"Vergesst uns nicht"

Jena, 29. Oktober 2021. In 15 vom Terror des NSU betroffenen Städten kommen dieser Tage unter dem Motto "Kein Schlussstrich!" Projekte und Inszenierungen heraus. Die Jenaer Philharmonie bringt Marc Sinans Oratorium "Manifest(o)" zur Uraufführung, mit einem Libretto von Holger Kuhle. Hier stehen die Opfer der Verbrechen im Vordergrund.

Von Georg Kasch

"Manifest(o)" in Jena © Candy Welz

"Vergesst uns nicht"

von Georg Kasch

Jena, 28. Oktober 2021. Schon wieder NSU? Gab es zur Terrorgruppe und ihren Taten nicht schon unzählige Stücke, Abende, Projekte? Kamen nicht auch die Opfer schon zu Wort, in den NSU-Monologen ebenso wie in Semiya Şimşeks Schmerzliche Heimat?

Ja, schon wieder NSU. Zum Glück! Denn einen Schlussstrich kann und darf es nicht geben, solange die Ungereimtheiten (etwa die Anwesenheit eines Verfassungsschutz-Mannes an einem der Tatorte, die nie verurteilten Hintermänner, der Rassismus bei den Ermittlungen) nicht aufgeklärt wurden. "Kein Schlussstrich!", der übergreifende Titel des Mammutprojekts, das alle 15 durch die NSU-Morde verbundenen Städte beteiligt, stemmt sich gegen das Vergessen in all seiner Maßlosigkeit. Es gibt Arbeiten wie Jan Philipp Glogers Jelinek-Trilogie Wolken.Heim. / Rechnitz (Der Würgeengel) / Das schweigende Mädchen in Nürnberg oder Christine Umpfenbachs Urteile (Revisited) in München, andere wie Nuran David Çalış' "Die Lücke 2.0" in Köln und Ödön von Hórvaths "Sladek" am Theaterhaus Jena folgen noch. Es gibt Diskursformate, Audiowalks, Konzerte, dazu die Wanderausstellung "Offener Prozess", die gerade am Maxim Gorki Theater in Berlin zu sehen ist.

Sog der Worte

Und es gibt das zentrale Oratorium "Manifest(o)", uraufgeführt von der Jenaer Philharmonie im Volkshaus Jena, einem prachtvoll restaurierten Jugendstil-Juwel. Holger Kuhla hat sein Libretto "mit und nach Gedanken, Worten, Texten von" Hannah Ahrendt, Aleida Assmann, James Baldwin, Christine Brückner und gut 30 Autor:innen mehr zusammengestellt, darunter auch Angehörige der Opfer wie İsmail Yozgat und Abdul Kerim Şimşek. Poesie entfaltet der Text selten, zu deutlich will er Botschaft transportieren. Aber insbesondere den von den Kindern Fanny Sel Baute und Naz Yilmaz eingesprochenen Passagen, die die (fiktive) Sicht der Opfer schildern, kann man sich nicht entziehen.

28.10.21, Jena: Uraufführung des Oratoriums »Manifest(O)« von Komponist Marc Sinan im Volkshaus Jena. Foto: Candy Welz28. Oktober 2021, Jena: Uraufführung des Oratoriums »Manifest(O)« von Komponist Marc Sinan im Volkshaus Jena. © Candy Welz

Und erst die Komposition! Marc Sinan, der zwischen Zeitgenössischer und Weltmusik einen eigenen Sound entwickelt hat, fährt hier alles auf, was Neue Musik so zu bieten hat. Aus einem atmenden Urklang von Kontrabässen, Tubas und Klavieren erwächst eine brüllende Kakophonie, in der sich der Schmerz der Opfer ballt. Man fragt sich ja schon, ob Musik heute noch in der Lage ist, so etwas Unfassbares wie die NSU-Morde und ihre Folgen abzubilden – zu abstrakt sind oft die Mittel oder, noch schlimmer, zu seifig neoromantisch. Sinan hält seine sieben Teile, das große Orchester, all die Solisten und Chöre, die filigranen Kantilenen und das gewaltige Brausen durch Rhythmen zusammen, deren Drängen für das Anliegen – den Opfern eine Stimme zu geben, nicht den Tätern – eine zunehmend zwingende Form findet.

Technisch hochkomplex

Das Besondere: In jeden der sieben Teile ist eine Begegnung mit Performer:innen an einem anderen von den NSU-Morden betroffenen Ort eingefügt. Dort laufen die Aufführungen ebenfalls abendfüllend – und werden je nur für einige Minuten live ins Jenaer Konzert übertragen. Oğuz Büyükberber lässt auf einem Platz in Heilbronn seine Klarinette erst aufgellen, um sie dann ausstolpern, ausatmen zu lassen. In Rostock peitschen die Perkussionisten Daniel Eichholz und Christian Kuzio mit Jugendlichen zusammen auf Pauken, aber auch auf Mistgabeln, Tonnen, Bremsscheiben. Dagegen wirkt der Blick nach München, wo Schauspielerin Mateja Meded zu E-Gitarrenriffs am "Altar der Rache" um eine Feuerschale tanzt, etwas kraftlos.

Das wiederum könnte am Timing dieser Zuspielungen liegen, das nicht immer aufzugehen scheint. Technisch ist die Sache hochkomplex. Dirigent Simon Gaudenz am Pult der Jenaer Philharmoniker wirkt mit seinem ruhigen Schlag wie ein Zeitdompteur.

"Sagt meinen Namen!"

Auch vor Ort hat er beeindruckende Klangmassen zusammenzuhalten. Hier wirken auch die wenigen szenischen Elemente viel unmittelbarer, etwa wenn die Chor-Sänger:innen und Orchestermusiker:innen sich mit der Hand übers Gesicht fahren und dabei stimmhaft ausatmen – eine Trauergeste. Wenn sie den Rhythmus mitstampfen. Oder wenn die Solist:innen den Text von alttestamentarischer Unerbittlicheit mehr gellen als singen. Selbst das Wort Vergebung, von einem Chor in der Kölner Keupstraße gesungen und zugespielt, zerbricht zunächst in seine Einzelteile, als könne es nicht die Last der Verbrechen tragen. Flüsternd fordern die Chorstimmen: "Vergesst uns nicht. Sagt meinen Namen."

Mit ihren Namen endet das Oratorium. Die der Menschen, die zum NSU-Trio erklärt wurden, kennt so ziemlich jede:r. Aber was ist mit den Ermordeten? Wir sollten sie nennen können: Abdurrahim Özüdoğru, Enver Şimşek, Habil Kılıç, Halit Yozgat, İsmail Yaşar, Mehmet Kubaşık, Mehmet Turgut, Michèle Kiesewetter, Süleyman Taşköprü, Theodoros Boulgarides.

 

MANİFEST(O) – Ein polytopisches Oratorium (Uraufführung)
von Marc Sinan
Komposition und künstlerische Leitung: Marc Sinan, Libretto und Dramaturgie: Holger Kuhla, Musikalische Leitung: Simon Gaudenz.
Mit: Iva Bittová, Andreas Fischer, Katia Guedes, Johanna Krödel, Johanna Vargas, Jenaer Philharmonie, AuditivVokal Dresden und Knabenchor der Jenaer Philharmonie.
Zuschaltungen aus Kassel, Hamburg, Rostock, München, Heilbronn, Nürnberg und Köln
Premiere am 28. Oktober 2021
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

https://www.jenaer-philharmonie.de/
https://www.volkshaus-jena.de
https://kein-schlussstrich.de

 

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Kritikenrundschau

In der Thüringer Allgemeinen (30.10.2021) schreibt Dietmar Ebert über die Aufführung im Jenaer Volkshaus: Der Komponist habe die siebenteilige Oratorienform genutzt, "um den Opfern des NSU, den Getöteten wie den Überlebenden, eine Stimme zu geben". Das gelinge vor allem durch die "anrührenden Kinderstimmen der beiden Erzählerinnen Fanny Sel Baute und Naz Yilmaz". Im dritten Teil erfahre das Werk eine "enorme Steigerung" durch die Solistinnen, den Chor und die eingespielte Percussionsperformance. Im Abschnitt "Gleißendes Licht" werde "durch die Stimmen der Erzählerinnen, der Solistinnen, des Ensembles Auditiv-Vokal, des Knabenchors und das aus Nürnberg übertragene Spiel des Pianisten Emre Elivar zum Ausdruck gebracht", wie schwer es sei, die "Rachegefühle zu bändigen, solange den Opfern keine Gerechtigkeit zuteil wird". Eine "musikdramaturgische Straffung" stünde dem Oratorium gut an, dennoch sei es "allen Musikfreunden" wärmstens empfohlen.

 

 

 

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