Moralische Maschine

18. November 2021. Christina Ketterings Stück "Schwarze Schwäne" handelt vom Einsatz künstlicher Intelligenz in der Pflege und gewann den Wettbewerb "Science and Theatre". Fürs Theater Heilbronn inszenierte Elias Perrig die Uraufführung – im Heilbronner Science Dome. Mit zwei Schauspielerinnen und Videoeffekten.

Von Steffen Becker

Zwei "Schwarze Schwäne" © Jochen Klenk

18. November 2021. "Japan setzt verstärkt auf Pflegeroboter und künstliche Intelligenz", titelte das Ärzteblatt 2019. Neue Modelle sollen Gefühle ihrer Schützlinge erkennen. Klingt nach einer realen Vorstufe von Science Fiction à la "I Robot". Mit einer entsprechenden Erwartungshaltung positioniert man den Stuhl im Heilbronner "experimenta" in Rückenlage. Das Publikum starrt in die Kuppel des dortigen "Science Dome" und hofft auf imposante Spezialeffekte. Es sieht in der Uraufführung des Stücks "Schwarze Schwäne" von Christina Kettering: Collagen aus Kindheitsträumen der beiden Protagonistinnen und Gegenständen ihres Alltags (Vulkane erforschen vs. Putzmittel). Zwei Schwestern, die überfordert sind mit der Pflege ihrer Mutter – und dem Platzen von Träumen, das sie dieser Situation zuschreiben.

Reduziert auf die Menschen

Die vermeintliche Lösung – ein humanoider Roboter namens Rosie – ist in der ersten halben Stunde ihres 90-minütigen Dialogs aus gegenseitiger Bemitleidung und Vorwürfen überhaupt nicht Thema. Auch danach tritt das Modell "Rosie" nur im Gespräch auf. Die Mechanik-Wimmelbilder, die auf der "experimenta"-Kuppel langsam vor sich hin morphen, geben ebenfalls kaum Anhaltspunkte, wie die künstliche Intelligenz denn nun aussieht.

Das gezielte Unterlaufen der Erwartungen ist die größte Stärke des Stücks und der Inszenierung von Elias Perrig. An einem Ort der Wissenschaft und Technik reduziert die Heilbronner Aufführung alles auf die Menschen. Die Bühne ist leer, die zwei Schwestern weiß uniformiert. So ganz ohne Beiwerk tritt deutlich hervor, dass nicht die Technik, die künstliche Intelligenz von Rosie, Thema und Problem ist. Es sind die menschlichen Algorithmen. Sie springen in der Inszenierung zwischen Dialog und Ansprache ans Publikum. Auf der Erzählebene zwischen Aufarbeitung und Zukunftsängsten, simulierten Lebensumständen und den wahren Emotionen.

Zwei verunsicherte Schwestern

"Die Ältere" ist die vermeintlich abgebrühte der beiden Schwestern. Sie unterstützt die Anschaffung und Arbeit von Rosie – schließlich geht sie auch lieber an die automatische Supermarktkasse, damit kein menschlicher Angestellter aus den Einkäufen Schlüsse auf ihr tristes Single-Leben schließt. Regina Speiseder spielt das mit (vorgeschobener) Arroganz, hinter der sich Selbsthass und Verletzlichkeit zeigen.

1988 schwarze schwaene c jochen klenk 8 805Regina Speiseder (Ältere) und Lisa Schwarzer (Jüngere) auf der Bühne im Heilbronner Science Dome © Jochen Klenk

"Die Jüngere" ist die vermeintlich mitfühlende Schwester, die die Mutter bei sich zu Hause aufnimmt und erst sie und dann die Bevormundung von Rosie erträgt (kein Rauchen, weniger Alkohol, kein Stimme erheben, schadet alles der Patientin). Lisa Schwarzer spielt das mit verbissener Angestrengtheit, hinter der tiefe Verunsicherung zum Vorschein kommt – zum Ausdruck gebracht etwa als verunglückte Herabwürdigung von Roboter Rosie, die den Selbstekel gleich mitliefert: "Ich Mensch, du Maschine. Ich bin zusammen mit Schleim und Blut aus der Muschi meiner Mutter gepresst worden, du wurdest von einem 3D-Drucker erzeugt."

Packendes Kammerspiel mit dystopischem Ende

Beide Schwestern ringen mit ihren Leben. Ihre eigenen Probleme erscheinen ihnen umso größer, je effizienter eine Maschine das Problem mit ihrer Mutter löst. Inszenierung und überragende Schauspielerinnen machen das zu einem packenden Kammerspiel, in der die Technik nur eine Nebenrolle spielt. Die Hölle, das sind immer noch die anderen (Menschen), nicht das Ding. Die Künstliche Intelligenz ist nicht aus sich heraus gefährlich. Doch am Ende beweist der Roboter, dass er eine Art schwarzer Schwan ist, nämlich eine moralische Maschine. Das Produkt Rosie begreift die Moral der sie programmierenden Gesellschaft – was diese denkt, was das beste sei für Menschen, die nicht mehr produktiv sind.

Schwarze Schwäne
von Christina Kettering
Regie: Elias Perrig , Video und Animation: Franziska Nyffeler, Dramaturgie: Andreas Frane.
Mit: Regina Speiseder, Lisa Schwarzer.
Uraufführung am 17. November 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

https://www.theater-heilbronn.de

 

Kritikenrundschau

'Schwarze Schwäne' verhandele nicht nur, wie KI uns von monotoner Arbeit befreien könne. "Ketterings klug gebautes Stück fragt, wohin das führt - ohne zu werten", schreibt Claudia Ihlefeld von der Heilbronner Stimme (18.11.2021). "Die moralische Wertung der vertrackten Story, die mehr überzeichnete Gegenwart ist denn Science-Fiction, findet in unseren Köpfen statt, das ist die Stärke des Stücks."

Es gehe um Ängste, Hoffnungen und Erwartungen, um Haltungen, "um die Frage, was Menschen ausmacht, was tatsächlich wichtig ist". Und es gehe um die Frage, ob die derzeit so viel beschworene 'KI' hier wirklich weiterhelfe, so Arnim Bauer von der Ludwigsburger Kreiszeitung (20.11.21). Elias Perrig verfolge die Anlage konsequent als Kammerspiel, "auch wenn im Zuge der manchmal sehr einfachen, auch manchmal fast naiv daherkommenden Geschichte dann manches zum reinen Hörspiel mutiert“. Und weiter: "Das alles gelingt auch und vor allem, weil Perrig mit seinen beiden Schauspielerinnen Regina Speiseder und Lisa Schwarzer hervorragende Kräfte punktgenau und wirkungsvoll spielen lässt."

"Es trifft den Nerv", lobt Brigitte Fritz-Kador von der Rhein-Neckar Zeitung (23.11.2021). Kettering beschreibe den Anwendungs- und Wandlungsprozess mit und durch den Roboter aus der Perspektive einer faszinierten Beobachterin, "mit Worten, die auch im Publikum einen hohen Wiedererkennungswert und oft auch die Bestätigung eigener Anschauungen auslösen müssen". Und weiter: "In der Regie von Elias Perrig, stringent ästhetisch, agieren Regina Speise- der und Lisa Schwarzer als Schwestern mit einer Intensität und Präsenz, die beeindruckend ist."

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