ein-Personen-Stück "Cachorro de León" © Instituto Cultural de León

So hat Mexiko einen Exekutivapparat aufgebaut, der unabhängige Institutionen schikaniert, eine selbstmörderische Austerität praktiziert, dem Militär mehr Macht einräumt und den messianischen Kult des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador pflegt. Diese Situation hat dazu geführt, dass sich die Gemüter vieler Theatermacher:innen, die bei den letzten Wahlen mehrheitlich für die jetzige Regierung stimmten, erhitzt haben.

Zoom als Motor des Publikumskontakts

Um auf die Veränderungen in Mexikos Theater während der Pandemie zu sprechen zu kommen, müssen wir uns auf die Inszenierungen konzentrieren, die mit hybriden Formaten gearbeitet haben. Bei diesen Arbeiten, die zumeist aus dem universitären und unabhängigen Theater stammen, sind jene hervorzuheben, die die traditionellen Werkzeuge des Theaters neu bewerten. Einige Regisseure wie Mario Espinosa sehen schon "einen Wechsel des Theaterparadigmas". Boris Schaumann spricht von einem "Theater im Theater" und bezieht sich dabei auf den Austausch zwischen Zuschauer:innen und Schauspieler:innen, den Zoom nach den Aufführungen ermöglicht. Dieser Austausch wirkt Schaumann zufolge wie eine horizontale Anordnung mit demokratischer Note – von einer unbegrenzten Anzahl von Zuschauer:innen, deren Kamera einen je eigenen Blickwinkel aufweist, und von Schauspieler:innen, die auch von zu Hause aus arbeiten.

3 Telempatias de Claudia LavistaClaudia Lavistas "Telempatías" © Teatro La Capilla

Die Inszenierungen kommen dem Live-Kino sehr nahe, mit Nahaufnahmen und offenen Einstellungen. Einige Beispiele dafür sind "Otra Electra" von Rocío Carrillo und "¿Duermen los peces?" vom Ensemble Teatro ReNo. In dem Monologzyklus des Foro Teatral independiente Área 51 in Xalapa, der Zufälligkeit und Technologie verbindet, wandten sich mehrere Schauspielerinnen per individuellen Videoanruf ohne festen Zeitplan und mit der Flüchtigkeit des Live-Theaters an eine:n Zuschauer:in. In einigen Monologen wurde eine Kamera von außen gezeigt, in dem Versuch, die Erzähl- Perspektive kenntlich zu machen. In dem Monolog "Todo lo que está a mi lado" von Fernando Rubio wurde die Kamera in der Intimsphäre der Figur eingesetzt.

Auf ähnliche Weise präsentierte Conchi León ihr Ein-Personen-Stück "Cachorro de León" auf Video, unterstützt von einer Schwarz-Weiß-Kamera, die durch die Augen eines vierjährigen Mädchens zu sehen scheint, das ihren Vater für sein Verhalten während ihrer Kindheit zur Rechenschaft zieht. Claudia Lavista legte mit "Telempatías" mit den Möglichkeiten digitaler Handwerkskunst ein choreographisches Experiment vor und schuf eine Live-Improvisationsstruktur mit acht Bühnenschaffenden, die von zu Hause aus zugeschaltet waren.

Entfernungen überbrücken

Die Arbeit mit Zoom hat es ermöglicht, ein neues Gespür für Reisemöglichkeiten zu entwickeln und Zugang zu Gruppen aus verschiedenen Regionen des Landes zu erlangen, was dazu führte, dass die Theaterschaffenden bald mehr voneinander wussten. Bemerkenswert ist der "Maratón de Cabaret", in den das von Reinas Chulas organisierte Internationale Kabarettfestival umgewandelt wurde. Es handelte sich um einen zweitägigen Marathon von Konferenzen, Workshops und Theaterstreams, der per Facebook übertragen wurde und an dem Künstler:innen aus ganz Lateinamerika teilnahmen. Der Marathon hatte ein viel größeres Publikum als üblich.

1 Otra Electra de Rocio Carillo"Otra Electra" von Rocío Carrillo | Screenshot Facebook

In einigen unabhängigen Theatern war die Programmgestaltung während der Pandemie flexibler und kreativer und brachte neue kuratorische Ideen hervor, da man jetzt für die Anpassung an die virtuelle Welt Veränderungsvorschläge an den Stückvorlagen durchsetzen konnte.

Erweitert hat sich auch das akademische Angebot. Einige Kompanien oder Theater nutzen Webseiten, auf denen Kurse angeboten werden, wie zum Beispiel das Projekt "Delfos TV". Der Schwerpunkt von Regie- und Schauspielworkshops liegt jetzt auf Mikrofonsprechen oder auf Mimik und Körperbewegung vor der Kamera, und Vorsprechen für Theaterinszenierungen werden mit Zoom durchgeführt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Schauspielschulen, wenn die Pandemie vorbei ist, hybriden (face-to-face/virtuellen) Unterricht anbieten werden. Dieses Phänomen passt genau zu den Plattformen für den Austausch über Theater, die bereits vor der Pandemie existierten und deren Arbeit sich nun intensiviert hat, wie zum Beispiel die Podcasts "Pequeñas dosis", "Para fernalia" oder "Tenemos que hablar... de Teatro".

Exklusiv wie bei Platon

Als großen Nachteil der Online-Aktivitäten während der Pandemie sieht die Theaterwelt die Übertragung der Machtstrukturen des Live-Theaters auf die virtuelle Ebene. In der Praxis wurden die Technologien nur von den etablierten Häusern genutzt. Es gibt keine digitale Autonomie der künstlerischen Community als solcher. Die Zoom-Gespräche ersetzen lediglich den Schlussapplaus der alten Live-Aufführungen. Obwohl mehr Schauspieler:innen und Regisseur:innen persönliche Webseiten haben, ist ihr Publikum begrenzt. Dies führt uns zu der Schlussfolgerung, dass im Kontext des mexikanischen Theaters der virtuelle Zugang nicht so demokratisch ist, wie er dargestellt wurde.

Eine zweite Befürchtung bezieht sich auf die Tatsache, dass die "Theaterrepublik" – eine Idee, die einige Regisseur:innen aus den 80er und 90er Jahren wieder aufgegriffen haben, um über die neuen Paradigmen zu sprechen – eher Platons Republik ähnelt (die ausschließlich für die Bürger der Polis gedacht war). Wir befinden uns in der Pandemie in einer "bürgerlichen Demokratisierung" der Technologien, die nur denjenigen Theatern vorbehalten ist, die über die Mittel verfügen, um Zugang zu dieser so genannten "Theaterrepublik" zu erhalten.

5 Instalacion contra los feminicidios 2Installation gegen Femizide vor dem Regierungspalast im Juli 2020 © Mario Marlo

Eine dritte Sorge hat damit zu tun, dass das universitäre und freie Theater immer noch gleichgültig gegenüber wirklich regierungskritischen Themen ist, wie zum Beispiel den Femiziden. Obwohl es nicht direkt Zensur gibt, haben solche Werke doch nicht die Chance, ins Programm aufgenommen zu werden, da sie nicht von den Kurator:innen ausgewählt werden.

Die vierte Sorge ist die Überproduktion an Online-Theater in Mexiko, was zu einer größeren wirtschaftlichen Entwertung der Theaterarbeit geführt hat. Wovon sollen Theatermacher:innen in der von ihnen geschaffenen virtuellen Welt leben? Welche rechtlichen Lücken hinterlässt die Pandemie in Bezug auf Urheberrechte, Tantiemen, Monetarisierung des audiovisuellen Produkts und vor allem: Wenn früher die Anwesenheit des Publikums wesentlich war, was ist es jetzt?

Aufstand der Frauen

Zusammengefallen ist die Pandemie mit einem beispiellosen Aufstand der Frauen in Mexiko, der sich in verschiedenen theatralischen Formen gegen patriarchale Gewalt richtete. Diese politischen Darbietungen orientierten sich an den Strategien emanzipatorischer Frauenbewegungen, die sich gegen die Gesellschaftsordnung stellten, wie etwa die britischen Suffragetten zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa, und erschütterten damit das Land. Junge mexikanische Frauen haben kreative und festliche Umzüge veranstaltet, künstlerische Performances und Zirkusnummern, sie haben ikonische Denkmäler bemalt, Schulgebäude besetzt und Fotos ausgestellt – von vermissten oder ermordeten Frauen oder von maskierten Frauen, die die mexikanische Flagge in Brand setzen unter dem Slogan "ohne Vaterland, ohne Partei, ohne Ehemann". Es besteht kein Zweifel, dass die Kampfbereitschaft der "morras" proportional zur Gewalt wächst, der junge Frauen – in der Pandemie noch stärker als sonst – ausgesetzt waren und sind.

Der akademische und institutionelle mexikanische Feminismus ist von diesem Phänomen überholt worden, weil die protestierenden Feministinnen nicht aus dem theoretischen, sondern aus dem alltäglichen Kampf kommen.

Sehr wahrscheinlich liegt hier die nahe Zukunft des mexikanischen Theaters: in der Suche nach neuen Methoden und Technologien, um Bevölkerungsgruppen zu erreichen, die weit von der Bühnendramatik entfernt sind, aber das soziale "Drama" des Lebens in Mexiko leben.

 

Übersetzung: Claudia Daseking

 

Gastón A. Alzate wurde in Valle del Cauca/Kolumbien geboren. Derzeit ist er Professor für zeitgenössisches mexikanisches Theater und lateinamerikanische Literatur an der California State University in Los Angeles. Zuvor war er Gründer und Direktor von Latin American, Latino, and Caribbean Studies (LALACS) am Gustavus Adolphus College, Minnesota (1997-2006). Bevor er in die USA kam, arbeitete er an der Universidad Javeriana und der Universidad del Rosario sowie als Kunstkritiker für das Sunday Magazine der Tageszeitung El Espectador und die Revista Arte Internacional des Museo de Arte Moderno in Bogotá. 1993 gewann er den Nationalen Essaypreis des kolumbianischen Kulturministeriums. 2017 erhielt er den Latin American Theatre Review Cátedra Woodyard-Preisträger der University of Kansas. 2011 war er Resident Researcher am International Research Center "Interweaving Performance Cultures" der Freien Universität Berlin.

Dieser Beitrag entstand in einer Kooperation zwischen dem Internationalen Forschungskolleg "Interweaving Performance Cultures" der Freien Universität Berlin (Redaktion: Clara Molau, Antonija Cvitic) und nachtkritik.de (Redaktion: Elena Philipp).

Bislang veröffentlicht sind im Rahmen der Koopertaion Theaterbriefe aus Argentinien, Chile, Ägypten, Uruguay, Südafrika, der Türkei, Japan, China und dem Iran.

Hier finden Sie die englische Fassung des Textes.

 

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