Im Bann der Männerrituale

Hamburg, 31. Oktober 2021. Michael Thalheimer möchte keine klassischen Rollenklischees reproduzieren und besetzt Schillers "Räuber" mit einer Frauenbande. Ob er dem Klischee entkommt?

Von Katrin Ullmann

Beim Mörder der Herzen: Amalia (Lisa-Maria Sommerfeld) mit Moors intrigantem Sohn Franz (Merlin Sandmeyer) © Armin Smailovic

Im Bann der Männerrituale

von Katrin Ullmann

Hamburg, 30. Oktober 2021. Als er seinen Monolog, als er seine Klagen über die Ungerechtigkeit der Natur beendet. Als er, Franz von Moor (Merlin Sandmeyer), der hässlichere Bruder, der nur Zweitgeborene, schließlich nach seinem Vater ruft, um mit seiner Intrige zu beginnen, geht dieser schnell und wort- und grußlos an ihm vorbei. Entschlossen stellt sich Graf von Moor, gespielt von Victoria von Trauttmansdorff, dann ganz vorn an die Rampe, ist ein kleiner, kantiger und präsenter Mensch im Schatten.

Intrigant im Lichtkegel

Franz hingegen steht mitten im Licht. Wie ausgespuckt aus einem riesigen Zylinder (Bühne: Olaf Altmann), der sich zu Stückbeginn vom Boden hebt und ihn freilegt wie ein zappelndes Insekt. Wie aus einer riesigen Taschenlampe strahlt das Scheinwerferlicht dort heraus auf ihn. Und Franz von Moor steht im Lichtkegel wie gefangen und gebannt. Seine Füße scheinen unbeweglich. Seine Schultern hat er hochgezogen, sein Oberkörper ist fast bucklig und nach vorn geneigt. Und wenn Merlin Sandmeyer zu Beginn dieser "Räuber"-Inszenierung über seine Hässlichkeit klagt, über seine "Hottentottenaugen" und seine "Lappländersnase", wenn er unzufrieden zuckt und laut erregt aufbegehrt, dann denkt man schnell an Richard III., an dessen Missgestalt, an dessen Gier nach Macht und (Bruder)mord.

Ähnlich und doch anders fies ist dieser Franz von Moor. Sandmeyer spielt ihn unberechenbar changierend zwischen Anklage und Verletztheit, zwischen Täter und Opfer. Mal wirkt er wie ein geprügelter Hund, mal wie ein listiger Spielemacher. Doch immerzu scheint er wie gefangen im Licht, während sein Stück-Bruder Karl tanzen und mit seiner Bande durch die Wälder streifen darf.

Lisa Hagmeister spielt am Hamburger Thalia Theater diesen Räuberhauptmann. Mit großen, selbstsicheren Gesten tritt sie auf, bald wird ein dröhnendes "Summertime" in der Version von Janis Joplin ihre Auftritte begleiten und ihre – natürlich – durchweg weibliche Räuberinnenbande. "Ich möchte nicht mehr im klassischen Rollenklischee denken", begründet der Regisseur Michael Thalheimer seine Besetzungsentscheidung im Programmheft. Und mit Männern könne er sich dieses Stück heute nicht vorstellen. Da lande man möglicherweise zu schnell bei Querdenkern und Kollegen.

Testosteron-Szenen

Ja, auch Frauen können Täterinnen sein. Klar. Und doch wirkt diese Besetzung merkwürdig unentschieden und an vielen Textstellen unscharf. Sicherlich, Cathérine Seifert spielt ihren Spiegelberg mit unglaublicher Wucht, mit blutdurstiger Energie und doch irritiert es, wenn sie und die anderen Spielerinnen zur Bandengründung Testosteron-lastige Männerrituale imitieren, sich Bierdosen zuwerfen und mit deren Inhalt überschütten. Wenn sie breitbeinig zwischen den Säulen lungern, brüllen wie die Stiere und später blutüberströmt von der letzten gemeinsamen Massenvergewaltigung erzählen.

Raeuber 1 ArminSmailovic uRäuberinnen-Bande: Sandra Flubacher, Cathérine Seifert und Rosa Thormeyer © Armin Smailovic

Da geht einiges zu unkommentiert durch und stehen viele dieser monströsen, drastischen Räuber-Szenen in merkwürdiger Schieflage zu den eher psychologisch gearbeiteten Begegnungen im Moor'schen Schloss: sei es zwischen Franz und der unschlüssig x-beinig herumstehenden Lisa-Maria Sommerfeld als Amalia oder der mal rührig-mütterlichen, mal sich slapstickhaft dauerräuspernden Karin Neuhäuser als Hausknecht David bzw. als Edelmann Hermann.

Springerstiefel, Kunstblut und Pistolen

So richtig klar wird an diesen Abend nicht, was Thalheimer an dem Stoff nun interessiert. Zwischen Komplexen und Kontrollverlust, Blutrausch und Wahnsinn, Grotesken und Lügen, Briefen und Kindsmorden lassen sich natürlich wuchtige Bilder bauen – Springerstiefel, Kunstblut und Pistolen inklusive –, doch richtig nahe kommt einem der Abend nicht.

Am Ende fallen viele Schüsse, liegt die Bühne voller Leichen. Nur Vater Moor ist schon wieder in Bewegung. "Der alte Moor, ein allzu schwacher nachgebender Vater, Verzärteler und Stifter vom Verderben und Elend seiner Kinder", stand im Theaterzettel zur Mannheimer "Räuber"-Uraufführung am 13. Januar 1782. Der alte Moor: Auslöser und Ursache, Anfang und Ende? Entschlossen stellt sich er sich dann ganz vorn an die Rampe, ist ein kleiner, kantiger und präsenter Mensch im Licht.

 

Die Räuber
von Friedrich Schiller
Regie: Michael Thalheimer, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Nehle Balkhausen, Dramaturgie: Emilia Linda Heinrich, Musik: Bert Wrede, Licht: Paulus Vogt.
Mit: Victoria Trauttmansdorff, Lisa Hagmeister, Merlin Sandmeyer, Lisa-Maria Sommerfeld, Cathérine Seifert, Sandra Flubacher, Meryem Öz, Rosa Thormeyer, Karin Neuhäuser.
Premiere am 30. Oktober 2021
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

"Regisseur Michael Thalheimer lädt den kruden Erstling Schillers gewaltig auf: Gitarren jaulen, da wird geschrien, gejammert – es ist schon ein Elend mit den ungeliebten Kindern. Diese aufgepumpte Inszenierung findet nur mühsam in die Spur", berichtet Peter Helling für den NDR (31.10.2021). "Leider buchstabiert Thalheimer die Handlung relativ werktreu nach, anstatt etwas Neues zu erzählen." Die weiblichen Rollenbesetzungen würden "nicht wirklich genutzt".

"Ist der Welt etwas gewonnen, wenn die Frauen sich endlich genauso schlecht benehmen wie die Männer?", fragt Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (1.11.2021). Nach zehn Jahren Regieabstinenz inszeniere Thalheimer "eine Behauptung von Gerechtigkeit, die eigentlich nur aussagt, dass auch alles beim Alten bleiben kann". Franz Moor sei von Beginn an "eine durchsichtige Karikatur", so wie Amalia, die als Figur "im 18. Jahrhundert ein Vorbild an emanzipiertem Auftreten" gewesen sei und hier zurückgestuft werde zur "Göre in Puppenkleidern". Ebenso grobe Klischees: die Räuber, "die hier im Gefolge von Frau Karl die Machtgefühle des Blutrauschs erleben". Für Briegleb "das Schlimmste an diesem Versuch, Frauenemanzipation aus der Männerperspektive zu erzählen"? Die Langeweile. Einen radikalen Zugriff versprechend, erzähle Thalheimer "eine Handlungszusammenfassung des Stücks, bei der Frauen Männer spielen, und zwar als Männer", so Briegleb. "Kann man nur hoffen, dass sie dafür wenigstens genauso gut bezahlt werden wie ihre Kollegen."

"Ein ausnahmslos glänzendes Ensemble", das sich in den Dienst der Aufführung, des Textes und der Rollen stellt, hat Maike Schiller im Hamburger Abendblatt (1.11.2021) gesehen. "Wie Lisa Hagemeister das [den Karl Moor] spielt, das Zerrissene, Zerbrochene, schließlich emotional radikal vernichtete, ist von einer enormen Vehemenz und zugleich von einer zarten Durchlässigkeit." Für comic relief sorge Karin Neuhäuser, "die noch aus dem Überbringen einer Todesnachricht eine räusperreiche Solonummer macht". Und nicht nur Cathérine Seifert gebe ihren Räuber, den Spiegelberg, kraftvoll, "mit unheilvoller Wucht". Thalheimers Inszenierung finde neben der Werktreue fast beiläufig auch zu Überwältigungsbildern. Zum Vorabend von Halloween passe "der ganze Horror", aber "der Thalia-Jahresvorrat an Kunstblut dürfte nach diesen Orgien weitgehend geplündert sein".

"Es siegt auch hier – dieses eine Mal noch – das Patriarchat“, schreibt Peter Kümmel in der Zeit (4.11.2021). "Es siegt konkret der Manierismus über das Ensemble.“ Dafür sei vor allem das oberste Stilmittel des Regisseurs verantwortlich, "die Thalheimer-Mauerschau. Die Spielerinnen starren an die immergleiche, von Zornesblicken schon ganz ausgebleichte Thalheimer-Mauer, die hinter dem Publikum sich wohl erheben muss – denn dorthin, über unsere Köpfe hinweg, haben Thalheimers Figuren immer schon gestarrt, wenn sie sprachen, und dorthin starren sie auch heute“, so Kümmel. "Man kann sagen: Thalheimer kommt unverändert aus der Corona-Pause.“

 

Kommentare  
Die Räuber, Hamburg: grausig
Grausige Aufführung.
Keine einzige beziehung zwischen den Figuren.
„Die Karl“ manieriert wie immer.
Franz dröhnend , nach 5 Minuten langweilig.
Einzig Frau Neuhäuser stellt die Figuren hin und erntet am Schluss begeisterten Applaus-zu recht.

KRAMPF UND DAMPF!
Die Räuber, Hamburg: Schade
Leider habe ich gestern vor der Vorstellung das verunglückte Interview mit dem Regisseur gelesen, sicherlich auch deswegen, weil in allen Kritiken darauf Bezug genommen wurde. Dadurch wurde meine Wahrnehmung der Inszenierung beeinflusst und das leider nicht zum Guten. Für mich zeigte es eine ganz große Unsicherheit, ja fast Hilflosigkeit im Umgang mit dem Stück aber auch mit der Begründung besagter Rollenbesetzung. Ich hätte dieses Interview nicht gebraucht.
Ich habe in der Vergangenheit die Regie Thalheimers immer besonders dann zu schätzen gewusst, wenn er irgendwann plötzlich seine krasse Wirkungsmechanik durchbrochen hat, indem sich zum Beispiel die Figuren ganz direkt begegnen durften und mit/gegeneinander gespielt haben. Das ist in den Räubern so gut wie nicht der Fall.
Nicht gelungen, da krass klischeehaft, fand ich ebenfalls die Kostüme, vor allem die Amalias und Franz'. Schade, irgendwie hat das Zusammenspiel in dieser Produktion so gar nicht funktioniert.
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