Unbeschreiblich weiblich

15. November 2021. Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux erzählt in "Die Jahre“ aus ihrem eigenen Leben. Dem einer Frau, die frei sein will, doch auf immer neue Hindernisse stößt. Jan Neumann adaptiert den Stoff in einer Inszenierung, in der sich Biographie und Kulturgeschichte grandios vereinen.

Von Matthias Schmidt

© Candy Welz

Weimar, 15. November 2021. Fünf Frauen singen Voyage, voyage, diesen Hit der französischen Sängerin Desireless aus dem Jahr 1986. Sie singen ihn mehrstimmig, und doch singen sie ihn mit einer Stimme. Ein Chor der Frauen, zugleich handwerklich hervorragend gemacht und bildhaft für die gesamte Inszenierung stehend. Eine Inszenierung, die die Frage, ob Annie Ernaux‘ Roman "Die Jahre" eine Art universalistische Autobiografie sei, zugleich persönliche Lebensbilanz und Kulturgeschichte, mit einem knapp zweistündigen "ja" beantwortet.

Annie Ernaux vermied das "ich" im Erzählen und wählte ein "sie". Jan Neumann hat dieses "sie" weitergedacht und gemeinsam mit den fünf Schauspielerinnen auf der Bühne des Kesselhauses im Weimarer E-Werk daraus eine kollektive Geschichte erarbeitet und damit genau den Mehrwert geschaffen, den man bei Dramatisierungen von Romanstoffen gelegentlich vermisst. Diese Inszenierung erzählt das Buch nicht nach, sie ist keine bloße Bebilderung – sie holt den Stoff beeindruckend in das Hier und Jetzt. Die fünf Frauen, von der jungen Rosa Falkenhagen bis zur seit 1974 dem Ensemble angehörenden Elke Wieditz, verkörpern ihn. Sie sind "der Stoff" - mit ihrem Spiel, aus dem sie immer auch ein bisschen selbst hervorlugen - egal ob zu Beginn, in den prüden 50er Jahren oder am Ende, in den durchkommerzialisierten Nuller-Jahren. Diese fünf Frauen und ihre Annäherung an das Thema machen aus diesem Abend ein Kulturgeschichts-Erlebnis.

Bond-Girls? Höchstens ironisch!

Ein Erlebnis freilich, das weit entfernt ist von larmoyantem Weg-Schmunzeln. Das Happy End der Geschichte der Frauenbewegung - nein, wie das klingt! – der Geschichte der Befreiung der Frau von den Rollenbildern, die die (männliche) Gesellschaft Frauen über die im Buch erzählten Jahrzehnte aufzwang, es ist noch nicht erreicht. Immer, wenn das Ziel näher rückte, wenn eine Sehnsucht erfüllt schien, in den späten 60er und den 70er Jahren etwa mit sexueller Befreiung und Anti-Baby-Pille, greift gnadenlos ein neuer, alter Mechanismus zu. Die "Zwänge" der Familie sind ein solcher. Eine Mutter hat tausend Wege zu gehen, ihr Mann holt höchstens das Baguette. Konsum, Kommerz, Globalisierung. Und so weiter. Ganz frei ist SIE nie. Nicht, wenn sie jung ist und auch nicht, wenn sie älter wird.

Weimar 7Nadja Robiné  © Candy Welz

Aber, und das setzt Neumanns Inszenierung mit den freudvoll bis entfesselt spielenden Frauen um, der Weg ist eingeschlagen, das einst Unaussprechbare aussprechbar. Zumindest wird es auf der Bühne versucht, sogar im Chor gemeinsam mit dem Publikum. Da wird schon mal herausgeschrien, was noch immer mutig wirkt, von allen zusammen: "Ich will Sex!" Was natürlich, bitte nicht falsch verstehen, nur ein Beispiel von vielen ist. Aber eben eines, das sich durch Ernaux‘ Roman zieht: Durch die Jahrzehnte geht es um sexuelle Selbstbestimmung contra Erfüllung männlicher Projektionen. Diese fünf Frauen im Weimar sind schon weiter. Sie tanzen die Bond-Girls nur noch ironisch. Die Erinnerung an das "kriegt der Onkel keinen Kuss?" auf einer Familienfeier dagegen fällt deutlich angewiderter aus.

Revuehafter Ernst

Gehen sie anfangs noch klischeehaft Frauen aufgezwungenen (oder zugeschriebenen) Tätigkeiten nach – stehen am Bügelbrett, in der Küche oder im Aerobic-Anzug auf einem Fitness-Laufband – brechen die fünf im Lauf des Abends mehr und mehr aus. Jede von ihnen hat mindestens einen Solo-Auftritt. "Unbeschreiblich weiblich" von Nina Hagen wird performt; das Spektrum reicht von wütend bis heiter, von derb bis melancholisch, und der Abend entwickelt einen regelrechten Sog.

DieJahre Weimar 4 805 Candy Welz Nadja Robiné, Dascha Trautwein, Rosa Falkenhagen, Elke Wieditz und Anna Windmüller  © Candy Welz

Getrieben und zusammengehalten wird er von einem live eingespielten Soundtrack. Johannes Winde hat ihn zusammengestellt und spielt ihn, als der Mann im Bühnen-Hintergrund. Stets angelehnt an das Jahrzehnt, in dem sich die Geschichte bewegt, historische Motive erkennen lassend von Supertramp bis zu Robbie Williams‘ Hit "Feel", die Instrumente wechselnd von den Rockgitarren der 60er bis zum Techno der Nullerjahre, verschweißt seine Musik den Abend zu einer runden Sache. Auch dank dieser Musik ist der Duktus des Abends vorwiegend leicht, streckenweise sogar revuehaft. Was interessanterweise seine Ernsthaftigkeit stärkt, statt sie zu schwächen, weil hier eben nicht belehrt, sondern gemeinsam gelitten wird an den aus heutiger Sicht teilweise absurd wirkenden Frauenbildern der letzten sieben Jahrzehnte. Mal schmunzelnd, mal kopfschüttelnd.

Bilder im Kopf

Was wird aus den "Jahren"? Werden, wie der erste Satz des Romans von Annie Ernaux behauptet, alle Bilder verschwinden? Für einen einzelnen Menschen werden sie das; sein Leben ist endlich. Dank ihres Romans aber bleiben sie doch. Das ist, was Literatur kann. Neumanns Inszenierung zeigt, dass auch das Theater so etwas leistet. Der Streifzug durch die Zeiten, der auf der Bühne stattfindet, dieses raffiniert aus Zeitgeschichte und Persönlichem zusammengesetzte Szenen-Kaleidoskop, weckt die eigenen Erinnerungen in jedem einzelnen Zuschauer. Ganz sicher, jede und jeder hat sie dabei im Kopf gehabt, die Bilder der "Jahre".
Am Ende, in der letzten Szene, kommt der Tod näher. Krankheiten greifen den Körper an, und vom Klavier erklingt ein letztes, nun ganz und gar melancholisches "Voyage, voyage". Es herrscht Stille im Raum. Ein grandioser Abend!

 

Die Jahre
Nach dem Roman von Annie Ernaux.
Regie: Jan Neumann. Bühne und Kostüme: Matthias Werner. Musik: Johannes Winde. Dramaturgie: Eva Bormann.
Mit: Rosa Falkenhagen, Elke Wieditz, Nadja Robiné, Anna Windmüller, Dascha Trautwein, Johannes Winde.
Premiere am 14. November 2021
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-weimar.de

 

Kommentare  
Die Jahre, Weimar: Verlockend
Die Kritik von Matthias Schmidt macht Lust darauf, nach Weimar zu fahren und sich das Stück anzuschauen.
Gute Idee, aus "sie" singular ein "sie" plural zu gestalten.
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