Die Hoffnung stirbt zuletzt

Rostock, 17. Oktober 2021. In seiner Roman-Vorlage zu Vittorio de Sicas Film "Das Wunder von Mailand" beschrieb Cesare Zavattini eine utopische Gemeinschaft. Konstanze Lauterbach erweckt sie am Volkstheater Rostock zum Leben.

Von Frank Schlößer

"Das Wunder von Mailand" in Rostock © Dorit Gätjen

Die Hoffnung stirbt zuletzt

von Frank Schlößer

Rostock, 16. Oktober 2021. So geht das nicht. So kann man das nicht machen. Schon gar nicht für Erwachsene. Wir leben schließlich im 21. Jahrhundert. Michael Unterguggenberger, Salvador Allende, Thomas Sankara und all die anderen Spinner sind auf die Fresse geflogen. In Rostock kämpft der fast hundertjährige Kleingartenverein "Pütterweg" immer noch gegen die Investoren – mit 103 Grünzeug-Parzellen und dem Spruch "Beete statt Knete". Schön und gut, sehr sympathisch. Aber der Pütterweg liegt heute nicht mehr am Stadtrand, das ist Innenstadtlage! Wer 5 x 5 rechnen kann, der muss auch einsehen, dass da endlich was Richtiges gebaut werden muss!

Große Utopie, großes Haus, großes Ensemble

Und dann: Ein Stück Land, das keinem gehört! Ja, wo gibt’s sowas eigentlich: Christiania? Hafenstraße? Connewitz? Rigaer 94? Nein, irgendwo bei Mailand. Vor über 80 Jahren. Schon damals nur als Idee des Schriftstellers Cesare Zavattini – dessen Name übrigens im Abspann vieler bekannter italienischer Filme auftaucht. Zuerst entwarf er das Drehbuch für einem Kinderfilm, der nicht realisiert wurde. Dann erschien der Roman "Das Wunder von Bamba". Der wiederum wurde im Jahr 1951 verfilmt von Vittorio De Sica – und bekam unter dem Titel "Das Wunder von Mailand" weltweite Aufmerksamkeit und ein paar internationale Filmpreise. Schließlich bearbeitete Peter Zadek 1993 den Film für die Bühne des Berliner Ensembles. Jetzt bringt Konstanze Lauterbach das "Wunder" auf die Bühne des Rostocker Volkstheaters. Großes Haus, großes Ensemble, großer Theaterzinnober, als rasanter 90-Minüter ohne Pause.

das wunder von mailand1 600 c dorit gaetjen uDas Ensemble des "Wunders von Mailand", immer in Bewegung © Dorit Gätjen

Bei Mailand also wird Totó von der wunderlichen Lolota als Findelkind zwischen den Kohlköpfen gefunden. Nach ihrem Tod kommt er in ein Waisenhaus, wo man den Jungen sich selbst überlässt: Die naive Güte, die Lolota in das Kind einpflanzte, kann ungehindert weiter wachsen. Als Totó mit zwanzig Jahren auf das Leben losgelassen wird, ist er ein Simpel – so doof, dass er dem Dieb Alfredo sogar seine Tasche überlässt, die dieser ihm grade geklaut hat. Diese Naivität zieht auch andere Loser an, und nachdem sie in der Kälte zusammengerückt sind, stehen sie vor jenem utopischen Stück Land, von dem Bartozzolo meint, dass es keinem gehören würde. Es findet sich Baumaterial, Totó hat jeden Tag neue spinnerte Ideen, die anderen haben eh nichts besseres zu tun, und so entsteht – ja, was eigentlich? Ein Slum? Ein Städtchen? Eine gelebte Utopie?

Die Ölquelle allen Übels

Zuerst geht alles gut. Die Gemeinschaft entwickelt eine innere Resilienz und erträgt den ranzigen Rapp, den polternden Bertozzolo, die schnöselige Signora Carena und ihren Mann, den schleimigen Giuseppe, die sehr verletzte Edvige und den suizidal veranlagten Arturo. Sogar Ausländer werden integriert! Ihrem Akzent nach scheint Clelia aus Tschechien zu kommen, und Jack hat es – warum auch immer – aus den Vereinigten Staaten nach Italien verschlagen. Der Wärme dieser Gemeinschaft kann sich selbst der reiche Signor Mobbi nicht verschließen: Eigentlich ist er ja scharf auf das Stück Land. Andererseits kann er damit grade nichts anfangen – und er gefällt sich als Gönner. Er gönnt den Armen auch das Wasser, das dort plötzlich aus dem Boden sprudelt. Aber als auf dem Gelände Öl gefunden wird, ist der Spaß vorbei: Dieser Reichtum ist jetzt natürlich wichtig für alle, er bringt die Wirtschaft voran, das ist gut für das ganze Land, da darf man nicht so egoistisch sein und meinen, man könne dort einfach eine Utopie leben. Und weil die Gesetze so sind, wie sie nun mal sind, darf sich die Immobilienwirtschaft nach der Räumungsklage auch das staatliche Gewaltmonopol ausleihen: die Polizei.

Weihnachtsmärchen für Erwachsene – mit Tanz und politischen Farben

Diese große Geschichte braucht Platz, die Bühne des Großen Hauses wird so tief wie möglich geöffnet und per Riesen-Bildschirm hat man auch wahlweise Zugriff auf ein paar Extra-Wunder: Lolota erscheint und reicht ihrem Sohn direkt aus dem Himmel eine durchaus analoge weiße Taube. Ein Animationsfilm erzählt wie nebenbei eine poesievolle Extra-Geschichte und die TV-Nachrichten übertragen die Auftritte der Stars der Mailänder Scala - als virtuelles Kontrastprogramm aus der anderen, der reichen, begüterten, heilen Welt.

Fast die ganze Zeit über ist das komplette Ensemble auf der Bühne, die Charaktere werden kurz markiert und bekommen auch keine Entwicklung. Die Inszenierung besteht aus dem, was zwischen den Figuren geschieht, Konstanze Lauterbach setzt auf das, was in der Gemeinschaft passiert: Totó bleibt bis zum Schluss naiv, auch mit Rapp wird es nicht besser und Angelina ist von vornherein so als Partnerin von Totó angelegt, dass es zwischen den beiden eigentlich nur noch funken muss. Da ist auch kein Platz für lange Monologe, schließlich besteht diese Gemeinschaft aus Liebe und Streit, aus Erlebnissen und Gesprächen, aus Entwicklungen und Katastrophen. Dieses Regiekonzept des Ensembletheaters bringt Tempo in die Inszenierung. Kaum zu fassen, wie viele Geschichten in dieser kurzen Zeit erzählt und gezeigt, aber auch nur angedeutet werden in dieses – ja was ist das überhaupt: Ein Ballett? Ein Weihnachtsmärchen für Erwachsene?

Die anderthalb Stunden sind komplett choreografiert, die Tanzcompagnie des Volkstheaters wird wie selbstverständlich integriert, das Feuerwerk aus poesievollen Theaterideen hört nicht auf, auf der Bühne ist ständig alles in Bewegung. Das macht Laune, das kommt an im Parkett, das bleibt in aller Leichtigkeit nachdenklich. Das Grün des Rollrasens bildet den Untergrund für das linke Rot, das die Kostüme der Gemeinschaft prägt – ob man das Schwarz der Polizisten auch in diese politische Farbenlehre überträgt, können die Zuschauer selbst entscheiden. (Das liberale Gelb sucht man, anders als in den laufenden Koalitionsverhandlungen, vergeblich.)

So "üblich politisch" wird es übrigens im "Wunder von Mailand" nicht. Das Wahrzeichen der Gemeinschaft besteht nicht aus einer symbolisch aufgeladenen Fahne. Sondern aus der Statue einer schönen Tänzerin. Die prompt hinwegtanzt, sobald sie lebendig gezaubert wurde. Spätestens wenn Totó von seiner toten Ziehmutter Lolota aus der "Cloud" eine weiße Wundertaube ausgeliehen wird, bekommt die Geschichte einen gleichermaßen religiösen wie originellen Dreh: Aus Totó wird für kurze Zeit tatsächlich ein Wundertäter – und seine Gemeinschaft scheint eher an ihren Begehrlichkeiten als an der Macht der Polizei zu zerbrechen: Pelze, Kleider, Millionenmillionenmillionen Lira…

Doch bevor es so weit kommt, gibt es das – ja, was ist das überhaupt: Ein Happy End? Die Verzweiflungstat eines Autors? Eine letzte poesievolle Spinnerei? Egal. Es war einmal ein Stück Land, das keinem gehörte. Das ist lange vorbei.

Das Wunder von Mailand
von Cesare Zavattini, Bearbeitung: Peter Zadek
Inszenierung, Choreografie, Kostüme: Konstanze Lauterbach, Bühne: Ariane Salzbrunn, Musik: Achim Gieseler, Dramaturgie: Dagmar Borrmann.
Mit: Luis Quintana, Bernd Färber, Steffen Schreier, Lev Semonov, Frank Buchwald, Özgur Platte, Ulrich K. Müller, Oliver Breite, Katrin Heller, Klara Eham, Katharina Platz, Linda Kuhn, Anna Jirmanova, Flurin Stocker, Antonio Spatuzzi, Alan González Bravo.
Premiere: 16. Oktober 2021
Dauer:  1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.volkstheater-rostock.de

 

Kommentare  
Wunder v. Mailand, Rostock: Schön
Schön ist es, zwischen den ganzen Dystopien mal wieder ne Utopie zu sehen. Auch wenn es ein Märchen und keine diskursive Modellentwicklung ist. Freude macht es. An der Figurenentwicklung wäre mehr zu investieren gewesen. Aber die Entscheidung für Bilder, Momente, gegeneinander geschnittene Haltungen, dass ist auch eine ästhetisch mögliche Gangart.
Großartig: Katrin Heller.
Wunder v. Mailand, Rostock: wie schön
ich kenne Katrin Heller noch aus der Bremer Theaterzeit.Sie war damals auch schon großartig. Wie schön,das zu lesen.Freude.
Wunder v. Mailand, Rostock: hin und weg
Peter Zadeks Inszenierung „Das wunder von Mailand“ am Berliner Ensemble (BE) von 1993 wurde damals gerade von den ostdeutschen Zuschauerinnen und Zuschauern (aber auch im BE selbst) als blöd abgetan. Das Feuilleton fand die Inszenierung ganz grauenvoll, mochte das Märchenhafte nicht. Ich war einfach nur hin und weg, begeistert vom Wunder an Leichtigkeit, vor allem an Humor. Tja – Peter Zadek war seiner Zeit schon immer weit voraus. Das Wunder von Mailand jetzt nach fast dreißig Jahren auch in Rostock (sic!).
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