Atemschaukel - Schauspiel Köln
Überleben im Glaskasten
Köln, 23. Oktober 2021. Vom Hunger, der den Verstand zersetzt: 2009 wurde Herta Müller auch für "Atemschaukel" mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Regisseur Bastian Kraft übernimmt in seiner Adaption den Mut zur großen Metapher.
Von Cornelia Fiedler

Überleben im Glaskasten
von Cornelia Fiedler
Köln, 22. Oktober 2021. 1 Club-Mate, 2 Scheiben Brot, in Würfel geschnitten, mit Öl in der Pfanne geröstet, ein Teller aufgewärmte Rote-Beete-Suppe mit Kokosmilch, 1 Päckchen M&M's Peanut vom Kiosk, das ist die Kalorienbilanz dieser Nachtkritik. Also, nein, ich weiß nicht was Hunger ist – ein Privileg, das vermutlich die meisten Menschen im Depot 1 des Schauspiels Köln teilen. Aber genau darum geht es in weiten Teilen der Romanadaption "Atemschaukel", um unendlichen, den Verstand zersetzenden Hunger.
So schlimm, so groß, so überlagernd
Wenn das Wissen so klein ist, helfen nur große Metaphern. Darin scheinen sich Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und Regisseur Bastian Kraft einig. Zwar haben Kraft und seine Dramaturgin Sibylle Dudek die notorischen, teils bizarren Sprachbilder des Arbeitslager-Romans angenehm reduziert. Sie gleichen das allerdings durch die volle, zaunpfahl-winkenden Kraft von Bühnentechnik, Kostüm und Livevideo aus. Als das Ensemble vom "Hungerengel" berichtet, der die Insass:innen quält, kommt es, wie es kommen musste: Schauspieler Nikolaus Benda wird an zwei Seilen in die Höhe gezogen. Er hält den Rand einer milchigen, den kompletten Bühnenboden bedeckenden Plastikfolie um die Schultern geschlungen und beginnt, wild mit seinen riesigen, nun ja, Flügeln zu schlagen. So schlimm, so groß, so alles überlagernd ist also Hunger.
Schöner, weil weniger angestrengt, sind die leisen Momente des Abends: Zum Beispiel, wenn der lockenverstrubbelte Justus Maier als Hauptfigur Leopold, eingeschlossen in einem verspiegelten, aufzugschacht-hohen Glaskasten, der Live-Kamera beichtet, er sei gar nicht erschrocken darüber, dass er ins Arbeitslager müsse: Als 17-jähriger rebellischer Schwuler scheint ihm alles besser als der "Fingerhut der kleinen Stadt, wo alle Steine Augen hatten", selbst die russische Gefangenschaft.
Vom Ertragen des Alltags © Birgit Hupfeld
Leopold wird zusammen mit weiteren Angehörigen der deutschen Minderheit in Rumänien in den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs eher wahllos verhaftet. Sie sollen stellvertretend Wiedergutmachung für die nationalsozialistischen Verbrechen leisten. Der Roman schildert nun weitgehend chronologisch aus der Ich-Perspektive fünf Jahre schwer erträglichen Alltag: Hunger, Kohleschippen, Bauarbeiten, die ersten Toten, Hunger, Überlebensstrategien, Tauschgeschäfte, Hunger, Krankheiten, kurze freundschaftliche Momente, Hunger.
Verstörende Erinnerungen
Zwei Spielerinnen und drei Spieler teilen sich die Rolle des jungen Erzählers und übernehmen bei Bedarf den Text weiterer Charaktere. Neben Benda und Maier sind das Stefko Hanushevsky, Katharina Schmalenberg und Birgit Walter. Nur Martin Reinke bleibt zwei Stunden derselbe: Er spielt den alt gewordenen Leopold, der meist zusammengesunken am Schreibtisch auf sein Leben zurückblickt. Manchmal, wenn verstörende Erinnerungen im Livevideo von Jonathan Kastl über die weiße Bühnenrückwand huschen, geht er ein paar Schritte auf sie zu, so als wolle er sie packen, konfrontieren, für immer vertreiben.
Schatten im Rücken © Birgit Hupfeld
Der enge Glaskasten weckt Erinnerungen an Krafts gefeierte Kafka-Inszenierung Amerika beim "Radikal jung"-Festival 2010. Doch während dort die ganze Welt auf 1x1 Meter Grundfläche reduziert war, ist der verspiegelte Schacht hier umtost von Soundgewitter (Musik: Björn Deigner), hochprofessionellen Videos aus allen Perspektiven, von Schnee, einem toten Schaf sowie symbolisch schwer beladenen Karren und Kühlschränken oder Bürden, die über die Bühne gezerrt, geschoben geschleppt werden.
Ein Brot"gericht"
Die Spieler:innen schildern die Handlung im schnellen Wechsel, deuten sie hier und da spielerisch an. Einmal berichten sie von einem Mann, Karli, der das vom Mund abgesparte Brot eines anderen aufgegessen hat. Der prügelt ihn fast tot, unterstützt durch Leopold. Als er längst am Boden liegt demütigen sie ihn weiter. Wie im Roman adelt der Ich-Erzähler und Mittäter die in blinder Wut entgleiste Strafaktion zum "Brotgericht": Man habe Karli den Diebstahl "nicht vorgehalten" und er habe ihnen die "Strafe" nie vorgeworfen. "Er wusste, er hat sie verdient", heißt es. Hier spricht die Inszenierung eine andere Sprache: Auf einem der weißen Kühlschränke stehend prügelt Hanushevsky besinnungslos mit einem schweren Zopf aus geflochtenen Seilen auf dessen Tür ein, bis diese komplett verbeult ist – Gericht sieht anders aus.
Solche Risse in der glatten, stimmigen Ästhetik des Abends sind selten. Dabei wären das die Momente, die aufhorchen lassen. Meist dominiert der Wille, aus dem eher zähen Stoff großes, formbewusstes, fraglos toll gespieltes Erzähltheater zu zaubern. Irgendwie passt das zu Herta Müller. Irgendwie lässt es eine:n aber auch ähnlich rat- und emotionslos zurück wie der Roman.
Atemschaukel
von Herta Müller, in einer Fassung von Bastian Kraft
Regie: Bastian Kraft, Bühne: Peter Baur, Kostüme: Jelena Miletić, Video: Jonas Link, Live Kamera: Jonathan Kastl, Musik: Björn Deigner, Licht: Michael Gööck, Dramaturgie: Sibylle Dudek.
Mit: Nikolaus Benda, Stefko Hanushevsky, Justus Maier, Martin Reinke, Katharina Schmalenberg, Birgit Walter.
Premiere am 22. Oktober 2021
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspiel.koeln
Kritikenrundschau
"Der Krux, dass Romanadaptionen auf der Bühne oft zu Vorlesestunden oder Aufsagerunden geraten, begegnet Bastian Kraft mit starken Bildern, die bald subtil, bald schlicht, aber ergreifend, bald überwältigend sind", schreibt Axel Hill von der Kölnischen Rundschau (25.10.2021). "Selten sieht man Videos und Filme auf der Theaterbühne so raffiniert, verblüffend und intelligent eingesetzt. Bisweilen möchte man den Ton abstellen können, um sich ungestört den schönen Bildern hinzugeben." Und weiter: "Wenn an diesem herausragenden Abend, der bei seiner Premiere im Depot 1 bejubelt wurde, etwas zu kritisieren wäre, dann vielleicht, dass Leopolds Leben nach dem Lager nur angerissen wird."
"Die Lagererfahrung des 'nackten Lebens' ist eine religiöse, und Müllers Metaphorik rührt dementsprechend ans Biblische. Beinahe könnte man sie kitschig nennen – aber das verrät nur den vollen Magen", schreibt Christian Bos vom Kölner Stadt-Anzeiger (25.10.2021). Bastian Kraft scheue sich jedenfalls nicht, Müllers Metaphern in große Bilder umzusetzen. Doch aus dieser zweistündigen Inszenierung werde trotz ihrer aufwendig gestalteten Bilder doch noch vor allem ein starker Schauspielerabend.
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