Wer hat Angst vor Vakzina Woolf?

4. Oktober 2021. Die neue Gretchenfrage in Corona-Zeiten: Wie hältst Du's mit 2G? Viele Theaterleute scheuen sich, Impfunwillige auszusperren. Aber damit decken sie die Falschen, sagt Regisseur Tim Tonndorf (Prinzip Gonzo) in seinem Essay über Impfverweigerung.

Von Tim Tonndorf

Wer hat Angst vor Vakzina Woolf?

von Tim Tonndorf

4. Oktober 2021. Die Tinte der Unterschrift Otto von Bismarcks unter dem Reichsimpfgesetz vom 8. April 1874, in Folge dessen die Todesfälle durch das hochansteckende Pockenvirus im Kaiserreich binnen weniger Jahre von mehreren Tausend auf eine kleine Handvoll sanken, war noch nicht trocken, da hatten bereits eine ganze Reihe impfgegnerischer Gruppierungen Petitionen im Reichstag eingereicht gegen die Impfpflicht für Kinder zwischen einem und zwölf Jahren. Unter anderem der "hydrodiätische Verein Magdeburg", der "Verband für schwedische Heilgymnastik Berlin", der "Verein für Naturheilkunde Chemnitz" und der "Verein für naturgemäße Lebensweise Frankfurt am Main" ereiferten sich, eine Impfung sei "eitel Lug und Trug", verstoße "gegen alle Gesetze der Physiologie", richte "entsetzliche Verheerungen im Organismus an" und erzeuge "höchst gefährliche Krankheiten", welche "auf schreckenerregende Weise die Kinderwelt dezimieren".

Alte Esoteriker in neuem Gewand

Fast 150 Jahre (und eine erfolgreiche Ausrottung des Pockenvirus) später schreiben Menschen inmitten einer globalen Pandemie in einschlägigen Theaterforen, dass "niemand sagen [kann], wie die Impfstoffe langfristig funktionieren werden und ob überhaupt", behaupten (fälschlicherweise), dass primär Impfungen für die Virusmutationen verantwortlich seien und bezeichnen Impfgegner*innen als "differenzierte Impfentscheider". Dieses Kompositum ist nicht nur ein einschlägiger Kampfbegriff unter Esoteriker*innen, es demonstriert auch, dass die Ur-Ur-Ur-Enkel*innen der preußischen Schwurbelvereine, die (Stand Ende September) mit Til Schweiger gerade einen weiteren reichweitenstarken Fürsprecher gewonnen haben, natürlich auch im Kunst- und Kultursektor einen festen Platz einnehmen.

Impfung 600 pexels Gustavo Fring uImpfung © Gustavo Fring / Pexels

Den Stein des Anstoßes gab Thorsten Weckherlin, Intendant in Tübingen, der sich Anfang August öffentlich für eine Impfpflicht für Theaterpublikum und -mitarbeitende aussprach. Die Reaktionen waren nicht überbordend – 17 Kommentare unter der Meldung bei nachtkritik ist vergleichsweise unteres Furore-Level – dennoch wurden sogleich schwere Geschütze aufgefahren. Von "Kapitulationserklärung an die Kunst" ist da die Rede, von einem "Bedingungs-Nötigungstheater".

Tatsächlich ist das Abwägen bzw. Einschränken bestimmter qua Verfassung verbriefter Grundrechte im Verlauf der Gesetzgebung ein regelmäßiger Prozess. Nichtraucherschutz, Gurtanlegepflicht oder postmortale Organentnahme sind populäre Beispiele. Rote Ampeln sind faktisch ein Eingriff in das Grundrecht auf Handlungsfreiheit. Beim Thema Impfpflicht steht unter anderem das Recht auf Berufsfreiheit und -ausübung (ohne Impfnachweis arbeiten zu dürfen) dem Recht auf körperliche Unversehrtheit (nicht einer potentiellen Ansteckung ausgesetzt sein müssen) gegenüber. (1) Doch im Zuge der konkreten Diskussion über die SARS-1-CoV-2-Impflicht für Theaterpersonal und –besucher*innen (die mit Beginn der kalten Jahreszeit nicht an Relevanz verlieren wird) lassen sich vor allem zwei Vorgänge beobachten: das Reproduzieren impfgegnerischer Desinformation und das Warnen vor Ausschlussmechanismen am Theater.

Die Ausgeschlossenen und die Fake-News-Fraktion

Unter dem Begriff "Impfskepsis" werden häufig verschieden motivierte Positionen vermengt, bei deren Beantwortung allerdings unterschiedliche Ansätze vonnöten wären. Das von impfbefürwortenden Gegner*innen einer rechtlich durchgesetzten Impfpflicht favorisierte Werkzeug sind die sogenannten "Anreize", die geschaffen werden sollen. Doch hier muss im Hinblick auf die impfunwilligen Zielgruppen stärker differenziert und "Impfskepsis" als deutlich getrennt von Skepsis gegenüber Verwaltung, Bürokratie und Abläufen im Gesundheitssystem betrachtet werden. Denn nicht immer sind es die Impfung bzw. die Ressentiments gegen die Impfstoffe selbst, welche bestimmte Menschen vom Gang zum Stich abhalten, sondern das Prozedere drumherum. Marginalisierte wie z.B. nicht-weiße oder arme Menschen haben infolge  von Diskriminierungserfahrungen oft Vorbehalte gegenüber Ärzt*innen, Krankenhäusern und Krankenkassen. Selbiges gilt bei oft umständlichen, nicht barrierefreien Formalitäten, bürokratischen Hürden oder Zeitplänen, die beispielsweise mit den Arbeitsrhythmen von Arbeiter*innen nur schwer vereinbar sind. Hier gälte es bewusst Barrieren abzubauen.

Impffortschritt TwitterBots wie @impf_progress auf Twitter informieren über den Impffortschritt in Deutschland | ScreenshotErfolgversprechend zeigen sich beispielsweise lokal organisierte, niedrigschwellig zugängliche Impfaktionen, die insgesamt eher den einladenden Charakter eines Kiezfestes haben als die hochfrequente Routine einer Praxis oder die stellenweise Science-Fiction-artige Atmosphäre eines Impfzentrums. Dafür braucht es ein Bewusstsein, bevor man diese Menschen in einen Topf wirft mit solchen, die wegen der jahrzehntelangen Verbreitung pseudowissenschaftlicher Fake News Impfungen fälschlicherweise mit Autismus in Verbindung bringen und an den milden Verlauf einer COVID-19-Infektion mithilfe mitternächtlich geschüttelter Zuckerkügelchen glauben. Hier geht es nicht mehr um nachvollziehbare Institutionen-Skepsis aufgrund struktureller Ungleichbehandlung. Als Mensch, dessen Privilegien eine Impfung theoretisch zuließen, aufgrund kontrafaktischer Glaubenssätze eine Impfung zu verweigern, über deren grundsätzliche Wirksamkeit, Sinn und Zweck weltweit wissenschaftlicher Konsens herrscht, ist nicht (nur) unsolidarisch sondern in hohem Maße diskriminierend. Es sich leisten zu wollen, eine Impfung zu verweigern, weil man "selbst gesund" sei, und die (höchst wahrscheinlichen) Risiken einer COVID-19-Infektion gegenüber den (höchst höchst höchst unwahrscheinlichen) Risiken einer Impfung in Kauf zu nehmen, lässt Menschen mit erhöhtem Risiko, Menschen mit Behinderung, Menschen mit bestimmten Krankheiten, Menschen, die keine Antikörper bilden können, und aktuell auch Kinder unter 12 Jahren einfach mal so über das Spike-Protein springen.

Blindheit für Privilegien

Das Fehlen von Bewusstsein und Sensibilität für die Situation von Menschen jenseits der eigenen Bürgerlichkeit kennzeichnet auch die impfpflichtablehnende Argumentationslinie, die in einem Kommentar auf nachtkritik wie folgt zusammengefasst wird: "(...) Theater ist für alle da. Und das ist nicht verhandelbar. Wer bestimmte Gruppen vom Vorstellungsbesuch ausschließen möchte, sollte nochmal über den Auftrag der Theater nachdenken."

Carsten Brosda, Hamburger Kultursenator und Präsident des Deutschen Bühnenvereins, formuliert es in einem (insgesamt sehr hörenswerten) Gespräch im Deutschlandfunk Kultur so: "Was uns nicht passieren darf ist, dass wir eine Form von Zwei-Klassen-Gesellschaft (...) organisieren und wir umstandslos hinnehmen würden, dass wir Menschen (...) strukturell ausschließen von der Möglichkeit, Kultur in Anspruch zu nehmen."

Diese Überzeugung entspringt gewiss einem hehren Motiv, verkennt jedoch auf geradezu verblüffend naive Weise die Realität der Institution Deutsches Stadttheater. Wer ernsthaft der Auffassung ist, dass die vorgeblich weltbewegenden Bretter bis dato Horte der barrierefreien, niedrigschwelligen, inklusiven Offenheit waren, deren ausgebreitete Arme sich allein durch eine Impfpflicht verschränken würden, dem sei dringend ein Reflektieren der eigenen Privilegien ans Herz gelegt.

Statistik CoronaDie Statistik der Corona-Fallzahlen gemäß Robert-Koch-Institut © www.bundesregierung.de

Vier Rollstuhlplätze im großen Saal, Restkarten für 3€ an der Abendkasse und hin und wieder eine Vorstellung mit Übertiteln sind keinesfalls der Endpunkt eines notwendigen Prozesses, dem es nach wie vor nicht gelingt, ein Publikum zu diversifizieren, welches größtenteils die Spiegelung eines weißen, nicht behinderten, akademischen Bildungsbürgertums jenseits der 50 bleibt. Die Zugangshürden für den initialen Besuch eines Theaters in Deutschland sind über einen langen Zeitraum aufgebaut und verfestigt worden. Einen großen Anteil an der daraus resultierenden sozialen Selektivität hat sicherlich die überproportionale Dominanz der Mehrheitsgesellschaft innerhalb des Theaterbetriebs selbst. Diverse Ausschlussmechanismen, die bei den Auswahlprozessen der Kunsthochschulen beginnen und fest im patriarchal strukturierten Berufsalltag implementiert sind, werden derzeit sukzessive von diversen Initiativen und im Zuge einer durch deren Arbeit allgemein gesteigerten Aufmerksamkeit für diese Themen adressiert. Und natürlich treten geradezu reflexhaft die Verteidiger*innen des Status quo auf den Plan, die nicht müde werden, jegliches Anstoßen von Reflexionsprozessen (beispielsweise im Kontext von Antirassismus und Postkolonialismus) durch Kunst-exzeptionalistische Überheblichkeit und identitätspolitische Schreckgespenster zu attackieren. Empathie, Verständnis, Rücksichtnahme, Sensibilität, offene Ohren für die Bedürfnisse und Rechte von Marginalisierten werden auf diese Weise diskreditiert und als "Gefahr für die Kunst" etikettiert. Hingegen wird umgehend von Ausschluss und Diskriminierung gesprochen, wenn ohnehin Privilegierte Angst davor haben, einen Teil ihrer Sichtbarkeit und Stimme abgeben zu müssen. Und hier schließt sich der Kreis zur Impfpflicht-Debatte.

Die Risiken sind nicht für alle gleich

Berndt Schmidt, Intendant des Friedrichstadtpalasts, sagt im Interview mit Deutschlandfunk Kultur dazu: "Diese Diskussion (...) finde ich einen unverschämten Druck, der auf Leute ausgeübt wird, die vielleicht noch in der Informationsfindungsphase sind, (...) die vielleicht auch aus einer gewissen Bequemlichkeit sich noch nicht haben impfen lassen. Das (...) finde ich nicht angemessen." Hier wird unter anderem für Menschen, die medizinische und historische Fakten leugnen, eine Zeit eingefordert, die alleinerziehende Eltern mit einem Hochrisiko-Kind nicht haben. Die Menschen, welche aufgrund einer Autoimmunerkrankung keine Antikörper bilden können, nicht haben. Die Pflegepersonal in Krankenhaus nicht hat.

Aermelhoch Kampagne 600 zusammengegencorona BundesgesundheitsministeriumGünther Jauch in der Kampagne "Ärmel hoch" © zusammengegencorona.de / Bundesministerium für Gesundheit

Carsten Brosda sagt: "(Impfverweigerung) ist eine individuelle Entscheidung, sich diesem Risiko auszusetzen, und die muss man dann auch individuell tragen." Doch das stimmt eben nicht. Zunächst mal ist besagtes Risiko nicht für alle gleich. Als pensionierter Abonnent im vorstädtischen Eigenheim isoliert es sich recht leicht im Gegensatz zur alleinerziehenden Mutter mit zwei Jobs und drei Kindern in der Großstadt. Aber impftaugliche Impfverweigernde bergen nicht nur das erhöhte Risiko, andere (mit möglicherweise nochmals erhöhtem Risiko) zu infizieren. Sie bestimmen auch durch ihren skandalisierenden, effekthascherischen Pathos die Debatte und werden dabei von einer Politik hofiert, deren ausschließlicher Fokus derzeit auf den Fallzahlen in der Wahlurne liegt. All das geht schlimmstenfalls zulasten von Menschen, denen aufgrund ihrer Situation eben keine Zeit und keine Wahl bleibt.

Keine Entschuldigungen für Egoisten

Fakt ist: Eine höchstmögliche Impfquote ist der sicherste, kostengünstigste, logistisch unaufwändigste und nachhaltigste Weg zu dem, was manche "Normalität" nennen. San Francisco und New York City haben seit einigen Monaten u.a. für Theater eine SARS-CoV-2-Impfpflicht, die von Publikum wie Personal mehrheitlich begrüßt wird – nicht zuletzt weil man sich dort im Klaren darüber ist, dass erneute Schließungen bei steigenden Infektionszahlen die Kultur um einiges härter treffen würden als eine Handvoll fernbleibender Impfverweiger*innen.

Konzentrieren wir also unsere Energie und Kreativität auf Konzepte für Menschen – hinter, auf und vor der Bühne –, die eben nicht die Wahl haben. Zersetzen wir nicht den dringenden Kampf gegen reale Mechanismen wie Ausschluss und Diskriminierung, indem wir sie einer privilegierten Gruppe bescheinigen, die stellenweise Wissenschaftsfeindlichkeit, Sozialdarwinismus und Egoismus mit dem Freiheitsbegriff ummantelt und durch absurde Euphemismen wie "Bequemlichkeit" bagatellisiert wird.

Gleichwohl muss die Entscheidung über eine Impfpflicht ein genuin politisches Anliegen sein und sollte nicht in einzelne Verantwortungsbereiche ausgelagert werden. Niemand nimmt die Abwägung von Grundrechten auf die leichte Schulter. Doch sollte sich die Debatte daran orientieren, wie den aktuell Verletzlichsten der Gesellschaft sowohl bestmöglicher Schutz als auch eine Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht werden kann.

 

Fußnote

(1) Weil der Erhalt der (allgemeinen) Unversehrtheit gerade die Zielsetzung ist, bleibt der Wesensgehalt des Grundrechts unangetastet, wenn das (einzelne) Recht auf körperliche Unversehrtheit durch die Bedingung eines medizinischen Eingriffs (einer Injektion) zur Berufsausübung eingeschränkt wird. So hat das Bundesverwaltungsgericht bereits 1959 entschieden, weshalb wir hierzulande seit März 2020 in bestimmten Bereichen die Nachweispflicht einer Masern-Impfung haben. 



Tim Tonndorf 2012Tim Tonndorf (married with children) ist Feminist, Gamer + Rollenspieler, Moderator, Performer & Rampensau, Mitglied im ensemble- & regie-netzwerk, Gründungsmitglied von PRINZIP GONZO.



Zuletzt schrieb Tim Tonndorf zur Debatte um die Zukunft des Stadttheaters über die Entsolidarisierung an Theatern.

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