Im Lande des WICH

von Dagmar Ellen Fischer

Hamburg, 9. November 2008. Wenn chinesische Opern in fünf Minuten erzählt werden könnten, bräuchte man sie nicht in einer 19-stündigen Originalfassung über die Bühne zu bringen. Oder gerade deshalb? Kevin Rittberger, Autor und Regisseur, tritt den Gegenbeweis beider Standpunkte an: Sein Schauspiel "Fast Tracking oder der Tod der Kunqu-Oper" lässt keinen Zweifel an der Daseinsberechtigung dieser 600 Jahre alten Tradition der chinesischen Kultur und hat doch ein offenes, westliches Ohr für heutiges Zeitempfinden.

Drei Spieler einer Kunqu-Truppe erzählen die Geschichte vom "Päonien Pavillon" in fünf Minuten: Ein schönes junges Mädchen begegnet ihrem Geliebten nur im Traum, im Leben sucht sie ihn vergebens. Bald stirbt sie an gebrochenem Herzen und trifft nach ihrem Tod auf den Richter der Unterwelt. Auf ihn macht ihre Liebe, aber auch ihre Schönheit großen Eindruck, und so erlaubt er ihr, als Geist zurück auf die Erde zu kehren. Der Mädchengeist findet schließlich den geliebten Mann, dieser muss den toten Körper nur noch wiederbeleben, damit die beiden endlich heiraten können. Den Weg zum Happy End versperren jedoch boshafte Menschen, unglückliche Umstände und einige Abenteuer, wodurch sich die Länge von 19 Stunden erklärt.

Passgenau zwischen Vorspeise und Hauptgang

Der "Päonien Pavillon" gilt als bedeutendste Kunqu-Oper, ist in China so bekannt wie bei uns "Romeo und Julia" – aber massiv vom Aussterben bedroht. Und genau da setzt Kevin Rittberger an: Die drei Protagonisten überlegen, ob die Einladung zu einer Kulturindustriemesse für ihre Kunst Zumutung oder Chance bedeutet, soll sie doch dafür auf besagte fünf Minuten gestutzt werden, damit sie sich zwischen Vorspeise und Hauptgang passgenau einfügt.

Bevor die Entscheidung für oder gegen den Auftritt anlässlich des wirtschaftlichen Events fällt, entwickeln die Darsteller eine Alternative: Wie wäre es mit einer Umdeutung der tragenden Figuren? Aus dem schönen jungen Mädchen wird eine chinesische Hure, die sich in einen kanadischen Touristen verliebt; dieser leidet unter einem Trauma, das nach einer Therapie schreit. So mutiert der Richter aus der Unterwelt zum Psychoanalytiker, und dieser soll – quasi originalgetreu – dem Paar zum Glück verhelfen. Doch dann kommt alles anders: Der Therapeut verweigert den Liebenden seine Hilfe mit der Begründung, sich einer höheren Aufgabe als dem individuellen Glück widmen zu müssen. Denn: In seinem China gibt es kein ICH, nur ein WIR. Und im Rahmen seiner Forschungsarbeit macht der Psychotherapeut daraus ein WICH – und sinniert sogleich, welche Verbform das neue Personalpronomen wohl braucht: "Wich muss" oder "wich müssen"?

Das provoziert Lacher im Publikum. Ebenso wie die bis zur Karikatur ausgereizte Mimik des Unterwelt-Pychoanalytikers (Felix Kramer), die lächerliche Figur des kanadischen Freiers (Lukas Holzhausen) und die abgebrühte Hure (Julia Nachtmann), der man "den Schädel rausgefickt" hat.

Sing-Trink-Schlaf-Service

Dabei schlagen gerade diese drei einen direkten Bogen ins heutige China: Beliebt sind dort Prostituierte als "Dreifachmädchen", deren Service mit singen, trinken und schlafen beschrieben wird; Ähnlichkeiten zwischen dem traumatisierten Touristen aus Kanada und jenem Spekulanten Brian Hunter, der Milliarden verzockte, sind nicht rein zufällig; und schließlich spiegelt der eigenwillige Psychotherapeut präzise die Haltung der chinesischen Gesellschaft als durchaus repräsentativen Querschnitt, die da eben lauten könnte: In der chinesischen Kultur gibt es kein ICH.

"Fast Tracking" ist keineswegs eine schnelle Spurensuche, sondern das intelligente Ergebnis gründlichen Grabens. Autor und Regisseur Kevin Rittberger recherchierte im Sommer 2008 einige Wochen lang persönlich in China. Dabei nahm er die Fährte der tradierten Theaterformen auf, interessierte sich aber ebenso dafür, warum die therapeutische Behandlung von Traumata in diesem Staat ein Tabuthema ist. Sein 75 Minuten dauerndes Stück ist über weite Strecken hinweg eine gekonnt spielerische und rasante Episodenreihung, im letzten Teil verliert sie leider an Fahrt, Dichte und Schlüssigkeit. Beeindruckend gleich indes bleibt die Leistung der drei Schauspieler sowie die von Musiker Paulo Olarte, der einen atmosphärisch passenden Klangteppich unterlegt.

Auf der bewährten Zusammenarbeit zwischen Kevin Rittberger und dem Kulturhaus III&70 im vergangenen Jahr aufbauend, verlagerte das Deutsche Schauspielhaus Hamburg seine jüngste Produktion in diese neue "Außenstelle" im Hamburger Schanzenviertel – ein Stadtteil, der sich durch unangepasste Lebendigkeit bzw. politische Radikalität auch überregional Bekanntheit erwarb.


Fast Tracking oder der Tod der Kunqu-Oper
von Kevin Rittberger
Regie: Kevin Rittberger, Bühne: Christoph Ebener, Kostüme: Janina Brinkmann, Musik: Paolo Olarte. Mit: Lukas Holzhausen, Felix Kramer, Julia Nachtmann.

www.schauspielhaus.de

 

Mehr zu theatralen Exkursionen nach China? Lesen Sie unsere Rezensionen zu William Yangs Foto-Dokumentations-Performance China beim Festival Theater der Welt in Halle oder zu Gesine Danckwarts Ping Tan Tales.

 

Kritikenrundschau

Debra Skerra berichtet in der Welt (11.11.2008), dass Kevin Rittberger für seine Produktion über die chinesische Kunqu-Oper letzten Sommer vor Ort recherchiert und dabei einer dieser 19-stündigen Vorstellungen als einziger Zuschauer beigewohnt habe. Entsprechend lasse er das fiktive Ensemble in seinem Stück nach Möglichkeiten suchen, ein Publikum zurückzugewinnen. Durch Kürzung auf fünf Minuten oder Neuinterpretation? "Klug verbindet der Autor ein Tabu wie das der Behandlung von Traumata als Folge der gescheiterten Kulturrevolution mit der 600 Jahre alten Tradition der Kunqu-Oper" und lande im China des 21. Jahrhunderts: "In eben jenen leeren Praxen chinesischer Psychoanalytiker; beim Elend junger Prostituierter; und schließlich beim Global Player Brian Hunter, der zum geilen, wimmernden Touristen mutiert." Das alles sei "schnell und witzig", verliere im letzten Viertel allerdings "die Puste".

Im Hamburger Abendblatt (11.11.2008) notiert asti, dass Kevin Rittberger "Versatzstücke fernöstlicher Kultur und westlicher Unsitte" "auf unverblümt geistreiche Weise" kurzschließe und "Kritik an den unreflektierten Einfluss-Strömen" "aufblitzen" lasse.

 

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