Schuld in wütender Form

Nürnberg, 23. Oktober 2021. Regisseur Jan Philipp Gloger fügt drei Stücke von Elfriede Jelinek zu einer großartigen Steigerung zusammen – und findet damit Schichten deutscher Geschichte: "Wolken.Heim." / "Rechnitz (Der Würgeengel)" / "Das schweigende Mädchen".

Von Christian Muggenthaler

Sauna-Stimmung und Wunsch nach Ruhe: Das Ensemble in "Rechnitz (Der Würgeengel)" in der Nürnberger Jelinek-Trilogie © Konrad Fersterer

Schuld in wütender Form

von Christian Muggenthaler

Nürnberg, 22. Oktober 2021. Das kommt immer wieder. Ein zerstörerisches, ruinöses Sodbrennen der Geschichte. Diese ätzende Ursuppe an Nationalismus, angerührt von den Zündelbuben der Romantik, beständig weiterbrodelnd, das Gift darin schön brav unter der Wahrnehmbarkeits-Schwelle: Es schmeckt ja immer nur den anderen bitter. In der Suppe schmurgeln der Rassismus und der Antisemitismus des 19. Jahrhunderts, danach grausig serviert im Tausendjährigen Reich. Stunde Null: Deckel drauf und weiter simmernd bis zum rechten Terror heutigen Tags, von der Strafverfolgung lang und länger und heute noch häufig ungerochen.

Am Staatstheater Nürnberg wird jetzt diesen verhängnisvollen Kontinuitätslinien nachgespürt: Schauspielchef Jan Philipp Gloger hat dort eine mosaikartige Elfriede Jelinek-Trilogie zusammengefügt, mit der er sein Publikum äußerst grantig in das Ruinöse dieser Geschichtstraditionen tunkt.

Irrsinn an Tatorten

"Wolken.Heim.", "Rechnitz (Der Würgeengel)" und "Das schweigende Mädchen" ergeben zusammen eine dreistufige Zündung sich steigernder Wut darüber, dass das eben halt immer wieder kommt. Der in diesem Grimm gründende, durch und durch engagierte Abend ist Teil der bundesweiten Theateraktion "Kein Schlussstrich", ein Gegennetzwerk deutscher Theater, das die Erinnerung an die NSU-Morde wachhalten soll. In Nürnberg werden dazu jetzt in dem dreieinhalbstündigen Jelinek-Mosaik die Traditionslinien kenntlich gemacht, die den Rechtsterrorismus der Gegenwart anfachen und begünstigen.

Wolken.Heim 2 560 c Konrad Fersterer Ermitteln, verwischen, verzweifeln: In der von Beate Zschäpe angezündeten Wohnung im Teil "Das schweigende Mädchen" © Konrad Fersterer

Die Trilogie endet in der Erkenntnis, dass Gegenwart und Geschichte nicht zu trennen sind und die Gefahr rechter Attacken immer schon darin lag, dass sie behördlicherseits ums Verrecken nicht wahrgenommen werden wollen. Weil die Opfer immer die anderen sind. Was geht das uns an?

Das Wir wider das Ihr: Im ersten Teil "Wolken.Heim." hat Bühnenbildnerin Marie Roth ein heimeliges Familienhausdach gebaut, aus dessen Kamin es kuschlig raucht; droben aber tut sich Seltsames. Gestalten aus der Geschichte zieren das Dach wie ein Tempelfries. Die wild wuchernde Arbeit der Kostümbildnerinnen Franziska Bornkamm und Anna Lechner zeigt sich hier schon, die Gestalten reichen vom Wagner-Wahnfried-Wotan bis zum drögen Radrennfahrer.

Bitte nicht stören

Zusammen stopfen diese Hausdach-Lemuren die Autorin-Wiedergängerin, der Übles schwant, in den Kamin und schreien sich ihre Heimatgefühle durch ein Ausschlussverfahren zurecht: Wir ja, ihr nein. Gleich danach gibt's in "Rechnitz (Der Würgeengel)" Schicht um Schicht einen Bericht über den Mord an 180 Zwangsarbeitern am Ende des Zweiten Weltkriegs, damals offenbar eine Art Party-Höhepunkt. Da löst ein Monolog den anderen ab, grandios gesprochen und gespielt jeder einzelne, all dies geschieht in jener hechelnden Dynamik, die in der Drangsal des grotesken Geschehens gründet.

Und in einer Art Sauna-Raum endet, der von dem großgeschriebenen Wort RUHE dominiert wird: Bitte nicht stören. Die Logik einer Geschichtsbewältigung, die immer in den Großbuchstaben feierlich konstatierter Schuld daherkommt, und zwar immer in der Vergangenheitsform. Die hat Gloger bis zur Pause ausformuliert, und dann geht's erst richtig los.

Komödiantisch und zornig

Denn jetzt kommt "Das schweigende Mädchen" dran, und jetzt wird auf die Bühne der ganze Irrsinn und die ganze Absurdität der lange ungeklärten Mordserien-Ermittlungen ausgebreitet, von den Medienspekulationen über das Verdächtigen der Opfer-Familien bis zum NSU-Gerichtsverfahren unter Ausschluss des möglicherweise dahinter liegenden Netzwerks.

Das alles geschieht oft erstaunlich komödiantisch, weil man's anders eh nicht mehr zu fassen kriegt. Es lacht, wer nicht verzweifeln will. Die Bühne wird zur Ruine der von Beate Zschäpe angezündeten Wohnung – und das ohnehin die ganze Zeit schon maximal werkelnde Ensemble zündet jetzt die dritte Stufe. Die Wucht der Inszenierung vermittelt sich in jeder einzelnen Minute jeder einzelnen Figur. Zwischendrin, in Tatort-Videos (von Martin Fürbringer) und zuletzt im Nennen der Namen von Opfern rechten Terrors der Gegenwart, kommt die Inszenierung dort an, wo sie hinwollte: im Kenntlichmachen.

Wolken.Heim 3 560 c Konrad Fersterer Julia Bartolome im Bühnenbild von Marie Roth © Konrad Fersterer

Das Schlussbild baut zuletzt alle Bühnenbilder zusammen, Dach oben, Ruheraum unten, Brennkammer dazwischen, und die Inszenierung geht in diesem Bild vollkommen logisch und präzise auf. Gloger hat Schichten und Traditionslinien deutscher Geschichte aufeinander gebaut. Das eine erklärt sich nicht ohne das andere, und so ganz allmählich müsste man's eigentlich wissen.

Gloger nutzt dazu die Texte von Elfriede Jelinek, die von eben solchem Zorn getrieben sind wie seine Inszenierung. Er nutzt die Textflächen wie Bruchsteine zum Errichten einer rauchenden Geschichtsruine. Bühnenbilder und Text-Bausteine ergeben ein Mosaik deutscher Befindlichkeit, die Spieler*innen messen darin alle Spielarten gedanklicher und zerstörerischer Grenzüberschreitungen einst und heute voll Verve aus. Ein Abend wie eine Schluckimpfung gegen die Ursuppe.

Wolken.Heim. / Rechnitz (Der Würgeengel) / Das schweigende Mädchen
von Elfriede Jelinek
Regie: Jan Philipp Gloger, Bühne: Marie Roth, Kostüme: Franziska Bornkamm, Anna Lechner, Musik: Kostia Rapoport, Video: Martin Fürbringer, Dramaturgie: Brigitte Ostermann, Licht: Tobias Krauß.
Mit: Aydın Aydın, Julia Bartolome, Tjark Bernau, Annette Büschelberger, Amadeus Köhli, Lisa Mies, Maximilian Pulst, Sascha Tuxhorn.
Premiere am 22. Oktober 2021
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-nuernberg.de

 

Kritikenrundschau

"Schon die ersten Szenen beweisen, wie leicht und spielerisch Gloger mit dem Textgeflecht der Jelinek-Vorlagen umgehen kann, wie sinnvoll er Rollen schafft und Dialoge, wo im Original gar keine sind", schreibt Wolf Ebersberger in den Nürnberger Nachrichten (25.10.2021). "Rechnitz (Der Würgeengel)" komme es zu den stärksten Momenten, "aus dem Botenbericht als theatrales Mittel wird das emsige Gelaufe von Dienstboten vor dem Roten Vorhang, die dieParty, die dahinter stattfindet, bewirten". Der Abend neige leider auch zu Überdeutlichkeit. Muss man den realen Ort als Video einblenden, samt Originalton
der Bewohner? "Gloger hat viel gekürzt, aber nicht genug. Dennoch: Drei Stücke in drei Stunden, die nachhallen. Großer Beifall."

Florian Welle von der Süddeutschen Zeitung (9.11.2021) diskutiert den Jelinek-Abend im Kontext des "Kein Schlussstrich"-Projekts zur NSU-Mordserie. Gemeinsam mit der Ausstatterin Marie Roth habe Jan Philipp Gloger "für seine Inszenierung ein Bühnenbild ersonnen, in dem am Ende alle Teile der Trilogie wie Puzzlestücke ineinandergreifen", heißt es in der Kritik. "Das starke Nürnberger Ensemble erzählt als Dienstboten verkleidet in nonchalantem Plauderton von den Geschehnissen. Man serviert "Schlachtplatte" zur Vorbereitung auf "die Schlacht" – Jelineks kalauernde Sprachkunst, bei der einem oft das Lachen im Hals stecken bleibt, läuft zur Hochform auf."

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