Der Himmel muss warten

14. November 2021. Christine ist gestorben, aber bevor sie ihren ewigen Frieden finden kann, streift sie als Geist umher, um die zahlreichen Risse ihrer Familie zu kitten. In Simon Stephens' Drama "Am Ende Licht", das Elmar Goerden zur deutschen Erstaufführung bringt.

Von Verena Großkreutz

Nina Siewert in "Am Ende Licht" in Stuttgart © Katrin Ribbe

14. November 2021. Wie spielt man einen Geist auf der Theaterbühne, ein Wesen zwischen Leben und Tod? Ist das glaubwürdig überhaupt möglich? So ganz ohne technische Hilfsmittel? Als nichts anderes als ein Geist tritt Christine ja durchweg in Erscheinung in Simon Stephens' Drama "Light falls", uraufgeführt 2019 in Manchester, das jetzt als "Am Ende Licht" im Stuttgarter Schauspielhaus seine deutsche Erstaufführung erlebte. Christine, Mitte vierzig, trockene Alkoholikerin, ist zu Beginn des Stücks bereits tot: Sie stand kurz davor, rückfällig zu werden, als sie in einem Supermarkt beim Griff ins Wodka-Regal eine Gehirnblutung erleidet und stirbt. Im Augenblick ihres Todes beginnt es sintflutartig zu regnen.

Tod am Supermarktregal

In Stuttgart liegt Christine anfangs leblos zwischen den Regalen eines grau-glasig schimmernden, kompakt gebauten Supermarkts (der später in den Bühnenhimmel entschwindet). Sie tritt heraus aus ihrem Körper ins grelle Scheinwerferlicht der Rampe, analysiert ihren Tod, erzählt ihre Geschichte. Expressiv flackernd und sehr fein differenzierend in den Bewegungen, der Mimik und der Intonation schafft es Sylvana Krappatsch zu irritieren. Das wird schnell klar: Diese Person dort vorne ist nicht mehr ganz von dieser Welt. Aber im Nichts ist sie auch noch nicht entschwunden. Unruhe treibt sie an. Der Kinder wegen, da liegt noch einiges im Argen.

Am Ende Licht 4 KatrinRibbe uSylvana Krappatsch als trockene Alkoholikerin Christine im Bühnenbild von Silvia Merlo und Ulf Stengl © Katrin Ribbe

Das ist Stephens' Kunstgriff, mit dem er die Familienkonstellation durchleuchtet: die Gleichzeitigkeit der Ereignisse. Während Christine stirbt, verlustiert sich ihr Ehemann Bernard in einem Hotelzimmer mit zwei jüngeren Frauen, eine davon seine Langzeitgeliebte.

Tochter Jess, Lehrerin, macht gerade blau, um sich ihrer neuen Liebe zu versichern, inklusive Sex auf einem Friedhof. Christines zweite Tochter Ashe, alleinerziehende Mutter, die bereits einen Suizidversuch hinter sich hat, befindet sich gerade in der komplexen Situation, ihrem ehemaligen Freund, dem Vater ihres Kindes, einem Ex-Junkie, klarzumachen, dass er mit seinem unterwürfigen Heiratsantrag null Chancen bei ihr hat. Und auch Sohn Steven, gestresst vom Jurastudium, erlebt in seiner Beziehung zum Geliebten Andy, der ihn aktuell körperlich abweist, gerade die volle Krise.

Eine Familie voll Wut, Misstrauen, Überforderung

Das gesamte Ensemble dreht auf, gibt alles, macht klar: in Christines Kindern lodern Wut, Misstrauen und Überforderung. Der Alkoholismus der Mutter, die Untreue des Vaters haben ihre Spuren in der Familie hinterlassen. Alles trefflich gespielt: die Wut der Verletzung, die Jannik Mühlenweg als Steven seinem Lover entgegendonnert; die Skepsis, mit der Katharina Hauter als Jess ihre neu Liebe ständig im Visier hat; die Mischung aus Melancholie und aufschäumendem Triebleben, die Klaus Rodewald als Bernard an den Tag legt.

Am Ende Licht 3 KatrinRibbe uFamlienvater auf Abwegen: Klaus Rodewald mit Marietta Meguid © Katrin Ribbe

Der Regisseur Elmar Goerden lässt das Ensemble den ganzen weiten, leeren Bühnenraum nutzen – viel Platz fürs Spiel mit Nähe und Distanz. Unterschiedlich große Maxi-Kugeln, bunt, gestreift, uni, thronen auf der Bühne: unberechenbar, etwas bedrohlich, aber auch praktisch zum Sitzen, Balancieren und Herumrollen. Alles prima. Dennoch würde aus dem Ganzen schnell eine Episoden-Kiste, gäbe es nicht die surreale Ebene: diese durchs Stück geisternde Mutter-Figur, die, solange ihre Familie das Klingeln der Mobiltelefone ignoriert und von ihrem Tod nichts weiß, in fremde Körper schlüpfen muss, um ihr nah zu sein: in die bärbeißige Bedienung eines China-Imbisses etwa oder in eine betrunkene Passantin mit Durchblick.

Guter Rat vom Mutter-Geist

Aber dann fällt Regen sturzflutartig vom Bühnenhimmel, die Gleichzeitigkeit der Ereignisse unterstreichend. Und alle sind endlich informiert. Christine darf ihrer Tochter Ashe als leibhaftiger Geist erscheinen, gibt der Irritierten letzte gute Ratschläge, befragt sie zu ihrem Suizidversuch, lobt ihr Piercing und die aufgeräumte Wohnung, will am Ende das Enkelkind nochmal sehen. Nina Siewert als Ashe spielt ihr Befremden, ihre ambivalenten Gefühle angesichts der merkwürdigen Erscheinung trefflich. Und für Sylvana Krappatsch ist dieser Mutter-Geist ohnehin eine Paraderolle. Ihr sehr körperliches Spiel macht es ihr möglich, zugleich zugewandt und abwesend, irreal und real zu wirken, blitzschnell zu wechseln zwischen geschäftiger mütterlicher Besorgtheit, völliger Erstarrung und Versunkenheit.

Und dann dieser finale Tanz, vor der letzten Szene, wenn sich die Familie zum Begräbnis Christines versammelt. Krappatsch tanzt zu Björks Version von It’s oh so quiet, nimmt deren Wechsel zwischen ruhigen Passagen und krassen, kreischenden Ausbrüchen in skurrilen und exaltierten Bewegungen auf: Tanz und Nichttanz gleichermaßen, ein Bild der Befreiung und der Loslösung von der Familie, ja, vom Leben.

Am Ende Licht
von Simon Stephens
Deutsche Erstaufführung
Deutsch von Barbara Christ
Regie: Elmar Goerden, Bühne: Silvia Merlo und Ulf Stengl, Kostüme: Lydia Kirchleitner, Licht: Sebastian Isbert, Dramaturgie: Ingoh Brux und Christina Schlögl.
Mit: Sylvana Krappatsch, Klaus Rodewald, Katharina Hauter, Nina Siewert, Jannik Mühlenweg, Sebastin Röhrle, Marco Massafra, Marietta Meguid, Therese Dörr, Peer Oscar Musinowski.
Premiere am 13. November 2021
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 Kritikenrundschau

"Die Momentaufnahmen im Leben dieser Familie sind voller wütender, trauriger, immer aber voller zärtlicher Stimmung", so Nicole Golombek von der Stuttgarter Zeitung (15.11.21). Auf "Gefühlsverstärker" wie gemeinsam angestimmte Hymnen verzichte der Regisseur Elmar Goerden und "konzentriert sich auf die Dialoge, lässt das Ensemble tragikomische Situationen entwickeln". "Das Theater wird zum moralisch aufmunternden 'Vielleicht wird alles gut oder besser'-Trostort." Das mute äußerst märchenhaft an und hätte besser in ein entsprechendes Setting gepasst. In der realistischen Rahmung wirke "die Produktion wie ein merkwürdig aus der Welt gefallenes, dabei großartiges Schauspielertheater".

Der Regisseur nehme sich viel Zeit, "um das – trotz alledem – anachronistisch wirkende und in seiner Botschaft eher schlichte Drama" zu realisieren, schreibt Siegmund Kopitzki im Südkurier (15.11.21). Er bemängelt: "Die Dialoge haben wenig Tiefgang, die Figuren keine Sprache. Der Altmeister der Regie hätte an der einen oder andere Stelle am Script den Stift ansetzen müssen, gegen die Langeweile." Dennoch findet er Lob: "Toll, wie die Akteure dieses Familien-Desaster durchziehen. Hemmungslos. Schonungslos."

Vor allem das Spiel von Sylvana Krappatsch hebt Otto Paul Burkhardt in der Südwest Presse Ulm (15.11.21) begeistert hervor: Sie spräche "mit vielen Stimmen: eine irre Collage aus Bilanz, Geständnis, Verletztheit, Trauer, Wut" und "Lakonisch, ohne Anklageton, von aberwitzigen Perspektivwechseln durchzuckt. Sensationell. Ein Kunststück." Der Regisseur lege "den Akzent wohltuend auf leise, vielsagende Details" und schaffe so aus dem Stoff, der eigentlich den Norden Englands porträtiere, "die universell lesbare Story einer gebeutelten Familie". Das Ergebnis sei ein Kunststück: "Ensembletheater, Sozialporträt und Traumspiel".

In der Ludwigsburger Kreiszeitung (15.11.21) vermerkt Arnim Bauer, der Abend mit seinen "ständigen Auseinandersetzungen" sei eine "dramaturgisch gewagte Gratwanderung, die aber gelingt, vor allem auch, weil Sylvana Krappatsch so differenziert diese Rolle zwischen halbem Leben und Tod ausfüllt". Dennoch gelinge es in der Darstellung familiärer Konflikte nicht, "die mitunter nervige Banalität zu kaschieren, die auch einem erfolgreichen Autor wie Stephens unterläuft". Letztlich sei es "trotz kleiner Mängel ein besonderes Stück, vor allem deshalb, weil Stephens etwas wagt, was sowohl für das alte als auch das postmoderne Drama unüblich ist: Er wagt einen zuversichtlich stimmenden Schluss".

Eine "flirrende Familienaufstellung" sei Simon Stephens gelungen, in welcher er auch "die sozialen Abgründe" eines von Brexit-Spannungen geplagten, schrumpfenden Königreichs beschreibe, so Jürgen Berger in der Schwäbischen Zeitung (16.11.2021). Elmar Goerden folge Stephens' Text genau. Und das Ensemble sei hervorragend aufgelegt: Man wolle immer mehr von diesen Menschen erfahren, "die da aneinander vorbeiwandeln oder aufeinanderprallen". 
Sylvana Krappatsch gelängen große Bühnenmomente: "Manchmal hält Krappatsch ungläubig inne, als könne sie nicht glauben, dass diese Frau einfach weiterspricht. Dann stammelt sie oder lässt die Stimme verwaschen klingen, als ereigne sich jetzt gerade die tödliche Gehirnblutung."

"Es ist eine leise, feine Inszenierung, die man in Stuttgart zu sehen bekommt", schreibt Grete Götze in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.11.2021). Elmar Goerden zeige "mit unverschnörkelter Klarheit und eindrücklichen Bildern" eine in prekären Verhältnissen lebende Familie aus Englands Norden, die versuche, "das Beste aus allem zu machen, auch wenn sie weiß, dass sie damit nie hoch hinaus kommen wird". Und Dramatiker Stephens, dessen Kennzeichen es sei, "dass er so über Menschen schreibt, wie sie in Wirklichkeit sein könnten", gelinge das Kunststück, eine Figur wie Joe mit wenigen Sätzen so zu charakterisieren, dass man von seinem schändlichen Verhalten abgeschreckt werde und zugleich Mitgefühl für diesen Gescheiterten entwickle.

Kommentare  
Am Ende Licht, Stuttgart: Schauspielblase
Ich kann das so nicht nachvollziehen. Der Text ist gut, keine Frage. Aber was der Regisseur daraus macht, bleibt mir ein Rätsel. Schauspieler suhlen sich in irgendwelchen großen Gefühlen, spielen unkonkret, loten den Text, der auch und vor allem von dem lebt, was nicht gesagt wird, nicht im Geringsten aus. Das ist blöd gesagt, einfach nicht gearbeitet. Dass der Text trotzdem wirkt, ist seine Stärke. Überspitzt formuliert: Jede/jeder spielt seinen Stiefel, sucht nach Besonderheiten, aber nicht danach, worum es wirklich geht. Das ist einfach schade. Das Stuttgarter Ensemble verkauft sich zunehmend schlecht. Da hilft es auch nicht, eine deutschsprachige Erstaufführung an Land zu ziehen, wenn der Regisseur sie künstlich vertanzt. Eine Dame in den ersten Reihe rief vorm Applaus zu recht „buh!“, dann klatschte sich das Haus immer mehr in Stimmung. Grund gab es keinen, finde ich.
Am Ende Licht, Stuttgart: Umarmung
Da war wohl jemand in einer anderen Aufführung …
Die Stuttgarter Inszenierung war das Beste, was ich seit Jahren in Stuttgart (und anderswo) gesehen habe. Wie man da der Regie ein "nicht gearbeitet" unterstellen kann, ist mir ein völliges Rätsel. Oder um es anders zu formulieren, das ist tatsächlich nur „blöd gesagt“. Endlich wieder ein Regisseur, der sich nicht mit Getöse über alles stülpt, was ihm vor die Flinte kommt, sondern Kunst macht. Auch ich reklamiere für mich, eine „einfache Zuschauerin“ zu sein, schließe im Gegensatz zu meinem Vorkommentator daraus aber nicht, die Reaktion des Publikums als "Haus, das sich in Stimmung klatscht" zu disqualifizieren. Die Leute haben gejubelt wie lange nicht. Und das nicht trotz Regie und Ensemble, sondern wegen. Denn, lieber "einfacher Zuschauer", so ein Stephens Stück spielt sich nicht von selbst. Und es dürfte jedem aufgefallen sein, wie heftig und strahlend Simon Stephens, den Regisseur Elmar Goerden umarmt hat.
Es war ein grandioser Abend!
Hingehen, unbedingt.
Senta B.
Kommentar schreiben