Warten, dass der Sturm vorüber geht

8. November 2021. Ändert sich die Welt, muss man sich neu erfinden: Beeindruckt von der Kreativität und Innovationskraft, die Theatermacher:innen während der Pandemie an den Tag legten, aber auch von ihrer politischen Widerständigkeit ist Sukanya Sompiboon. Die Autorin, selbst Schauspielerin und Regisseurin, schickt einen Theaterbrief aus Thailand.

Von Sukanya Sompiboon

Gefilmtes Theater: "Ubasute Sound" © Cr. Prapassorn Chansatitporn

8. November 2021. "Kann das Theater ohne Live-Performance lebendig bleiben?", fragte man sich in Thailand, als die Spielstätten geschlossen wurden. "Wenn wir, Darsteller.innen und Zuschauer:innen, nicht im selben Raum atmen und interagieren können, was bleibt dann vom Wesen des Theaters?" Die Antworten auf diese Fragen mögen unterschiedlich ausgefallen sein, aber die Initiative, Anpassungsbereitschaft und der Innovationswille der Theater-Künstler:innen waren in diesen schwierigen Zeiten unerlässlich.

The show must go on(line)

Nachdem die thailändische Regierung im März 2020 den Lockdown angekündigt hatte, wurden, wie überall, die Dreharbeiten für Live-Theater als auch für Filme und Fernsehspiele ausgesetzt, verschoben oder abgesagt. Das neue Ökosystem des Online-Streamings wurde zum Lebensretter: Die Theater griffen auf die Technologie zurück, um ihr Publikum bei der Stange zu halten. Einem Beitrag auf der News-Plattform thestandard.co vom 27. September 2020 zufolge wurden in den fünf Monaten von März bis Juli 2020 51 gefilmte und aufgezeichnete thailändische Theaterstücke über Facebook, YouTube, Vimeo und AIS Play gestreamt – nur 14 Prozent davon waren kostenpflichtig. Der durchschnittliche Ticketpreis liegt bei 198 Baht, was im Vergleich zu den üblichen Theaterkartenpreisen zwischen 200 und 6.000 Baht sehr günstig ist. Dieser niedrigere Preis dürfte für die meisten Zuschauer:innen erschwinglich sein. Dennoch veröffentlichten viele Theatergruppen ihre Produktionen auf virtuellen Plattformen, so dass das Publikum sie zu Beginn der Pandemie kostenlos von zu Hause aus sehen konnte.

Digitale Technologien spielten auch im Bildungsbereich eine entscheidende Rolle. Viele Universitäten, die Kurse in darstellenden Künsten und Theaterwissenschaften anbieten, mussten ihre Unterrichtsmethoden und die Bewertung der Kurse anpassen. Um eine Note zu erhalten, wurde von den Studierenden ein vollständiges Skript und ein detaillierter Produktionsplan verlangt, die die Live-Aufführungen ersetzten. Gefilmtes Theater war ebenfalls eine Alternative. In Schauspielkursen wurde Blended Learning eingeführt: Lehrer:innen konnten einen Vortrag über Zoom halten und Beispiele für Tanz-, Gesangs- oder Schauspielkünste für die Schüler:innen in Google Classroom einstellen. Die Schüler:innen inszenierten einen Monolog oder einen Dialog mit Freund:innen oder erstellten verschiedene Charaktere, die mit Hilfe von Filmtechniken bearbeitet werden können.

Kunstschaffende im Überlebensmodus

Im Jahr 2020 führte die gemeinnützige Thai Theatre Foundation eine Umfrage unter 180 Personen durch, darunter Theaterschaffende, Universitätsdozent:innen, Theaterproduzent.innen und Verwaltungsangestellte, um die Auswirkungen von Covid-19 zu ermitteln. Die Umfrage ergab, dass mehr als die Hälfte der Künstler:innen nur über eine dreimonatige Geldreserve verfügt. Nur sieben der Befragten erhielten Subventionen von der Regierung. Einige von ihnen hatten mehr als einen Job, um überleben zu können. Vollzeitbeschäftigte Staatsbedienstete, insbesondere im Bereich des traditionellen thailändischen Theaters, erhielten regelmäßige finanzielle Unterstützung.

Theaterbrief Thailand Likay Performer CrNipatJongdee uLikay Performer bereiten sich fürs Live-Streaming via Handy vor © Cr. Nipat Jongdee

Bei den privaten Theatern und den freiberuflichen Schauspieler:innen war die Situation jedoch anders. Viele freischaffende Künstler:innen entschieden sich für den Online-Verkauf von Lebensmitteln und anderen Konsumgütern, um zu überleben. Dies waren und sind schwierige und herausfordernde Zeiten für die Unterhaltungsindustrie.

Daraka Wongsiri, Regisseurin und Autorin von "Thuen Thuek" (Einsame Frau), einem neuen Kurztheaterstück, das im April 2020 über Zoom präsentiert wurde, erklärte, sie wolle das Theater für das Publikum, das sich in Quarantäne befinde, am Leben erhalten. Alle Darstellenden probten und spielten von zu Hause aus. Requisiten, Make-up und Kostüme wurden von ihnen selbst vorbereitet und arrangiert. Daraka und ihre Dreambox Theatre Company hofften, dass diese experimentelle Tele-Theater-Produktion den Weg für ein alternatives Theater ebnen würde, das in Zukunft die Live-Übertragung einer kompletten Aufführung sein könnte. Aufgrund der Low-Tech-Ausrüstung der Darsteller:innen war das, was hinter den Kulissen ablief, lustiger als die eigentliche Komödie; sie sollten diese Proben als einen innovativen Teil der Produktion präsentieren.

Im Juni 2020 präsentierte QTQT Showcase eine Adaption von Phoebe Waller-Bridges komödiantischem Theaterstück "Fleabag" in einer thailändischen Version namens "Ran Ruedee" (Lustful Heart), bei der Rungsimant Kitchaichareon Regie führte. Das Stück lief im Juni 2020 in zehn Aufführungsrunden mit fünf Schauspieler:innen. Alle Aufführungen wurden per Zoom übertragen, wobei pro Runde 30 Zuschauer:innen anwesend waren.

Aufführungen im eigenen Wohnraum

Eines der herausragendsten Online-Stücke war die Produktion von "In Own Space". Fünfzehn thailändische Künstler:innen wurden gebeten, ein Theaterereignis in ihrem eigenen Wohnraum zu entwickeln, um ihre Theaterpraxis aufrecht erhalten zu können und eine Beziehung zum Publikum aufzubauen. Die einzelnen Künstler:innen arbeiteten zusammen und schufen in ihrem "persönlichen Raum" aufeinander folgende Soloperformances. Die Aufführungen waren getrennt, aber durch die Weitergabe von Botschaften, Inspiration und Requisiten miteinander verbunden. Im April 2020 wurden die fünfzehn zweiminütigen Stücke ausgestrahlt, eine Folge pro Tag, um am 21. April 2020 die vollständige 30-minütige Geschichte zu zeigen. Nontawat Machai, ein Theatermacher des LanYim (Smiling Ground) Theaters, sagte, dass die Kunstschaffenden durch diesen Prozess ihre Improvisationsfähigkeiten neu erlernt hätten, um eine einheitliche Geschichte erschaffen zu können.

Theaterbrief Thailand In Own Space CrKwinBhichitkul uDen Koffer packen: die erste Geschichte von "In Own Space" © Cr. Kwin Bhichitkul

Der erste Künstler erzählte die Geschichte einer Figur, die einen Koffer packt, um zu verreisen. Der Geruch von gebratenem Huhn liegt in der Luft. Der Hauptgedanke dieser ersten Szene war, seinen Nächsten Liebe zu schicken, wenn er eines Tages abreisen würde. Der zweite Beitrag nahm den Rauch oder Geruch aus der ersten Geschichte als Inspiration für den Stress beengter Bewegung im Badezimmer. In einer Szene wurde Thai Khon, ein pantomimischer Maskentanz, zum Symbol des Unbehagens beim Tragen einer Hygienemaske. Die fünfte Folge griff das Thema des Unbehagens ebenfalls auf und nutzte eine Bewegung aus dem Khon – die eines Affen, der sich kratzt –, um die Verwirrung zu verdeutlichen. Der achte Beitrag kritisierte die Darbietungen der vorherigen sieben Künstler:innen. Die weitere Geschichte knüpfte daran an und setzte sich fort, bis zu einer Geschichte in der vierzehnten Folge, die die Frage stellte, ob wir tatsächlich im Haus bleiben könnten. Die letzte Szene präsentierte ein langweiliges, faules Leben mit einem Stuhl, und die Show endete mit der Feststellung, dass wir trotz der harten Zeiten unser Leben weiterleben müssen.

K(l)eine staatliche Förderung und neue Produktionen

Die Regierung hat die Unterstützung des zeitgenössischen Theaters und der Künstler:innen nicht völlig vernachlässigt. Das Amt für zeitgenössische Kunst und Kultur vergab Stipendien an zehn Künstler:innen des Silpathorn Award, einer Auszeichnung für zeitgenössische thailändische Künstler:innen. Mit dieser (kleinen) Unterstützung der Regierung, die ermutigen sollte, in der Pandemie-Situation kreativ zu arbeiten, konnten sie im Juni 2020 ihre jeweiligen Darbietungen online zeigen. Die 6- bis 17-minütigen Showcases mit dem Titel "Co With Us" zeigten eine Vielzahl von kreativen Stücken und Shows, darunter Animationen, Puppen, Live-Musik sowie Kurzfilme und Musikvideos.

Nachdem der Lockdown aufgehoben wurde, bereiteten viele Theatergruppen ihre Produktionen für das Bangkok Theatre Festival (BTF) vor und traten im November 2020 im Bangkok Art and Culture Centre (BACC) auf. Theatergruppen wie die B-Floor Theatre Troupe, die 8x8 Theatre Troupe, die Baby Mime Theatre Troupe, die Pichet Klunchun Dance Company und die Anatta Theatre Troupe präsentierten ihre neuen Produktionen unter dem Motto "We Make It Possible". Die Zuschauerkapazität des Theaters war auf 50 Prozent beschränkt.

Öffentlicher Widerstand gegen die Regierung auf der Bühne

Auch Likay-Darsteller:innen, die in traditionellem thailändischen Volkstheater ausgebildet sind, hatten begonnen, online aufzutreten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Einige Künstler:innen haben neue Wege gefunden, ihre Kreativität unter Beweis zu stellen, indem sie Solotänze und Einzelgesang in voller Verkleidung und mit Schminke aufführen. Diese Methode konnte jedoch nicht allen Likay-Mitgliedern helfen. Leider haben mindestens zwei Likay-Künstler aufgrund ihrer aussichtslosen wirtschaftlichen Situation Selbstmord begangen.

Ab Mai 2020 organisierten Theateraktivist:innen, die nicht nur unter den Auswirkungen von Covid-19, sondern auch unter politischen Repressionen gelitten haben, pro-demokratische Aktivitäten und Demonstrationen. Kunstschaffende Aktivist:innen, die sich den Protesten angeschlossen haben, versammelten sich, um eine Reihe Theaterstücke und Performances zu kreieren und aufzuführen und so ihren Widerstand gegen die Regierung zu zeigen. Bei Flash Mobs und 'Mob Fests' wurden eine Vielzahl künstlerischer Genres aufgeführt, wie Rap-Songs, Modeschauen, Musik und Straßentheater.

Theaterbrief Thailand khon Geb Khaya CrPisitNoiwangklang uKritische Vogel-Parade: "khon Geb Khaya" © Cr.Pisit Noiwangklang

Eine bedeutende Darbietung war eine Parade weißer Vogelpuppen, die von Puppenspieler:innen um das Democracy Monument im Zentrum von Bangkok geflogen wurden, mit einer thailändischen Version des Liedes "Do You Hear the People Sing?" aus Les Misérables. Diese Darbietung symbolisierte Freiheit und Gewaltlosigkeit seitens der Menge. Die weißen Vogelpuppen wurden in einem Stück namens "khon Geb Khaya" (Gabage Collectors) im Bangkok Art & Culture Centre BACC im November 2020 erneut verwendet.

Seit der Ausbreitung der dritten und vierten Welle von Covid-19-Infektionen ab April 2021 hat das Center for COVID-19 Situation Administration (CCSA) das Land in vier Zonen eingeteilt: eine dunkelrote Zone, die den strengsten Restriktionen unterworfen ist; die rote Zone, die orangefarbene Zone und die gelbe Zone, in denen die Restriktionen nacheinander gelockert wurden. Die dunkelroten und roten Zonen umfassten jedoch 66 von 77 Provinzen. Die meisten Vergnügungsstätten waren nach wie vor geschlossen und nur wenige Open-Air-Veranstaltungsorte waren für hybride Aufführungen geöffnet. Viele Truppen produzieren weiterhin Online-Live-Performances, einige veröffentlichen Aufnahmen von (vergangenen) Live-Produktionen oder zeigen für die Kamera produzierte Theaterproduktionen. Prapassorn Chansatitporn, ein Theaterregisseur der Abteilung für Sprachkommunikation und Darstellende Kunst an der Chulalongkorn-Universität, hat beispielsweise das Filmtheater "Ubasute Sound" gedreht, das eine Live-Aufführung ersetzt, die aufgrund der Covid-19-Beschränkungen abgesagt wurde.

Die Auswirkungen von Covid-19 auf die Künstler:innen, die um ihr Überleben kämpfen müssen, sind nun schon seit über anderthalb Jahren zu spüren. Und noch immer weiß niemand, wann diese Pandemie enden wird. Aber wenn man keine andere Wahl hat, sind Kreativität und Flexibilität das Gebot der Stunde. Die Pandemie hat dem Theater durch die Kreativität der Künstler:innen hochinnovative Methoden und neue Wege eröffnet. Künstler:innen müssen lernen, neu zu lernen und auch zu verlernen. Die eigene und künstlerische Neuerfindung könnte der Schlüssel zum Überleben des Theaters und der Theaterschaffenden sein – und das nicht nur, während wir alle darauf warten, dass der Sturm vorübergeht.

Übersetzung: Antonija Cvitic

Theaterbrief Thailand Sukanya Sompiboon privat uSukanya Sompiboon ist derzeit Dozentin in der Abteilung für Sprachkommunikation und Darstellende Kunst an der Fakultät für Kommunikationskunst der Chulalongkorn-Universität in Bangkok. Sie ist Sängerin, Schauspielerin, Regisseurin und Dramaturgin für traditionell-populäres und zeitgenössisches Theater. Sie arbeitet als Solokünstlerin und als Mitglied der Anatta Theatre Troupe. Während der Covid-19 Lockdowns gingen Sukanya Sompiboon und befreundete Kolleg:innen online, um Mini-Konzerte sowie Online-Reflexionen und Diskussionen über Theater zu übertragen. Foto: Privat

 

Dieser Beitrag entstand in einer Kooperation zwischen dem Internationalen Forschungskolleg "Interweaving Performance Cultures" der Freien Universität Berlin (Redaktion: Clara Molau, Antonija Cvitic) und nachtkritik.de (Redaktion: Elena Philipp).

Bislang veröffentlicht sind Theaterbriefe aus Argentinien, Chile, Ägypten, Uruguay, Südafrika, der Türkei, Japan, China, dem Iran und Mexico.

Hier finden Sie die englische Fassung des Textes.

 

Eine Kooperation mit  

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