Wuhan. Die Verwandlung - Staatstheater Wiesbaden
Schwach auf der Lunge
von Shirin Sojitrawalla
Wiesbaden, 24. September 2021. Es sei die Idee des Intendanten Uwe Eric Laufenberg gewesen, das Thema COVID mit Kafka zu kombinieren, erzählt Regisseur Clemens Bechtel im Programmheft. Da hätte sich manches angeboten, die Wahl fiel auf die Erzählung "Die Verwandlung", in der bekanntlich der Reisende Gregor Samsa eines Morgens als "ungeheueres Ungeziefer" aufwacht. Mit den ersten Sätzen der Erzählung beginnt, nachdem laute Atemgeräusche das Intro besorgen, auch dieser Abend.
Ungeziefer in feindlicher Umgebung
Die Schauspielerin Ipek Özgen quält sich als besagtes Tier eindrucksvoll in feindlicher Umgebung. Mit ihrem kahlen Kopf, dem weißen Hemdchen, den fremdartigen Beinen, ginge sie auch als Long-COVID-Patientin durch (Kostüme: Vesna Hiltmann). Ein Fremdkörper. Immer wieder betritt das Tier die Szenerie, kriecht herein, macht sich zwar bemerkbar, aber nie verständlich.
Dazwischen scheint die Inszenierung Kafka schon mal zu vergessen und kümmert sich um andere Dinge. Zum Glück, denn so richtig gut fügt sich "Die Verwandlung" nicht in diese Stückentwicklung von Clemens Bechtel und Jan Neumann. Die beiden spüren in erster Linie dem Virus und den gesellschaftlichen Verwerfungen, die es mitauslöste nach. Unterschiedliche Stimmen, Stimmlagen und Stimmungen geben sie wieder.
Maximaler Virenschutz: Anne Lebinsky im Kostüm von Vesna Hiltmann auf der Bühne von Till Kuhnert © Karl und Monika Forster
Wie die von Katrin und Tom. Die beiden führen eine mehr oder minder normale Langzeitbeziehung, die dadurch an Fallhöhe gewinnt, dass die Frau mit Corona im Krankenhaus liegt und später ins Koma fällt. Die Kommunikation läuft übers Handy, die Dialoge sind arztserientauglich. Später tritt die Frau als zauberhafte Erscheinung auf, den eigenen Mann überraschend, ein Traumwesen, mit einem Fuß im Jenseits. Anne Lebinsky und Michael Birnbaum generieren bei aller Abgestandenheit der Gefühle manch zarten Moment aus dieser Konstellation.
Lustige Wohngemeinschaft
Viel Lustiger geht es in der Wohngemeinschaft von Luke (Paul Simon), Hannah (Christina Tzatzaraki) und Finn (Gabriel Schneider) zu. Die zelebrieren pandemische Konfliktlinien als boulevardesken Ringkampf, was natürlich nicht ohne ausgiebiges Händewaschen vonstattengeht. Vor allem Schneider als Finn erweist sich dabei als wahre Pointenschleuder. Es lacht sich hier sehr gemütlich, denn irgendwo findet man sich oder andere in beinahe jedem Satz wieder. Das Stück triggert Erinnerungen an den Lockdown, indem es den ganzen Plunder wieder ans Licht bringt: Rasender Stillstand, Hamsterkäufe, Maskenschummler, Freiheitskämpfer, Hygiene-Hysterie und so. Dazwischen erfährt man ein bisschen etwas über Wuhan und Brutstätten des Virus. Tiefgründig ist das nicht, komplex auch nicht. Dabei gäbe das Thema viel her.
Pandemische Pointen mit Paul Simon und Christina Tzatzaraki © Karl und Monika Forster
Steffi (Lena Hilsdorf) feiert derweil ihre neu gewonnene freie Zeit ohne Abendverpflichtungen, später versteckt sie sich aus Angst vor der Außenwelt unterm Waschbecken. Szenen, die man hinnimmt wie Regenwetter. An einer Stelle kommen Experten des Corona-Alltags zu Wort, nicht tatsächlich, sondern in Form von Zitaten. Einer der stärksten Momente, weil man hier Dinge erfährt, die man noch nicht gewusst oder gedacht hat. Diesen Aussagen merkt man die Recherche an, anderes wirkt so, als hätte man es auch aus dem Stand schreiben können. So easy und oft gehört. Ergiebig ist das nicht, und so bemüht sich die Inszenierung, das wenige gut aussehen zu lassen.
Gregor Samsa mausetot
Till Kuhnert schachtelt dafür auf mehreren Spielebenen oftmals von Plexiglaswänden begrenzte Kammern ineinander. Am Ende bleibt nur eine einzelne Zelle übrig, die von einer aus den Fugen geratenen Welt kündet. Im Vordergrund der Bühne gähnt die ganze Zeit ein Graben, der nichts Gutes ahnen lässt. Für Abwechslung sorgen der dystopisch tönende Klangteppich (Musik: Alex Halka), unaufregend in Szene gesetzte Live-Videos, und WGler, die im Kampf gegen die Kakerlaken Gift streuen. Am Ende liegt Kafkas Ungeziefer mausetot auf der Bühne. In letzter Konsequenz hat die Pandemie also auch noch Gregor Samsa hinweggerafft. Das ist mal eine heitere Verschwörungstheorie.
Im Ernst: Kafka in den Coronakontext zu quetschen, bringt es nicht, zumindest nicht auf diese Weise. Die Zeiten sind doch eh kafkaesk genug. So nimmt sich dieser Abend aus wie ein Clown, der sich nicht damit begnügt, seine rote Nase im Gesicht zu tragen, sondern sie meint, mitspielen zu müssen. Bizarrerweise ist im Stück von einem Clownsworkshop in der Toscana die Rede. Aber das nur am Rande. Die eigentliche Stückentwicklung hat trotzdem ihre Momente, die sind mal sanft, mal informativ, mal komisch. Ausgereift wirkt das nicht, eher ein bisschen schwach auf der Lunge.
Wuhan – Die Verwandlung
von Jan Neumann und Clemens Bechtel frei nach Franz Kafka
Inszenierung: Clemens Bechtel, Bühne: Till Kuhnert, Kostüme: Vesna Hiltmann, Musik & Video: Alex Kalk, Dramaturgie: Marie Johannsen.
Mit: Paul Simon, Lena Hilsdorf, Christina Tzatzaraki, Anne Lebinsky, Michael Birnbaum, Gabriel Schneider, Ipek Özgen.
Premiere am 24. September 2021
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-wiesbaden.de
Kritikenrundschau
Judith von Sternburg fragt in der Frankfurter Rundschau (online 26.9.2021, 16:36 Uhr) wie viel Nähe oder Abstand es brauche, um eine Situation zu überschauen. "Wuhan" schaffe es, "zugleich zu nah dran und zu weit weg zu sein". Zu nah dran: nichts werde erzählt, was nicht "jeder wüsste und schon empfunden oder beklagt oder genervt zur Kenntnis genommen hätte". Aber das machten Bechtel und Neumann "möglichst kompliziert". Zu weit weg: "verblüffend" wie Lockdown-Erholung und Lockdown-Gejammer schon wieder antiquiert wirke. "Nichts Neues, aber mit Aplomb."
"Stimmige Figuren kommen nicht allzu häufig vor in 'Wuhan'. Was wohl dem Versuch geschuldet ist, typische Diskurse und Erscheinungsformen der Pandemie abzubilden und unterhaltsam und zugleich tief zu sein", schreibt Eva-Maria Magel in der Rhein-Main-Zeitung (27.9.2021). Der Abend sei immer dort stark, wo er ins fast Dokumentarische und Präzise gehe oder sich mit Wucht ins Boulevardeske schmeiße. Das dürfte aber der Kritikerin zufolge nicht allzu oft der Fall gewesen sein, denn sie vermerkt: "Neue Gedanken stößt das alles nicht an."
Der Alltag der Pandemie werde hier in der Zentrifuge Theater noch einmal so zusammengemischt, dass sattsam Bekanntes sich neu ordne, schreibt Birgitta Lamparth vom Wiesbadener Kurier (27.9.2021). Die Kritikerin merkt allerdings auch an, dass die Regie besser auf den Kafka-Bezug hätte verzichten sollen, was dem Abend mehr Raum für vielfältigere Erfahrungen in der Pandemie "und damit sicher auch mehr Substanz" gegeben hätte.
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 29. März 2023 Die Auswahl für das 10. Schweizer Theatertreffen
- 29. März 2023 Schauspieler Robert Gallinowski verstorben
- 28. März 2023 Wolfgang Schivelbusch gestorben
- 23. März 2023 NRW: Studie über Wünsche und Erwartungen an Theater
- 23. März 2023 Preis der Leipziger Buchmesse: die Nominierten 2023
- 23. März 2023 Dieter Hallervorden erhält Preis des Berliner Theaterclubs
- 21. März 2023 Die Auswahl der Mülheimer Theatertage 2023
Leider verstehe ich ihre Kritik nicht.
Wenn die Welt kafkaesk genug ist, braucht man Kafka nicht auf der Bühne?? Wenn man eine rote Nase trägt, spielt man die dann nicht immer mit? Der Abend war sanft, informativ und komisch, aber schwach auf der Lunge?
Wer schwächelt da? Kritik oder Künstler?
____________________________________________
Der Kommentator, die Kommentatorin "Gast" hat den Namen einer Kollegin vom Theater leicht verballhornt als Maske gebraucht. Wir haben das zu spät bemerkt, haben jetzt geändert und bitten um Entschuldigung.
für die Redaktion jnm
Nein, Frau Kritikerin, ausgereift wirkt das nicht, was Sie da schreiben. Alles in allem ist zuerst einmal Ihre Kritik "schwach auf der Lunge". Lesen Sie Ihren Text doch noch mal. Und in der Tat stellt sich dann die Frage meiner Vorrednerin: Wer schwächelt da? Kritik oder Künstler?
Kafka braucht man selbstverständlich immer, fragt sich bloß, auf welche Weise. Der Abend war zuweilen informativ, sanft und komisch, nicht aber in den Kafka-Szenen. Insgesamt fand ich ihn durchwachsen, also schwach. Fanden Sie ihn denn stark?
Und: Nein, man spielt die rote Nase nicht immer mit, gute Clowns tun das nie.
Ungemütlicher lacht es sich meiner Meinung nach, wenn dem Publikum ungemütliche Wahrheiten zugemutet werden. Das ist an diesem Abend nicht der Fall. Mehr Inhalt wäre drin gewesen, Themen wie "Soziale Gerechtigkeit", "Impfgerechtigkeit", "Geschlechtergerechtigkeit", "Nord-Süd-Konflikt", aber auch tiefer gehende individuelle Befindlichkeiten oder neueste Entwicklungen, die das Ganze auf den Stand von heute gebracht hätten. Sie wissen, was ich meine.
Würde mich freuen, wenn Sie den Mut fänden, mit mir auf Augenhöhe zu reden, also unter Ihrem echten Namen. Bis dahin alles Gute.
Habe den Abend leider nicht gesehen, weil ich zur Zeit in Marokko lebe, aber noch sehr am deutschsprachigen Theater hänge. Deswegen hätte ich aus Ihrer Kritik gerne gewusst, was die Künstler mit diesem Stoff gemacht haben. Aber ihre Kritik erzählt das nicht. Deswegen sitze ich in Marokko und denke: Clownsnasen, die mitspielen, aber doch nicht, Kafka, den es gibt und den man braucht, aber nicht so, informativ, aber mit welcher Information?
Glücklich wäre ich, ich könnte mir hier in Tanger eine Aufführung vorstellen. Aber auch in ihrer Antwort nur: Worte, Worte, Worte…
____________________________________________
Der Kommentator, die Kommentatorin "Gast" hat den Namen einer Kollegin vom Theater leicht verballhornt als Maske gebraucht. Wir haben das zu spät bemerkt, haben jetzt geändert und bitten um Entschuldigung.
für die Redaktion jnm
Ich wundere mich nur, das die Kritikerin jede Kritik an ihrer Kritik kommentiert.
Das würden die Schauspieler_innen sicher auch gerne oft tun. Halten sich aber zurück. Zu Recht. Das gleiche gilt für sie. Kritik an der Kritik-einfach mal aushalten. Man kann es nämlich nie jedem Recht machen…muss man auch nicht.
Gerda ist nicht Gensberg, lebt aber in Marokko, heißt aber Gensberger, hat sich beschwert, dass nicht sie es ist, die Kommentare schaltet. Schirin Sojitrawalla wehrt sich gegen vermeintliche Personen, die hinter Marisha Rivas stehen.
Sie glaubt zu wissen, wer das ist, traut sich aber nicht, den Feind beim Namen zu benennen.
Wie nun weiter?
Wäre es nicht besser, in Nachtkritik (und allen Internetforen!) nur noch Klarnamen zuzulassen?
Würde Demokratie und Ehrlichkeit und Wahrheit nicht dadurch gewinnen?
Keine Möglichkeit mehr Masken zu tragen! Nur noch persönlich verbindliche Aussagen?
Wie fändet ihr das?
Ehrlich gesagt, finde ich es mehr als respektabel und begrüßenswert, wenn Shirin Sojitrawalle hier auf die Kommentare reagiert. So verstehe ich nämlich die Idee von nachtkritik. Auch die Schauspieler:innen hätten ja hier die Möglichkeit zu kommentieren, sind also nicht einfach "hilflos" einer Kritik ausgeliefert. Natürlich kann man auch schweigen und "aushalten", wie Sie es vorschlagen. Aber wenn ein Diskurs entsteht, ist das doch eine gute Sache.
die Wahrheitsfindung leidlich nachzuahmen.
Doch tut sie es schon stets wie's ihr behagt:
Zählt anonym die Mehrheit, ohne Namen