Es ist aus für solche wie uns

von Reinhard Kriechbaum

Wien, 26. September 2021. Er kriegt einiges zu hören von der ungarischen Haushälterin, der verkaterte Typ, der bei Maxim Gorki Protassow heißt, hier im Burgtheater aber schlicht Paul. Es muss recht wüst zugegangen sein am Vorabend, aber – in den kommenden vier Stunden bekommen wir es haarklein vorgeführt – es geht generell wüst zu bei den Wiener "Kindern der Sonne", sprich: in einem Zirkel verfeindeter Freunde (oder verfreundeter Feinde?), die das stylische Leben gepachtet, die Selbstgewissheit gekauft, ihr Abgehoben-Sein verinnerlicht haben.

Die Ängste der Mittelschicht von damals und heute

Wir sind im Hier und Jetzt. In Wien, wie sich aus dem einen oder anderen Nebensatz erschließt. Aber es könnte überall sonst sein in unserer schönen Welt, in der man freilich auf der Hut sein muss, weil draußen Infektionsgefahr herrscht. Corona muss man nicht (oder nur beiläufig) beim Namen nennen. Die Seuche – bei Gorki ist es die Cholera im russischen Smolensk – zieht noch einmal eine Glaswand um diese Leute, die sowieso schon im tollen Design gläserner Villen leben.

Komplizen 1 MarcellaRuizCruz uWer im Glashaus sitzt: Michael Maertens, Lilith Häßle, Roland Koch © Marcella Ruiz Cruz

Simon Stone schlüpft am Burgtheater in die Rolle des Maxim Gorki anno 1905. Er stülpt eigene Texte über zwei Theaterstücke, die einst von der zaristischen Zensur augenblicklich versenkt wurden: "Kinder der Sonne" und "Feinde". Als zu gegenwärtig waren sie empfunden worden. Als zu irritierend die Hinweise auf damals noch regional gemessene gesellschaftliche Erdbeben, die ein gutes Jahrzehnt später als Flächenbrand in die Russische Revolution führen sollten.

Eine ganz ähnliche Situation – und das sollte uns gehörig Gänsehaut machen an diesem fordernden Theaterabend – ortet Simon Stone in der Gegenwart. Er holt die Causa in die Mittelschicht (also nicht nur zeitlich, sondern auch im Milieu ganz nahe an uns). Das dumpf-tumbe Gefühl vieler Menschen, abgehängt zu werden, auf wirtschaftliche Blindgeleise manövriert zu werden, eingefahrene gesellschaftliche Rituale nicht mehr halten zu können: Diese Ängste anerkennt der Theatermann so ernsthaft wie jene in der seinerzeit von Gorki beschriebenen Gesellschaft. Es rumort jedenfalls gewaltig im sozialen Souterrain.

"Die Welt hätte ein bißchen mehr von uns erwarten können."

Auf der Drehbühne im Burgtheater hat Bob Cousins eine weitläufige Wohnlandschaft aus miteinander verbundenen Glaskobeln gebaut. Durchsichtig alles, einsichtig, durchschaubar. Meist ultra-langsam, aber beständig in Bewegung. Die Protagonisten hängen – gute russische Dramen-Konstellation seit Tschechow – aneinander wie die Kletten. Hinter dem Wissenschafter Paul (Michael Maertens) ist die reichlich exaltierte, psychisch angeknackste Melanie (Birgit Minichmayr) her. Pauls Frau Tanya (Lilith Häßle), eine erfolgreiche Schauspielerin, ist längst dem Filmemacher und Fotografen Roland Koch nahe. Pauls Vater Matthias (Peter Simonischek) ist Seniorchef einer nicht näher definierten Firma. Was bei uns an gutmenschentümlichem Gedankengut – scheinbar – allgemein akzeptiert ist und hochgehalten wird, zerpflügt er gleich mal so wortreich wie bestimmt. Lisa (Mavie Hörbiger) geht zwar manchmal auf Demos für die Armen, aber wenn's ernst wird, gehört sie doch voll und ganz zu der in und um sich kreisenden Glashaus-Gesellschaft. Wer was sagt in diesem pseudo-elitären Zirkel, ist völlig egal. Sie sind – hier kommt der Titel "Komplizen" her – eben aneinandergekettet durch Denkmuster und Verhaltensweisen. Ihr Komplizentum gründet im uneingestandenen Nicht-Weiter-Wissen. Was einer immerhin en passant ausspricht: "Die Welt hätte ein bißchen mehr von uns erwarten können."

Komplizen 2 MarcellaRuizCruz u Felix Rech, Birgit Minichmayr © Marcella Ruiz Cruz

Es gibt eine zweite Ebene an Protagonisten, die dienstbaren Geister. Die Haushälterin Annamária Láng, eine putzige Erscheinung, traut sich viel zu sagen. Jürgen (Falk Rockstroh) scheint eine Art Vorarbeiter zu sein. Er nimmt eine beobachtende, aber keine Mittlerposition ein. Er sieht viele Missstände und ist doch zu nah am "Establishment" dran. Jedenfalls sagt er vernünftige, hellsichtige Dinge.

Eine ganz interessante Figur ist der grobschlächtig in Erscheinung tretende Igor (Rainer Galke). Als Schürzenjäger wird er von den anderen halbherzig im #MeToo-Geiste zurechtgewiesen. Er bleibt zwielichtig und wird doch der einzige sein, der sich am Ende bei seinem Opfer aufrichtig entschuldigt. Alle anderen ergehen sich zuletzt in grandios aufgeblähten Monologen, in denen sie ihr Versagen einräumen und sich zugleich vor sich selbst entschuldigen. Ja doch, einer zieht eine selbstmörderische Konsequenz: Botho (Felix Rech), der es als Psychiater besser wissen müsste und es zuletzt sogar besser weiß, wirft sich vor den Zug.

Offenes Ende

Das Burgtheater hat seine Besten für dieses Projekt aufgeboten. Das hat sich gerechnet in scharfen Rollenprofilen. Des Beschreibens dürfte kein Ende sein, weil nicht nur Michael Maertens (der Nukleus in dieser Menschen-Gemenelage) starke Auftritte hat. Birgit Minichmayr legt Bravour-Stücke hin, und auf der anderen Seite der Exaltiertheits-Skala steht der leise Falk Rockstroh.

Komplizen 4 MarcellaRuizCruz uMavie Hörbiger, Felix Rech © Marcella Ruiz Cruz

Aus all den Spintisierereien und Beziehungsgeflechten könnte man eine Soap Opera mit Dutzenden Folgen drehen. Simon Stone hat das – fürs Publikum durchaus kräftezehrend – verdichtet. Erstmal Zustandsbeschreibungen all der in sich kreisenden, selbstreferentiell sich gebärdenden Leute. Dem macht ein Grüppchen Revolutionäre den Garaus. Da fliegen die Farbbeutel an die Glasfassaden. So geht man in die nach zweieinhalb Stunden dringend notwendige Pause. Dann – eine weitere satte Stunde – das große Farbe-Wegputzen, die großen Selbstmitleids-Monologe mit vielen Krokodils- und wenigen echten Tränen. Die meiste Selbsterkenntnis ist gespielt und Attitüde. Mavie Hörbiger gestaltet Lisas Verzweiflung nach dem Selbstmord des Bräutigams aber eindringlich. Über die aufständischen Arbeiter wird sowieso immer nur geredet. Eine eigene Stimme bekommen sie (noch) nicht, geschweige denn einen Platz auf der Bühne.

Simon Stone bleibt mit seiner Stücküberschreibung erstaunlich nahe an der Dramaturgie der Gorki-Vorlagen. Und an dessen Geist sowieso. Gorki wusste 1905 selbst nicht, wie's in Russland weitergehen würde. Was auch heute einzig gewiss ist, spricht Peter Simonischek am Schuss aus: "Es ist aus für solche wie uns. Es ist aus, und wir sind selber schuld."

 

Komplizen
Simon Stone nach "Kinder der Sonne" und "Feinde" von Maxim Gorki
Regie: Simon Stone, Bühne: Bob Cousins, Kostüme: Aino Laberenz, Komposition: Alva Noto, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Sebastian Huber.
Mit: Bardo Böhlefeld, Rainer Galke, Lilith Häßle, Mavie Hörbiger, Stacyian Jackson, Roland Koch, Annamária Láng, Michael Maertens, Birgit Minichmayr, Dalibor Nikolic, Felix Rech, Safira Robens, Falk Rockstroh, Peter Simonischek.
Uraufführung am 26. September 2021
Dauer: 4 Stunden, eine Pause

www.burgtheater.at

 

Kritikenrundschau

"Das Stück die Stone-typische Mischung aus gewitzten Well-made-play-Dialogen und aktuellen, harten Themen; die knapp vier Stunden Spieldauer werden einem nicht lang", schreibt Wolfgang Kralicek in der Süddeutschen Zeitung (29.9.2021). "Komplizen" sei ein tolles Ensemblestück, erreiche aber nicht die Dichte von Stones besten Arbeiten wie "Drei Schwestern" oder "Hotel Strindberg". "Auf der Höhe seiner Kunst ist er vor allem in den herrlich verkorksten Paarszenen, etwa wenn die Rivalinnen Tanya und Melanie bei viel Chardonnay Freundschaft schließen."

"Wie in Gorkis prärevolutionärem Russland ist in Simon Stones Wien die Oberschicht müde, morsch und dekadent, nicht mehr fähig und willens, ihre Privilegien zu verteidigen. Ihre Grübeleien und Seelenleiden, ihre Liebeswirren und Selbstzweifel sind ihnen näher als die Arbeitswelt, der sie ihren Luxus verdanken", schreibt Thomas Kramar von der Presse (Online 27.9.2021). Völlig schlüssig sei die Kombination der zugrunde liegenden Stücke indes nicht. "Die zusätzlich eingestreuten 'Me too'-Motive wirken etwas gezwungen. Die wissenschaftliche Forschung des Doch-nicht-Erben Paul bleibt nebulös (das ist sie freilich schon bei Gorki). Doch die Stimmung stimmt." Ob das Stück lang auf den Spielplänen bleiben wird, sei fraglich. Im Hier und Jetzt funktioniere es aber.

"Man sieht hier mit fortschreitender Zeit und den sich dramatisch zuspitzenden emotionalen wie politischen Verwerfungen eine theatralische Fernsehkurzserie wachsen, eine Art David-Schalko-de-luxe-Produkt, in dem in einem exemplarischen Lebenskosmos sämtliche gesellschaftspolitischen Baustellen ineinandergreifen, von MeToo über das alte degenerierte Europa bis hin zu Wirtschaftsintrigen und Migrationsgesellschaft", schreibt Margarete Affenzeller vom Standard (Online 27.9.2021). Am Ende wirke dies alles zu überladen und etwas mühsam am Reißbrett entworfen. "'Komplizen' umreißt eine Umbruchszeit, doch Stone presst sie in ein zu enges, fatalistisches und erklärwütiges Bild."

Stone inszeniere einen vierstündigen Schwerpunktabend zu Klassenkampf, Covid-Pandemie und psychischen Problemen mit einer Prise MeToo, schreibt Martin Lhotzky in einer Sammelkritik über aktuelle Wiener Premieren in der FAZ (4.10.2021). "Zwar funktioniert das Zusammenspiel im Ensemble perfekt, und einiges an den 'Komplizen' ist durchaus auch inhaltlich von Interesse. Aber insgesamt ist es – wie schon bei ­Stones jüngster Regiearbeit am Münchner Residenztheater – zu viel und zu lange." Abgesehen davon, dass etwa jede und jeder einmal von sich behaupte: 'Ich bin so ein Klischee!' Und dass gefühlt in jedem zweiten Dialog mindestens einmal das Wort 'Scheiße' fällt. Fazit: "Von Poesie ist bei Stone weit und breit keine Spur."

 

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