Volkstheater 2.0

19. November 2021. Die Erben Godots in der ostdeutschen Provinz: In der Bühnenversion von Oliver Bukowskis Erfolgs-Fernsehserie "Warten auf'n Bus" warten zwei Männer – ja, auf was, eigentlich? Regisseur Michael Heicks inszeniert ihren Treffpunkt, die Bushaltestelle, als Fixpunkt des Weltgeschehens einer Gesellschaft. Und es funktioniert.

Von Karin Yeşilada

Die Welt an der Bushaltestelle © Joseph Ruben

18. November 2021. "Oh Gott, zweieinhalb Stunden soll das gehen?" Der Theater-Abonnent weiß schon vor Beginn, dass er "in der Pause gehen wird", vermutlich auf den draußen gerade gestarteten Weihnachtsmarkt. Großer Fehler. Er verpasst eine wunderbare Vorstellung, die am Ende alle aus den Sitzen hebt. Was nicht nur am Wau Wau liegt, der schon vor Beginn über die Bühne tapert, nicht auf Zuruf reagiert und lieber die Gerüche aus dem gut besetzten Zuschauerraum aufnimmt. Angeblich der Hund des Intendanten.

Auf den Bus warten als Lebenskunst

Erst neulich hatte im Bielefelder Theater am Markt ein Stück über zwei auf die U-Bahn wartende Frauen Uraufführung (Hanna Arendt und Mary McCarthy in "Two Women Waiting For…"); nun philosophieren zwei Männer (Johannes Ackermann und Ralf Paschke) an der Bushaltestelle – Godot lässt grüßen. Bis zu dem Moment, wo die beiden Männer mit unverkennbar ostdeutschem Zungenschlag loslegen ("Komm‘ lass mir doch in Ruhe mit deiner Glückskeks-Scheiße!") und ihre abgewetzten Trainingsklamotten (Kostüm: Julia Hattstein) so schön breitbeinig dahinfläzen, dass sich mit dem auf die Bühnenwand gedruckten Hintergrund (Bühne: Annette Breuer, Michael Heicks) sogleich die ostdeutsche Prärie auftut. Willkommen in der Provinz Brandenburg, wo der Hund bellt.

"Det, mein Freund, ist die letzte, verdammte Schnittstelle zwischen der Zivilisation und der absoluten Pampa. Von hier ab in die Richtung hört jedes verdammte Leben uff", sagt Ralf zu Hannes, und der nickt versonnen, "Wir sind der letzte Außenposten, die Gralshüter quasi." Entsprechend ernst nehmen die Beiden ihre Wache am Bushäuschen, nur, wer oder was ist der Gral? Ist es das Lebensgefühl des untergegangenen Ostens nach der Wende oder die Euphorie des Aufbruchs währenddessen? Ist es die verlorene Jugend zweier Vokuhila-Jungs? Oder die noch durch tiefste Depressionen scheinende Stehauf-Mentalität der beiden? Jedenfalls sind sie hier, Tag für Tag, schauen dem Leben zu und machen sich ihren Reim darauf – und das ist ziemlich lustig. Bereits nach einigen Minuten hat sich das Publikum über all die hingeworfenen, herrlich absurden Alltagsweisheiten zweier nickeliger, rotzig-prolliger Typen (gro-ß-ar-tig: Oliver Baierl und Alexander Stürmer) eingekichert und amüsiert sich köstlich bis zum Schluss.

Die dunklen Lords der Raucherecke

Das einfach gezimmerte, aber vielfach wandelbare Bushäuschen, an dem unsichtbare Busse geräuschvoll an- und abfahren oder Motorräder im Dolby-Surround-Sound vorbeibrettern (Ton- und Medientechnik: Falko Heidemann, Christian Frees), ist Fixpunkt des Weltgeschehens einer Gesellschaft, in der sich alle quasi schon aus Schulzeiten kennen. Hinter der vermeintlichen Burka-Frau verbirgt sich die "glühendrote Ines" (unter Strom: Brit Dehler), Wachtmeister Pritzke wiederum rächt sich an den "Dunklen Lords der Raucherecke" für erlittenes Schulhof-Mobbing. Linksautonome und Rechtsradikale treiben ihr Unwesen, ramponieren Bushaltestelle und Gralswächter, Besuch aus der fernen Großstadt rückt an, um die "Zeitzeugen" und Wende-Helden für ein Schulprojekt zu inszenieren, jede Rolle treffsicher typisiert und großartig ausgespielt – Volkstheater vom allerfeinsten, und es funktioniert. Dabei bleibt es beileibe nicht beim Schmunzelfaktor, eher im Gegenteil. Die Verlorenheit der von der Wiedervereinigung abgehängten "Wendeverlierer", die sich ihren Frust über ein verpfuschtes Leben im Dauerstillstand auch mal aus voller Kehle von der Seele schreien müssen, macht betroffen, nicht nur, weil es auch im Theaterbetrieb genügend "Corona-Verlierer" gibt, von kritischen Anspielungen auf aktuelle Korruption und Gewalt im gefährdeten Rechtsstaat ganz abgesehen.

WartenaufnBus2 Joseph Ruben uDas Leben in Warteposition © Joseph Ruben

Ralle und Hannes aber verbreiten diese unverkennbare Familienstimmung, wie sie sich immer wieder in die Wolle kriegen, anpampern, abkrachen und sich gegenseitig aufbauen: So muss es sich im Hundewelpenrudel angefühlt haben: bellen, knurren, raufen, winseln, futtern, und um die schöne Kathrin (saucool: Nicole Lippold) herumschwänzeln.

Serie für’s Theater? Und wie!

Oliver Bukowskis gleichnamige Fernsehserie in zwei Staffeln lief sehr erfolgreich im RBB und war dieses Jahr unter anderem für den Grimme Preis nominiert. Natürlich stellt sich die Frage, ob sich eine Serie auf einen Theaterabend komprimieren lässt? Für Bielefeld lautet die Antwort: Ja, und wie! Das abendfüllende Stück wirkt einerseits durch die aneinandergereihten, meist durch Abblendung und Musik durchbrochenen Szenen wie eine Miniserie, andererseits wie eine durchgängige Erzählung, die das scheinbar endlose Nichtstun an einer Bushaltestelle über verschiedene Handlungsteile auf das Ende hin entwickelt. Das liegt zum einen sicherlich an der starken Textvorlage, aber auch an der von Michael Heicks inszenierten Bühnenfassung (Franziska Eisele und Irene Wildberger), die sowohl den Wortwitz des Drehbuchs als auch zentrale Szenen aus der Serie zu einer mitreißenden Geschichte verarbeitet hat.

Brandenburgerei auf westfälischen Brettern

Die Brandenburgische Landschaft und ihre Einöde ist – pardon Bielefeld! – gar nicht so furchtbar weit vom ostwestfälischen Hinterland entfernt, wo das Leben über Jahrzehnte vom Katholizismus, eh, "geprägt" war; auch hier gibt es "Schweinebauern mit verdreckten Stiefeln" und verlassene Bushäuschen. Jedenfalls macht das energiegeladene Ensemble dieser Ödnis ordentlich Feuer unterm Hinterm und legt nach knapp drei Stunden zum Schluss im Glitzeroutfit nochmal eine beschwingte Salsa aufs Parkett und macht Stimmung, die das Publikum im Saal ansteckt. Mindestens zehn Runden Applaus, ab der fünften Standing Ovations – das Bielefelder Theaterpublikum ist völlig zurecht begeistert von dieser kraftvollen, witzigen Brandenburgerei auf westfälischen Brettern.

Warten auf'n Bus
von Oliver Bukowski
Bühnenfassung von Franziska Eisele und Irene Wildberger
Uraufführung
Regie: Michael Heicks, Dramaturgie: Irene Wildberger, Bühne: Annette Breuer, Michael Heicks, Kostüme: Julia Hattstein, Technische Einrichtung: Robert Schlensok, Beleuchtung: Martin Quade, Ton- und Medientechnik: Falko Heidemann, Christian Frees.
Mit: Alexander Stürmer, Nicole Lippold, Rosalia Warnke, Oliver Baierl, Janis Kuhnt, Brit Dehler, Cornelius Gebert, Thomas Wolff, Isetta von Donegan.
Premiere am 18. November 2021
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.theater-bielefeld.de



Kritikenrundschau

Während der gesamten Uraufführung im Theater "war das Publikum außer sich vor Begeisterung", berichtet Silvana Kreyer in der Glocke (20.11.2021). "An diesem Abend knallen viele Themen aufeinander. Ungebremst und in großer Spielfreude, eine herausragende Leistung toller Schauspieler, die abschließend im Glitzeroutfit einen pfeffrigen Salsa aufs Parkett hinlegten."

Ein "herzergreifend-humorvolles Stück" und "darstellerische Klasse der Akteure" sah Burgit Hörttrich fürs Westfalen-Blatt (20.11.2021). "Der Abend geht zu Herzen – vor allem dank der beiden grandiosen Hauptdarsteller, die einfach Mensch bleiben und nie das Handtuch werfen."

"Das Stück nur auf Ostdeutsche mit Anschlussproblemen nach der Wende zu reduzieren, wäre zu wenig. Die Freunde stehen in ihrer Einsiedelei für viele, die ihren persönlichen Busfahrplan verloren haben und längst keine Fahrkarte mehr lösen", schreibt Maria Frickenstein in der Neuen Westfälischen (20.11.2021). "Zwei Stunden, 40 Minuten dauert das Stück und das Warten mit ihnen ist keineswegs ein Treten auf der Stelle, denn hier zieht eine lebendig gut gespielte Lebensgeschichte in den Bann."

Wirklich "bissig" sei Oliver Bukowskis "Jammer-Ossi-Comedy nicht geraten", berichtet Michael Laages für die Deutsche Bühne online (19.11.2021) die Theaterfassung sei "nicht wirklich angekommen in Bielefeld". Bei "ehrlicher Betrachtung bleiben Bukowskis rabiat aber präzise gesetzten Pointen erschreckend fremd", heißt es, und "auch die Serien-Dramaturgie" funktioniere "nicht einfach so auf der Theaterbühne: Episödchen reiht sich zwar an Episödchen, aber es (geht) nicht voran, immer nur weiter; und da es das Team um Intendant Michael Heicks im kleinen Theater am Alten Markt beim Einheitsbühnenbild zuzüglich sparsamer Requisiten bewenden lässt, werden die TV-bedingten Begrenztheiten der Vorlage erst recht deutlich."

 

Kommentare  
Warten auf'n Bus, Bielefeld: Pfeffriges Plagiat
Wir gratulieren Silvana Kreyer zum gelungenen Salsa-Satz im geborgten Glitzeroutfit.
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