Das Leben als biblische Baustelle

Bochum, 9. Oktober 2021. Robert Borgmann verschweißt Bulgakow und Bach, also "Meister und Margarita" und die "Matthäus-Passion", zu "Passion I & II." Warum, weshalb, wozu?

Von Andreas Wilink

Das Leben als biblische Baustelle

von Andreas Wilink

Bochum, 8. Oktober 2021. Der Teufel sitzt bereits beim Abendmahl – der Hintergrund der Bühne im Schauspielhaus Bochum abgehängt mit einer Baustellen-Plane – und lässt sich's schmecken. Nicht für lange. Schon klappert die Irrenhauswärterin mit den Schlüsseln. Der Teufel hat auch das erste Wort. Das, was er sagt, könnte Jesus im Munde geführt haben, vielleicht in jenem Augenblick auf Golgatha, als ihm entfuhr: "Eli, Eli, lama sabachthani" (Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen). Der Teufel, der Woland heißt und undercover in Moskau erscheint, räsoniert darüber, "wie der Mensch etwas lenken kann, wenn er – ganz zu schweigen von seiner Unfähigkeit, einen wie auch immer gearteten Plan für die lächerlich kurze Frist von nur, sagen wir, tausend Jahren zu erstellen – nicht in der Lage ist, seinen eigenen morgigen Tag im Voraus zu verwalten?". So fühlt Luzifer sich in der Pflicht, es zu richten.

Exzentrische Burleske

Aberwitzig diabolisch ist, was "Meister und Margarita" auftischt, von Michail Bulgakow in seinem Todesjahr 1940 vollendet. Das faustische Hauptwerk erzählt über sein Sowjetrussland und, simultan als Roman im Roman, die biblische Geschichte des Jüngers Levi Matthäus, der den das Gute im Menschen sehenden Gottessohn liebt und dem mörderischen Gottvater flucht, sowie die des Pontius Pilatus. Der Römer, dessen Frage "Quid est veritas?" unsterblich wurde und die in Bochum Steven Scharf tückisch betont, hat bei Bulgakow unter anderem auch wegen seines Geheimdienstchefs gewisse Ähnlichkeit mit dem roten Zaren im Kreml. Lesen muss man das Buch – ganz Russland tat und tut es – als Satire, Allegorie, exzentrische Burleske und mystische Fantasie und Utopie.

Passion 4 ArminSmailovic uIrrlichternder Fabelstoff auf der Via Dolorosa:  Jing Xiang, Konstantin Bühler, Karin Moog © Armin Smailovic

Regisseur Robert Borgmann tut gleichfalls etwas Irrwitziges, indem er sein äußerst knapp gehaltenes Bulgakow-Exzerpt mit Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion zu kombinieren vorgibt. Vom Ergebnis betrachtet: mit Dünkel und aus Hoffart. Bindeglieder sind das Personal der Passion: Jesus, Judas, Roms Statthalter und der Evangelist selbst, dessen Christus-Legende unter Verdacht steht, weil der Apostel seinen Rabbi aus Nazareth missversteht bzw. in seinem Text willentlich falschen Karfreitagszauber betreibt. A propos: "Erlösung dem Erlöser", Wagners enigmatisches Parsifal-Schlusswort, besitzt es nicht auch Gültigkeit für den gottverlassenen Gottessohn am Kreuz wie für den "Meister"-Schriftsteller Bulgakow und seine irrlichternden Gestalten?

Trübselig schief

Die epische, meditativ veranlagte Matthäus-Passion, die im Schluss-Choral "Wir setzen uns mit Tränen nieder" machtvoll aufrauscht, so dass es nicht wunder nimmt, dass andere Künste ihn aufgegriffen und etwa Martin Scorsese als Prolog seines Mafiafilms "Casino" benutzt haben, errichtet eine eigene bittersüße Klagewelt. Macht es Sinn, den theatralen Fabelstoff Bulgakows mit Bachs streng lutherischer Leidens-Darbringung zu mischen, außer eine Inszenierung wolle mit diesem abwegigen Zwiegespräch eine Volte im Sinne Bulgakows schlagen?

Passion 1 ArminSmailovic uLeiern beim letzten Abendmal: Jing Xiang, Karin Moog, Pierre Bokma, Alexander Wertmann © Armin Smailovic

Wenn die Ensemble-Stimmen Choräle und Arien zu Live-Orgelklang in gewolltem Dilettantismus (deshalb nicht minder hörschädigend) trübselig schief leiern, dazu Gesichter mit falschen Bärten schneiden und in Krippenspiel-Manier Männchen machen (auch die Weibchen), ist das nicht mal Monty Python's. Da ist Milo Rau weiter gekommen und über Pasolinis Matera hinaus. Das nur nebenbei gesagt.

Regie-Kauderwelsch

Immerhin, Pierre Bokma als Woland und Steven Scharf als Meister blicken in Abgründe, und Abgründiges spricht aus ihnen – momentweise und für Schrecksekunden. Bekanntlich kann es bei Verrückten sehr vernünftig zugehen. Nach einer Stunde wird der ganze Requisiten-Plunder abgeräumt und zusammengeschoben. Die Bühne, nun unter fahlem Gewölk, öffnet sich zur Schädelstätte, zum Ballsaal, zum Teufelswerk, zur Beziehungskiste, an der Margarita (Gina Haller) in den Seilen hängt, um den Kammer-Kasten über die eigene Achse zu ziehen und danach als Ekstatikerin einen robusten Monolog über Sprach- und Machtkritik zu halten.

Borgmanns Idee mag gewesen sein, das Disparate des Bulgakow-Romans in differierende Spielformen und szenische Offerten zu übertragen: zu sehen aber ist Regie-Kauderwelsch. Gesprochen wird übrigens ein Esperanto russischer, estnischer, chinesischer, englischer, niederländischer, wienerischer, deutscher etc. Zunge – entsprechend der Herkünfte oder Steckenpferde der Mitspielenden. Man nimmt es zur Kenntnis – und das Übersetzungs-Laufband zu Hilfe.

Passion 3 ArminSmailovic uIn Abgründe blicken: Jele Brückner, Gina Haller, Pierre Bokma © Armin Smailovic

Die zweite endlose Hälfte – Gretchen-Komödie mit Margarita und hochhackiger, gelackter, steil outrierter Höllenbrut samt Behemoth, dem hofnärrischen Kater Wolands – veranstaltet eine deklassierte Walpurgisnacht, die zum Politkabarett ausartet und darin jedes moralische Gleichgewicht zum Kippen bringt.

Die Tränen des Kritikers

Denn plötzlich und unerwartet bietet Borgmann auf: Beate Zschäpe, Präsident Ceausescu, die 1945 hingerichtete KZ-Bestie Imma Greese, Josef Fritzl und andere Armsünderlein und Gerne-Größen, als wär’s ein Stück von Jelinek oder Goetz. Weil aber Mephisto gemäß Goethe "Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft", ist, werden Margaritas Wünsche erfüllt, sie hat ihren "Meister" wieder und entkommt mit ihm aus der Banalität von Partnerschaftskrise und pillow talk in einen halluzinogen paradiesischen Zustand.

Pathos und Parodie, Passion und Politzirkus, Kitsch und Hohn vertragen sich, zumindest hier, herzlich schlecht. Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein. Der Kritiker behält die Faust in der Tasche und setzt sich mit Tränen nieder.

 

Passion I und II
nach "Meister und Margarita" von Michael Bulgakow (Übersetzung: Alexander Nitzberg) und Johann Sebastian Bachs "Matthäus-Passion"
Regie, Bühne und Musik: Robert Borgmann, Kostüm: Magdalene Schön, Helen Stein, Lichtdesign: Carsten Rüger, Dramaturgie: Andrea Obst.
Mit: Pierre Bokma, Jele Brückner, Konstantin Bühler, Boris Gurevich, Gina Haller, Risto Kübar, Karin Moog, Steven Scharf, Isabell Weiland, Alexander Wertmann, Jing Xiang, Ruud Zielhorst.
Premiere am 8. Oktober 2021
Dauer: 3 Stunde 15 Minuten, eine Pause

www.schauspielhausbochum.de

Kritikenrundschau

"Hier ist es die Passionsgeschichte Jesu, die von Geisteskranken nachgespielt wird, freilich in der verfremdenden Lesart Bulgakows", schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (12.10.2021). "Ist das Borgmanns blanker Ernst? Oder ist es sein Verständnis von Meister Bulgakows parodistischen Techniken, die er nun einigermaßen bedenkenlos auf die Bühne überträgt?" fragt der Kritiker. Es gebe durchaus packende Szenen an diesem vollgepackten Theaterabend, "nach der Pause räumt Borgmann die Bühne auf. Anstelle der Psychiatrieszene sehen wir nun ein leeres Zimmer auf einem Podest: Haller ist Margarita, und die Meister-Margarita-Geschichte wird nun in einer gefühlt anderen Temperatur abgehandelt." Fazit: "Der Theatermacher Robert Borgmann hat sehr viel Ehrgeiz und tausend Einfälle, aber die Idee dahinter wird nicht sichtbar. Da spielt das Schauspiel Bochum den L'art-pour-l'art-Blues."

"Schon in Bulgakows 600-Seiten-Wälzer sind Realität und Fiktion nie ganz auseinanderzuhalten", schreibt Sven Westernströer in der WAZ (10.10.2021): "Diese Steilvorlage nimmt der Regisseur geschickt auf." Allerdings lasteten "die vielen Regieeinfälle, von denen nicht wenige mit heißer Nadel gestrickt zu sein scheinen", nach kurzer Zeit "bleiern auf der Aufführung". Da werde die Geduld der Zuschauer vor allem nach der Pause "hartnäckig" geprüft. Das Ensemble aber sei "elektrisierend gut".

 

Kommentare  
Passion, Bochum: witzig
Schon witzig, bei der Kritik jemanden Dünkel vorzuwerfen.
Passion, Bochum: Treffende Kritik
Sehr treffende Kritik! Habe ich leider ähnlich empfunden.
Passion, Bochum: Frage
@Witzbold
Warum?
Passion, Bochum: Manchmal wäre weniger mehr
Wer werkgetreue Inszenierungen mag, kann im ersten Teil der Aufführung sich dem Genuss hingeben, die Dialoge Bulgakows nahezu 1:1 auf der Bühne wiederzufinden. Schauspielerisch glänzt hier nicht nur der stimmgewaltige Steven Scharf als Pontius Pilatus, sondern vor allem auch der Newcomer Alexander Wertmann. Die pointierte Darstellung des Jeschua Ha-Nozri ist ein Glanzstück des 1. Teils. Das Zusammenspiel mit Steven Scharf erweist sich der Satire Bulgakows als würdig - bitte mehr davon!
Ob nun die Verknüpfung mit Bachs Passion notwendig gewesen wäre? Den Zuschauern erschloss sich das wohl nicht. Und wer sich dann im zweiten Teil der Aufführung auf die elementare Varieté Szene in Bulgakows Roman gefreut hatte, der wurde leider enttäuscht. Wobei man sich die Frage stellen muss, wem sich die Handlung ohne Romankenntnis nach der Pause überhaupt noch erschloss. Der Wendepunkt der Handlung, das Verbrennen des Romans durch den Meister selbst, nachdem dieser von der russischen Zensur nicht zur Veröffentlichung zugelassen wurde, deutet Robert Borgmann nur an. Aber wäre nicht genau dies die notwendige Voraussetzung gewesen, die dann zu Gina Hallers minutenlanger Wutrede über den Umgang mit Sprache führt? Und wenn man sich die heutigen politischen Verhältnisse in Russland anschaut, wäre doch der Vergleich mit der Situation in der ehemaligen Sovietunion enorm spannend, wenn auch ernüchternd ausgefallen. Stattdessen künstelt Borgmann plötzlich diabolische Figuren der vornehmlich deutschen Vergangenheit aus dem Hut. Und um der Satire Bulgakows gerecht zu werden, tritt in dieser zusammen gewürfelten Galerie des Schreckens dann auch noch Scar aus „König der Löwen“ auf. Autsch!! Borgmann ist zweifelsohne kein Bulgakow. Dem zweiten Teil der Aufführung fehlte es leider, leider an Witz und Esprit. Auch die diabolischen Begleiter des Magiers Volan, blieben in der Bochumer Aufführung eher blass. Schade! In der Pause noch voller Begeisterung, schwand diese im Laufe des 2. Teils zusehends. Am Ende gab es dann vom Publikum auch nur eher wohlwollenden Applaus. Und dennoch: das Bühnenbild im Schauspielhaus war wie so oft auch großartigem Niveau, und die Entdeckung des Abends ist ganz klar ein hoffnungsvoller Alexander Wortmann.
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