Faktencheck retrospektiv

von Thomas Rothschild

Stuttgart, 24. September 2021. Wer erinnert sich an den einst viel zitierten Spruch: "Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann." Der prognostizierte Zustand ist nahezu erreicht. Und welche Folgen hatte das Zitat?

Dem Puls der Zeit vorauseilen

Yvonne Aki-Sawyerr tritt an das Rednerpult vorne auf der Bühne des Stuttgarter Schauspiels und sagt, in englischer Sprache: "Klimawandel ist real. Klimawandel ist hier." Und: "Wir müssen jetzt handeln." Wie wahr. Yvonne Aki-Sawyerr ist Bürgermeisterin von Freetown in Sierra Leone. Sie ist die erste der Prominenten, die auf Einladung des Theaters als Experten aus der Wirklichkeit in den nächsten Vorstellungen gehört werden.

Oekozid 2 JulianBaumann uNicole Heesters als Angela Merkel und Anke Schubert als Richterin in "Ökozid" © Julian Baumann

Sehr viel dramatischer wird es an diesem Theaterabend nicht. Der "Modellversuch" – so die Klassifizierung von Andreas Veiels und Jutta Dobersteins Theaterstück "Ökozid" nach Veiels gleichnamigem Fernsehfilm von 2020 ("Versuch" ist klar, aber "Modell" wofür?) – handelt von der Klimakatastrophe aus der Perspektive des Jahres 2034. Als dramaturgisches Gerüst dient in bewährter Weise das Schema einer Gerichtsverhandlung: 31 Staaten des Globalen Südens klagen vor dem Internationalen Gerichtshof gegen die Bundesrepublik Deutschland. Die Zuschauer sind aufgefordert, sich ein eigenes Urteil zu bilden. (Schirach, ich hör dir trapsen.) Intendant und Regisseur Burkhard C. Kosminski bleibt seiner Überzeugung treu, dass Theater die Hand am Puls der Zeit haben muss, ihr möglichst sogar vorauseilen sollte. Die Utopie ist dafür das geeignete Genre und die Publikumsansprache ihre demokratische Legitimation.

Debattenraum oder Sektenversammlung?

Fragt sich nur, wie umstritten der Gegenstand ist, zu dem sich die Zuschauer verhalten sollen. Ist damit zu rechnen, dass sich im Theater viele Befürworter einer Vernachlässigung der Klimapolitik aufhalten? Wird eine echte Kontroverse verhandelt – die Voraussetzung für ein spannendes Gerichtsdrama –, oder feiert sich hier ein einmütiges Kollektiv in der erquicklichen Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen und recht zu haben. Findet eine Debatte statt, oder demonstriert man bloß (und wenn ja: wem), dass man nicht einer von den gescholtenen SUV-Fahrern ist? Anders formuliert: Ist das Theater mit Antagonisten, die den Protagonisten mit gleichem Gewicht und mit einem überlegenswerten Standpunkt kontern, oder ist es eine Sektenversammlung, bei der man sich gegenseitig bestätigt?

Fast ist man versucht, die "falsche" Position des Anwalts, der den Staat und seine Repräsentanten vertritt, zu verteidigen, den Advocatus Diaboli zu spielen. Was im Agitprop oder im Kabarett seinen Platz hat, die pointierte Deklaration einer "Lehre", ist für das Gerichtsdrama tödlich. Selbst ein so politischer Dramatiker wie Bertolt Brecht wusste, dass er zu seinem Matti einen Puntila, zu seiner Johanna einen Mauler, zu seiner Grusche die Frau des Gouverneurs benötigt.

Aufgeblasen bis zur Schmiere

Als Kontrast zur Gastrednerin werden in der Inszenierung die Figuren Gerhard Schröder, Angela Merkel und ihr Umweltminister Sigmar Gabriel vor dem Hintergrund von Kohle, Autos und Gletscherschmelze in Grönland auf der großen Leinwand aufgeboten. Beim Prozess gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen der CO2-Emissionen und der Auswirkungen des Klimawandels kommt Schröder dann der Vorladung nicht nach. Alles bleibt an der Bundeskanzlerin a.D. Merkel hängen.

Oekozid 1 JulianBaumann uGerichtsaktion in Großaufnahme: Anke Schubert, Josephine Köhler und Marietta Meguid © Julian Baumann

Die Köpfe der prozessbeteiligten Schauspieler:innen werden immer wieder als Projektion im Hintergrund aufgeblasen. Leider hat die Regie nicht davor gewarnt, wie leicht Mimik in der Großaufnahme zu Schmiere gerät. Die einzige, die mit der Kamera umgehen kann, ist Nicole Heesters. Sie ist das schauspielerische Ereignis des Abends. Ihre Angela Merkel, ganz ohne Raute, versucht sich gar nicht erst als Imitations-Comedy.

Effekte ohne Konsequenzen

Auch Kosminski scheint das starre Gerichtssaal-Schema ("Keine weiteren Fragen") zu eng geworden zu sein. Also schiebt er eine verfremdende, im Ablauf aber isolierte Gospel-Predigt ein, die den Schauspieler:innen auf der Bühne und in der ersten Reihe das Zappeln erlaubt, oder lässt, vor einer satirischen Podiumsdiskussion nach 70 Minuten, Plastikflaschen regnen: ein Effekt, der keine Konsequenzen zeigt.

Am Ende gibt das Gericht der Klägerin recht. Die Richterin mag unparteiisch sein. Veiel und Doberstein sind es nicht – und das ist gut so. Nicole Heesters' Angela Merkel erweist sich in ihrer Schlussrede als Stimme der Einsicht und der Vernunft. Allerdings bleiben uns die Autoren eine Antwort auf die Frage schuldig, was die Macht der Autoindustrie gebrochen hat, von der zuvor zutreffend festgestellt wurde, dass sie und nicht die Politik das Sagen hat. Gilt nicht mehr, dass nicht gewählt wird, wer den Menschen Verzicht abverlangt? Hier kommt vielleicht die Utopie ins Spiel.

Viel Beifall. Gesinnungsapplaus oder Anerkennung der künstlerischen Leistung? Lasst die Richterin entscheiden.

 

Ökozid
Ein Modellversuch von Andres Veiel & Jutta Doberstein
Uraufführung
Regie: Burkhard C. Kosminski, Bühne: Florian Etti, Kostüme: Ute Lindenberg, Musik: Hans Platzgumer, Video: Yoav Cohen, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Carolin Losch, Gwendolyne Melchinger.
Mit: Josephine Köhler, Marietta Meguid, Sven Prietz, Anke Schubert, Nicole Heesters, David Müller, Marco Massafra, Reinhard Mahlberg, Gabriele Hintermaier, Gábor Biedermann, Michal Stiller, Boris Burgstaller, Elmar Roloff, Jahangir Hasan Masum, Christiane Roßbach.
Premiere am 24. September 2021
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

"Relevanz schlägt Ästhetik", schreibt Roland Müller noch in der Nacht in einer ersten Kurzkritik für die Stuttgarter Nachrichten und zugleich für die Stuttgarter Zeitung (24.9.2021) noch in der Nacht, aber an der Relevanz dieses Abend sei nicht zu zweifeln. "Man hört Fakten, Fakten, Fakten in einer Hardcore-Volkshochschule mit enormem Mehrwert, inklusive Nicole Heesters als souveräner Merkel-Darstellerin, Josephine Köhler als starker Wutrednerin und Boris Burgstaller als kabarettistisch performender Daimler-Kritiker."

"Dass 'Ökozid' auch auf der Bühne funktioniert, ist der wirkungsvollen Inszenierung von Burkhard C. Kosminski und den Darstellern zu verdanken", schreiben Jana Zahner und Otto Paul Burkhard in der Südwest Presse (27.9.2021). "Sie verhindern, dass das Stück unter der Last der Fakten zusammenbricht."

"Kosminski hat eine Theatersprache gefunden, die das starre Korsett des Gerichtsdramas abschüttelt", lobt auch Elisabeth Maier in der Esslinger Zeitung (27.9.2021). "Im besten Sinn zeigt der Intendant mit dem Klimastück Haltung."

Die Inszenierung arbeite zwar "eher zweckdienlich", vermittle aber doch auch "Spaß am Theater als solchem", schreibt Arnim Bauer in der Ludwigsburger Kreiszeitung (27.9.2021).

"Viele langwierige und auch langweilige Details" mute Andres Veiels Stück den Zuschauer:innen zu, so Daniel Stender im SWR (27.9.2021). "Dennoch: 'Ökozid' ist ein packendes Stück – auch weil die Inszenierung von Burkhard Kosminski die Grenzen zwischen Realität und Fiktion bewusst verwischt."

 

Kommentare  
Ökozid, Stuttgart: kein Aktivismus-Theater
Das ist so langweilig. Das ist keine Kunst, das ist bebildeter Gemeinschaftsunterricht. Wir brauchen kein Aktivismus Theater der Selbstbestätigung. Bitte hört damit auf.
Ökozid, Stuttgart: doppelt ernüchtert
Ich habe die Konferenzen so vollkommen verstanden, eure Drohungen, Beweisführungen, Verschanzungen, daß sie nicht mehr zu verstehen waren. Und das war es ja, was euch bewegte, die Unverständlichkeit all dessen. Denn das war eure wirklich große verlorene Idee von der Welt, und ich habe eure große Idee hervorgezaubert aus euch, eure unpraktische Idee, in der Zeit und Tod erschienen und flammten, alles niederbrannten, die Ordnung, von Verbrechen bemäntelt, die Nacht, zum Schlaf mißbraucht. Eure Frauen, krank von eurer Gegenwart, eure Kinder, von euch zur Zukunft verdammt, die haben euch nicht den Tod gelehrt, sondern nur beigebracht kleinweise. Aber ich habe euch mit einem Blick gelehrt, wenn alles vollkommen, hell und rasend war - ich habe euch gesagt: es ist der Tod darin. Und: Es ist die Zeit darin."

usw. usf. - ein paar Zeilen Bachmann (1) etwa genügen, uns an die Kraft von Sprache, anderer Sprache zu erinnern. Genau die hat einen zähen Abend lang gefehlt, und mit ihr alle Fantasie dessen, was Schauspieler, Männer und Frauen, auf der Bühne sagen könnten und wie. Dieses Fehlen ist ernüchternder als der Stoff oder "Inhalt". Logik des Theaterbesuchs ist, dass das Theater mehr Angst machen müsste das Verlassen des Theaters.

Müsste man den Film zum Stück gesehen haben um zu verstehen, dass er besser funktionierte und die Inszenierung einen Mehrwert hätte? Und verstünde man dann, warum es keine gute Idee ist, das historische Fazit einer utopischen Verhandlung im Gesicht der Darstellerin Merkels abzuladen, oder mit einer Sintflut von Plastikflaschen. Ganz zu schweigen vom hilflosen Herbeizitieren der hilflosen Kindergeste des "How dare you" gegen Ende, nachdem vorher erwachsene Professionelle einen Abend lang argumentiert haben?

Das ist die Ironie der Welt, ja - aber ihre Verkleinerung auf die Bühne bräuchte eine andere Sprache, wenigstens als Ahnung. Popsongs reichen da nicht.



(1) Undine geht, 1961
Ökozid Stuttgart: sos
ja, kann mal wer helfen bitte? wir sterben hier den theatertod in dieser stadt. bei bester finanzieller ausstattung, in einem neu sanierten haus. gott des punk, des thrash, des schlechten geschmacks, der katastrophe und der orgie, rette uns vor diesem quark. und bald inszeniert dann auch noch harald schmidt.
Ökozid, Stuttgart: Nulllinie
Man kann Volker nur recht geben. Das Schauspiel in Stuttgart ist ein Trauerspiel. Ökozid: wieder so ein Stück. Man geht hin, schaut sich's an, geht raus und denkt sich: War wieder nix, brav, bemüht, keine Ausschläge, hart an Nulllinie. Noch auf ein Bier in die Kantine. Vielleicht jemand treffen, mit dem man über Aufführungen in Düsseldorf, Berlin, Frankfurt, Hamburg oder München reden kann. Viele Stuttgarter Theatergeherinnen haben unter K. längst resigniert. Klar, sie gehen trotzdem in die Stücke, weil sie halt müssen, weil sie Theater brauchen. Aber das Theaterglück ist an anderen Orten. So bleibt für viele nur das Reisen, das Feuilleton und das Warten auf bessere Zeiten.
Ökozid, Stuttgart: Theater aus der Mikrowelle
Was im Fernsehen überzeugte mit guten Schauspielerinnen und Schauspielern muss nicht unbedingt noch einmal aufgewärmt werden. Mir geht es wie den anderen hier. Das Stuttgarter SchauSpielHaus ist unter Kosminski in der dritten Liga angekommen. Unter Dem leider nicht immer präsenten Petras gab es zwar auch manche Pleiten aber auch immerhin auch mal ästhetische Risiken mit einem tollen Ensemble, halt Theater mit Ecken und Kanten statt meist weichgespülten Aufführungen ohne Herausforderungen für das Hirn, die Wahrnehmung und das Empfinden (außer der Orestie und einer Horvathinszenierung von Calexo Bieto)Meine Theatercard habe ich hier nicht verlängert.
Mit Peymann fing meine Theaterliebe an und mit Unterbrechungen danach unter Hasko Weber und Petras ging es weiter bis jetzt in Stuttgart. Dazwischen (und jetzt wieder) spielt die Musik in Münchnen,Basel,Zürich,Bochum Berlin und Hamburg für mich. Vielleicht treffe ich da mal Herrn Brandt. So und jetzt gehe ich ins Burgtheater in „Komplizen“.
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