Polyglotte Emoción

20. November 2021. Drei Kölner und drei mexikanische Schauspieler:innen. Übertitel auf Deutsch, Spanisch und Englisch. Und doch keine Sprachbarrieren, sondern Mittel, mit denen David Gaitán den ausladenen Drogenbanden-Milieu-Roman "Der Wilde" von Guillermo Arriaga überzeugend auf die Bühne bringt.

Von Gerhard Preußer

Mitschuldige unter sich: David Gaitáns Inszenierung "Der Wilde" am Schauspiel Köln © Krafft Angerer

20. November 2021. Eine friedliche Zukunft, gegenseitiger Respekt als Grundprinzip, grenzenlose Hilfsbereitschaft - das ist, was alle wollen. Und wie können wir diese Utopie verwirklichen? Durch einen letzten Krieg, durch die Vernichtung des Teufels. So predigt es Humberto, der Anführer einer christlichen Sektierergruppe. Und schon sind wir mit ihm aus idyllischen Träumen hineingeschlittert in die brutale Wirklichkeit Mexikos am Ende der Sechzigerjahre.

Der mexikanische Regisseur David Gaitán bringt Guillermo Arriagas Roman "Der Wilde" in Köln auf die Bühne, oder genauer Teile davon. Der 700-Seiten-Roman von 2016 ist weitläufig wie eine Kathedrale mit Seitenkapellen, Katakomben und bunten Fenstern nach Draußen, die verschiedene Geschichten erzählen. Gaitán beschränkt sich auf die Geschichte Cincos, eines 14-jährigen Jungen, dessen Bruder von christlichen Fanatikern in Selbstjustiz umgebracht wird, dessen Großmutter stirbt und dessen Eltern sich umbringen. Eine Geschichte von Leben, Tod und Liebe, Gewalt, Verzweiflung und Rache. Große Themen, hier werden sie verkleinert, auf Normalmenschenformat gebracht, erlebbar.

Kartellbildung der Hippie-Ära

Die Bühne ist ein Gewirr von Möbeln der Sechzigerjahre, Sofas, Sessel, Tische, Schränke, ein Bett. Die privaten Verhältnisse stehen im Vordergrund, obwohl dahinter eine Gesellschaft von Korruption und Heuchelei deutlich wird, in der gewaltsame Auseinandersetzungen die Regel sind. Gaitáns Fassung vermeidet die Assoziationen zum heutigen Mexiko des organisierten Drogenkriegs. Cincos Bruder handelt mit Morphium und LSD, aber das ist ein kleines Geschäft, noch getragen von der Euphorie der Bewusstseinserweiterung der 60er Jahre, in einer Gesellschaft der großen Korruption, und noch nicht das mörderische Milliardenbusiness der Kartelle.

Es beginnt mit Witzen: drei deutsche Schauspieler:innen erzählen drei mexikanischen Schauspieler:innen den Witz vom Vampir und den zwei Radlern. Verzweifelte Übersetzungsversuche nutzen nichts: man versteht sich nicht. Die Mexikaner:innen revanchierten sich mit einem Witz auf Spanisch: wieder Unverständnis, aber Lachen auf Kommando. Das ist das größte Wagnis der Inszenierung: drei Kölner und drei mexikanische Schauspieler:innen gemeinsam auf der Bühne ohne eine gemeinsame Sprache. Und das gelingt.

Schreie aus dem Wassertank

Drei große Projektionsflächen über der Bühne zeigen parallel Übertitel auf Deutsch, Spanisch und Englisch. Auch die Darsteller:innen sprechen alle drei Sprachen bei passender Gelegenheit. Emoción ist das Verständigungsmittel. Die Mexikaner:innen reißen die Deutschen mit. Szenen und Rollen werden rasend schnell gewechselt, ohne chronologische Folge. Vor der Pause hört man die gurgelnden Schreie, wie Cincos Bruder, der belesene Drogenhändler, von den christgetreuen Mördern in einem Wassertank ertränkt wird. Erst nach der Pause erfährt man, wie es dazu kam, wie Cinco in die Mitschuld am Tod des eigenen Bruders getrieben wurde.

DerWilde 1 KrafftAngerer uZwischen Korruption, Drogenhandel und familiären Verbindungen: "Der Wilde" © Krafft Angerer 

Wenn es irgendeinen Beweis gibt, dass Zuschauen kein passiver Zustand, sondern eine kreative Tätigkeit ist, dann diese Inszenierung: man synthetisiert ständig drei Sprachen, ordnet blitzschnell die Chronologie der Ereignisse, identifiziert die wechselnden Rollen der Schauspieler:innen. Das Wunderbare ist, dieses Gehirnjogging macht Spaß, weil es emotionsgesteuert ist. Cincos Verzweiflung wird getanzt.

Dazu hämmert Pablo Chemor Neto auf dem Klavier, Raul Villegas Roman lässt die Orgel dröhnen und Benjamin Höppner und Stefko Hanuschevsky verzerren und verflüssigen ihre Körper. Humbertos Teufels-Lied: "An intuition, a fire, telling us to change the world" wird von allen sechs mit Feuer in den Stimmen gesungen und instrumental begleitet, ähnlich, aber in einem gespenstischen a cappella-Arrangement, der Abschiedsbrief von Humbertos Mutter, die im Tod ihren mörderischen Sohn anklagt.

Mitreißend

Im zweiten Teil öffnet sich die Rückwand der Bühne und ein Wald mit kahlen Baumstämmen wird sichtbar. Dort finden Cincos Freunde ihn und überreden ihn zur Rückkehr: "Wahre Freundschaft heißt, alles in Frage zu stellen." Am Ende wird aus dieser Ödnis ein lieblicher Wald, alle Schauspieler:innen versammeln sich dort, reden durcheinander in ihren Sprachen und verstehen sich. Dann singen sie heiter "The ending is landing" oder so ähnlich. Da ist sie nun, die friedliche Zukunft mit allseitiger Verständigung, ohne Teufel und ohne Gott.

Natürlich kann das Theater mit einem Roman machen, was es will, ganze Handlungsstränge weglassen, umstellen, hinzuerfinden, ein happy ending ankleben, das es nicht gibt. Theater ist eine Mischkunst, die sich ihre Effekte aus den verschiedensten Bereichen zusammenholt, um daraus mit gegenwärtigen Menschen ein Ereignis vor gegenwärtigen Menschen zu machen. Kein Erklärbar nötig. Aber dass es sich auch nach dieser mitreißenden Inszenierung immer noch lohnt, den Roman zu lesen, darf man verraten.

 

Der Wilde
nach dem Roman von Guillermo Arriaga
in einer Bühnenfassung von David Gaitán
In spanischer, englischer und deutscher Sprache
Regie: David Gaitán, Bühne & Kostüm: Mario Del Rio, Licht: Jan Steinfatt, Dramaturgie: Stawrula Panagiotaki.
Mit: Stefko Hanushevsky, Benjamin Höppner, Seán Mcdonagh, Raúl Villegas Román, Paula Watson Ruiz, Pablo Chemor Nieto (Live Musik).
Premiere am 19. November 2021
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.schauspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

Es bedürfe "einer gewissen Anstrengung, dem komplexen Handlungsverlauf in allen Nuancen zu folgen, auch wenn die Schauspieler wunderbar spielerisch und mitunter sehr humorvoll mit der Sprach-Trias umgehen", schreibt Norbert Raffelsiefen im Kölner Stadt-Anzeiger (22.11.2021). "Die fesselnde Dramatik des Stückes entwickelt sich dabei weniger aus der Action, die Gaitán gezielt aus dem Abenteuerplot des Romans herausgestrichen hat, sondern aus den intensiven psychologischen, philosophischen und spirituellen Momenten der Geschichte."

Auch für Bernd Wilms von der Kölnischen Rundschau (22.11.2021) entwickelt dieser "dunkel schillernde Theaterabend" zunehmend einen "Sog". Die Verknüpfung der Ereignisse sei durch die Mehrsprachigkeit und die zeitlichen Umstellungen der Erzählung erschwert. Doch: "Irgendwann wundert es einen auch nicht mehr, dass die Dialoge ebenso um Liebe und Hass wie um die Mondlandung und Sokrates kreisen“.

Für Stefan Keim in "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (20.11.2021) ist diese Aufführung ein "absolut netter Abend", der Gewaltdarstellungen und Abgründe ausspart, auch um Klischees von Mexiko zu vermeiden. Es gäbe an darin klare Diskussionen und auch "einige packende Szenen" und "schöne musikalische Momente", aber "ich erfahre eigentlich überhaupt nichts über Mexiko" und "nichts über andere Sichtweisen auf die Welt", zeigt sich der Kritiker leicht enttäuscht.

"Durch die Sprachmixtur entsteht ein eindrückliches Bild des Drogenmilieus in Mexiko“, schreibt Kevin Hanschke von der FAZ (29.11.2021) ."Gewaltdarstellungen werden bei Gaitán ausgespart. Dadurch gleitet das Stück nicht in Klischees über Lateinamerika ab, sondern bleibt eine Parabel über Verarbeitung und Rache." Besonders die letzte Szene sei herzzerreißend.

 

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