Verschmitze Polkologie

7. November 2021. Sigmar Polke wäre im Februar 80 Jahre alt geworden, dem höhere Wesen einst befahlen, die obere Ecke eines Bildes schwarz zu malen - wie eine berühmte Bildunterschrift besagt. Über Polke und seine Kunst hat Gerhard Meister ein Stück geschrieben, das Bérenice Hebenstreit uraufgeführt hat.

Von Andreas Klaeui

Hut, Filz, Fett? Beuys! Perücke? Monroe! Tomatensuppe? Warhol! ... © Anja Köhler

7. November 2021. Die Punkte! Das wär’s doch gewesen. Kurz bevor das Stück aus ist, hat eine der Figuren die zündende Idee. In den Millionen Punkten, die er gemalt hat, demütig wie ein Mönch - darin hätte womöglich der Schlüssel zum Werk von Sigmar Polke gelegen, sie hatten es die ganze Zeit unmittelbar vor Augen. Natürlich ist es nur eine letzte Finte, abermals ein untauglicher Versuch, den Künstler zu fassen, der ihnen entgleitet wie eine nasse Kartoffel.

Wie die Kartoffeln, mit denen sie auf der Bühne experimentieren, die sie in Wasserbehältnisse eintauchen und keimen lassen und dann im Tageslichtprojektor vergrößern. Und natürlich wie die berühmte Kartoffel, die in Polkes "Apparat, mit dem eine Kartoffel eine andere umkreisen kann" von 1969 eben das tut, eine zweite umkreist. Wie die Planeten die Sonne umkreisen, oder als germanischstes aller Gewächse… aber da fängt‘s schon an.

Zitieren, umkreisen, katalogisieren

Im vergangenen Februar wäre Sigmar Polke 80 geworden, das nahm Stephanie Gräve vom Vorarlberger Landestheater zum Anlass, dem Schweizer Autor Gerhard Meister den Stückauftrag zu geben, über Polke "zu reden", wie jetzt sein Titel verspricht. In einem sanft impressionistischen Zitieren, Umkreisen, Auflisten und Katalogisieren tut er das. Polke verbindet manches mit der Schweiz, in erster Linie die Kirchenfenster im Zürcher Großmünster, die er 2009 kurz vor seinem Krebstod noch erstellte. Sie werden ebenso gestreift in dieser Causerie wie der mittelalterliche Mönch, der die illuminierte Vorlage dazu lieferte.

Meisters Streifzug umkreist die Kartoffelkunde wie die Meteorenentstehung, er collagiert Kunstkritikerpoesie und zitiert Bice Curigers kalauernde "Polkologie" und "Polklore". Figuren aus Polkes Werken nehmen Gestalt an und treten auf wie, sehr niedlich, die Höheren Wesen, die ihm gemäß einer famosen Bildüberschrift 1969 befahlen, die rechte obere Ecke eines Gemäldes schwarz zu malen – und da, beim ironischen Abwägen und Aufheben der unterschiedlichsten Interpretationsansätze, wird dann auch so was wie die Position des Autors Gerhard Meister greifbar, nämlich dass Polke einfach nicht zu fassen ist.

Der Wert von Scheiße

Gleichwohl ist dem Abend durchgehend das Bemühen anzumerken, ihm nicht nur in seinem sardonischen Lachen zu folgen, sondern auch vermittelnd gerecht zu werden, was zu einer ungeheuren Willensanstrengung, Wissenstransferleistung und gleichzeitigen Verzagtheit in der Anmutung führt. Nicht, dass Meister keine Stimme hätte, oder keinen Humor. Im Gegenteil. Es gibt Assoziationen über den Wert von Scheiße in der bildenden Kunst (Manzoni, in Dosen zum aktuellen Goldpreis und heute noch viel höher) und demgegenüber auf dem Theater (null) – kleiner Seitenblick nach Hamburg eingeschlossen: "Für Scheißtheater zahlt niemand Eintritt".

redenueberpolke 3 c anja koehlerWäre Polke Polke, wenn er Richter hieße?  © Anja Köhler

Es gibt persönlich eingefärbte Überlegungen zu Kunst und Kunstmarkt und der Ausblendung des Geldes in der bürgerlichen Kunstbetrachtung ("Öffnen wir unsere Augen für die Geldaura"), Vergleiche über den Marktwert eines Polke-Gemäldes und den einer Theateraufführung (wobei verschärfend anzumerken wäre, dass ein Polke heute auf Auktionen eher zwei Millionen einbringt als die verhandelten 200 000). Es gibt ein sehr erhellendes Kunstquiz: "Hut, Filz, Fett, wer ist das? Beuys. Perücke, Monroe, Tomatensuppe. Warhol. Kornfeld, Krähen, Ohr." Klar – und ebenso schlagend klar: Bei Polke taugt die Reduktion auf drei Stichworte nicht.

Performatives Fleisch an diskursiven Knochen

Es gibt sehr verspielte Erwägungen zum Namen "Polke" und seiner inhärenten, womöglich lebens- und kunstfixierenden Komik ("Wäre Polke Polke, wenn er Richter hieße?") und so weiter. Übers Ganze bleiben diese verschmitzten Polke-Variationen aber mehr Plaudern über Polke als wirklich "Wir reden". Sie wirken insofern etwas brav, mehr freundlich ergebene Annäherung an das große Œuvre als Auseinandersetzung damit oder gar so was wie ein Gespräch der Kunstformen.

Regisseurin Bérénice Hebenstreit und die phantasievollen Spieler:innen bringen viel performatives Fleisch an den diskursiven Knochen, illustrieren biografische Episoden mit szenischen Improvisationen, fantasieren musikalisch über die Werktitel, reflektieren charmant die Bühnensituation. Und verführen einen dazu, sich mal wieder intensiver mit Polke und seinem Werk zu befassen – und das ist doch schon mal nicht wenig.

Wir reden über Polke, das sieht man doch!
von Gerhard Meister
Uraufführung
Regie: Bérénice Hebenstreit, Bühne und Kostüm: Mira König, Musik; Gilbert Handler, Dramaturgie: Ralph Blase.
Mit: Vivienne Causemann, Gilbert Handler, Luzian Hirzel, Johanna Köster, Nico Raschner, Jürgen Sarkiss, Sebastian Schulze.
Premiere am 6. November 2021
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

landestheater.org

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