Brutus liest Fanpost

Meiningen, 9. Oktober 2021. Der neue Schauspieldirektor Frank Behnke startet mit Shakespeares "Julius Caesar" und Wolfram Lotz' Theatergedicht "Die Politiker".

Von Henryk Goldberg

Brutus liest Fanpost

von Henryk Goldberg

Meiningen, 8. Oktober 2021. Sie haben keine Gesichter, nur mit Gesichtern bemalte Papp-Bretter vor den Köpfen. Und Papp-Schilder in den Händen, "Heil Caesar". Sie bejubeln den, der ihren Pompejus schlug, den sie einst bejubelt hatten. Später werden sie, dann als rote Clowns, um den toten Caesar trauern. Bis es Brutus ihnen eintränkt, warum der Mord rechtens war. Sie werden es verstehen und dem Mörder ihre Reverenz erweisen. Bis Antonius es ihnen besser erklärt, dann werden sie den Brutus jagen. Ein Volk, wie blöd das ist. – Ungefähr darum geht es.

Das hat Meiningen noch nicht gesehen.

Der neue Meininger Schauspielchef Frank Behnke hat für seine Antrittsinszenierung Shakespeares "Julius Caesar" zusammengespannt mit Wolfram Lotz' "Die Politiker", diesen wohl merkwürdigsten Theatertext der letzten Zeit. Das darf als gelungener Einstand gelten und womöglich als Programm: Den Meiningern geben, was der Meininger ist: und nebenher versuchen, was nun des Hauses Brauch durchaus nicht ist. Denn einen so poetischen wie absurden Text, einen Text wie Schall und Rauch – "Die Politiker sind Rauch! Und wir, wir – Gartenschlauch", hat Meiningen noch nicht gesehen. Und während Politiker-Beschimpfung Standard ist, neigt dieser Abend eher zur Volks-, zur Publikumsbeschimpfung also. Was dem Erfolg nicht im Wege stand.

JuliusCaesar Politiker 4 JochenQuast uJulius Caesar: Glitzern und Ränke schmieden © Jochen Quast

Frank Albert hat dem Abend eine flächendeckende Schräge gebaut, die zu Teilen effektvoll drehbar ist, dazu einen schwebenden Lichterkranz, der die Szene beleuchtet und bedroht. Und Cornelia Kraske hat sie alle, bis auf Caesar, in weiße, glitzernde Anzüge gesteckt, lauter Talmi, lauter Flitter. Auf der Bühne, auf den Klamotten, in den Kerlen.

Brutus seift das Volk ein

Caesar trägt Blut und Orden auf der nackten Brust, Vivian Frey spielt einen arroganten, nicht großen Mann, der schon des Mordens wert ist. Brutus, Lukas Umlauft, ist einer wie alle, ein Kämpfer für die Republik eher weniger. Er sammelt gierig seine Fan-Post auf, er hechelt sich Mut und Gründe zum Mord zu. Später, an Caesars Grab, wird er vibrierend, mit Glibber in der Stimme, das Mikro in der Hand, wenn es sein muss auf den Knien, das Volk einseifen mit Eleganz. Das ist des Brutus Kern, sein Kerngeschäft. Doch nicht nur Brutus ist "ein ehrenwerter Mann", auch Cassius, Stefan Willi Wang ist der Manipulator, den der Neid zerreißt. Und Decius, Renatus Scheibe, Casca, der Shakespeare-Clown, Leo Goldberg und der Cinna, Jan Wenglarz – alles Brüder im Geiste, wenn sie zur Sonne, zur Freiheit wollen, dann wollen sie immer: zur Macht. Ehrenwerte Männer alle.

Nur die Frauen nicht. Wenn Evelyn Fuchs, Portia, ihren Mann bedrängt, was ihn bedrückt, dann ist da der erste Ton, der ehrlich ist, der meint, was er sagt. Wenn Emma Suthe, Calpurnia, ihren Mann, beschwört, es sind die Iden des März, nicht aufs Capitol zu gehen, dann ist da eine Angst und ein Leiden, dann ist da miteins – ein Mensch.

JuliusCaesar Politiker 7 JochenQuast uVolkes Stimme: Die Politiker © Jochen Quast

Und Antonius. Der ist hier eine Frau, was zunächst so gut wie keine Folgen hat, eine Art "Blind Casting". Miriam Haltmeier lässt sich die blutigen Hände der Verschwörer reichen, die "Freiheit" delirieren. Allein trauert sie an Caesars Leiche – und dann kocht sie sie alle ab. Sie meint das im Ernst, den Zorn, die Trauer – kann sein, dass deshalb der Antonius eine Frau ist, so ist der Dame Rede, natürlich, Demagogie aber auch eine wirkliche Trauer. Dann, allein, löst sie die Haare, spricht den Text in Englisch, singt, sehr intensiv, eine Trauer, ein Wissen um Vergeblichkeit. Dann kommen Brutus und Cassius zum letzten Gefecht, dann gibt es ein schön choreografiertes Philippi im Gegenlicht. Und dann kommt das Eigentliche.

Volkskunde mit Wolfram Lotz

Dann stehen die bei Philippi Gemetzelten langsam auf. Dann kommt ein Mädchen im kurzen Rock, es ist ein Mann, nach vorn, wischt eine imaginäre Tafel ab, schreibt imaginäre Worte drauf. Und dann kommen sie und lesen vorsichtig, was da wohl steht: "Die Politiker…"

Wolfram Lotz hat einen Text geschrieben, ein "Theatergedicht", handlungsfrei, sinnfrei. Eine Dauerschleife sich jagender, hetzender Assoziationsketten, die Banalitäten virtuos zum Klingen bringen, die Allgemeinplätze über "die Politiker" in die absurde Parodie führen – und manchmal einen Hauch Ernsthaftigkeit behaupten. Mit Bedeutungshuberei gespielt wird das eine Peinlichkeit. Frank Behnke und Claudia Sendlinger, Sprachregie, machen daraus eine erst- und hochklassige Lustbarkeit. Diese Schulklasse trägt unsere Freizeitkleidung, ein Elternpaar und ein Hut-Bürger sind auch dabei. Das Thema der Stunde ist ungefähr "Na, was wisst ihr denn über Politiker?" – und die Antworten sind ungefähr das Komprimat von Volkes Stimme, wenn sie Facebook spricht. Das gibt ihnen den Gestus, den Spielimpuls, der ja aus keiner Handlung kommt. Sie sprechen den Text, als suchten sie Antworten, sie sprudeln mit fröhlichem Pathos, wenn sie ihnen einfallen. Das hat Rhythmus und Witz – und immer mal wieder einen Moment des Innehaltens, einen Moment, da die Worte etwas bedeuten.

Eine erstklassige Ensemblearbeit, für die der Shakespeare nur die Zutat ist.

 

Julius Caesar / Die Politiker
von William Shakespeare / Wolfram Lotz
Regie: Frank Behnke, Bühne: Frank Albert, Kostüme: Cornelia Kraske, Musik, Sounddesign: Matthias Schubert, Sprachregie (Die Politiker): Claudia Sendlinger, Dramaturgie: Dr. Olaf Roth.
Mit: Vivian Frey, Lukas Umlauft, Stefan Willi Wang, Miriam Haltmeier, Leo Goldberg, Jan Wenglarz, Renatus Scheibe, Evelyn Fuchs, Emma Suthe.
Premiere am 8. Oktober 2021
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-meiningen.de

 

Kritikenrundschau

"Der Raum von Frank Albert, die Kostüme von Cornelia Kraske und die dezente Untermalung der Handlung mit sphärischen Klängen von Matthias Schubert befördern die Konzentration auf die Akteure – rhetorisch, gestisch, mimisch", schreibt Siggi Seuß in der Mainpost (14.10.2021). "Im kargen Ambiente werden die Mechanismen von Macht und Manipulation und zur (Ver-)Führung der Massen so deutlich, dass einem schaudert angesichts der Aktualität dieser Kräfte. (...) Das Erstaunlichste an dieser Inszenierung ist jedoch die Ensembleleistung. Keiner muss dominieren, um das Räderwerk der Macht begreifbar zu machen."

mehr nachtkritiken