Zur Hölle mit der Emanzipation!

4. Dezember 2021. Gender Trouble from hell: Frank Wedekinds Franziska wünscht sich Freiheit, Selbstbestimmung & Sex und braucht dafür einen Teufelspakt der sie, tja, zum Mann macht. Aber statt Genuss und Rock'n Roll gibt's bald Ehetristesse im Eigenheim. Bei Pınar Karabulut in Bremen fegen Goethe und Lady Gaga durch eine "Polly Pocket"-Vorhölle.

Von Jan-Paul Koopmann

"Franziska. Ein modernes Mysterium" am Theater Bremen © Jörg Landsberg

4. Dezember 2021. "Tschö", sagt Mephistopheles und ward nicht mehr gesehen. Er hatte sich kurz im Stück geirrt, so heißt es, und ist mit Doktor Faust im Schlepptau gleich wieder rüber zur eigenen Party in Goethes Nachbarkneipe gehinkt. Gebrauchen konnte die beiden hier aber auch wirklich niemand. "Franziska", Frank Wedekinds "modernes Mysterium", hat schließlich einen eigenen Satan und für neue Männerrollen auch gar keinen Platz – schon gar nicht in der Bremer Inszenierung von Pınar Karabulut.

Eine Prise "Faust" gefällig?

Aber schön sind sie doch, die "Faust"-Bezüge, die bei Wedekind bereits angelegt sind, die Karabulut in ihrer recht freien Fassung aber noch weiter herauskitzelt und mit teuflisch-prominentem Gastauftritt und einschlägigen Zitaten garniert. Bemerkenswert ist diese wohldosierte Nachjustierung auch deshalb, weil Karabulut ansonsten nicht gerade feinfühlig mit dem umgeht, was Wedekinds Text an unterentwickelten Ideen und hehren Absichten so zu bieten hat. Im Gegenteil: Ihre Inszenierung ist die schwungvolle Abrechnung mit einem Stoff, der tatsächlich vieles sehr viel besser meint als macht.

Franziska 3 JoergLandsberg uAlexander Swoboda, Christian Freund, Ferdinand Lehmann lungern in der "Polly Pocket"-Vorhölle © Jörg Landsberg

Die Geschichte geht so: Die junge Franziska sehnt sich nach Freiheit und Entfaltung, nach reichlich Sex und noch mehr Selbstverwirklichung. Und weil das als Frau eben anders nicht zu haben ist, schlägt sie beim Pakt mit "Sternenlenker" Veit Kunz ein, der sie für zwei Jahre zum Mann macht – nicht aus Großherzigkeit, versteht sich, sondern weil Franziska ihm nach der Rückverwandlung planmäßig verfallen soll und er sich nun mal eine Leibeigene wünscht, die ihre Erfahrungen gemacht hat, "der nichts Menschenmögliches unbekannt geblieben ist."

Den Faust sozusagen zu entmannen, war nicht nur zur Uraufführung 1911 ein vielversprechender Gedanke, sondern lohnte sicher auch heute noch – wenn Wedekinds Emanzipationsvorstellung nicht darin versackte, Franziska halt mal zum Mann und schließlich zur selbstgenügsamen Mutter zu machen.

Ich liebe die Menschen mehr als die Wahrheit

In Bremen ist ihr erlösendes Kind hingegen nur noch eine Randnotiz, taucht persönlich gar nicht auf, sondern wurde mitsamt des fünften Aktes und allerlei Ballast auf dem Weg gestrichen. Was drin bleibt, ist eine ganze Batterie ansprechend hektischer Figuren zweier-, dreier- oder keinerlei Geschlechts, die aus sympathischer Distanz mal auf- und dann wieder vorgeführt werden – die ihre Geschichten zwar erzählen, aber doch nie darauf abheben, hier gesellschaftliche Realitäten spiegeln oder gar erklären zu wollen. "Ich liebe die Menschen mehr als die Wahrheit", heißt es schon bei Wedekind: ein Satz, der auf der Bremer Bühne seinen ganz eigenen Klang findet.

Apropos Klang: Laut ist es hier. Bässe wummern, Schauspieler:innen brüllen, manchmal kriegt wer auf die Fresse und wird mit dem Kopf auf die Tischkante gepfeffert. Rings um ein gewaltiges Plateau in leuchtendem Lila schleichen und staksen Figuren, die auf sonderbar cartoonhafte Weise nach ihrer Bestimmung erst noch suchen. Eine besondere Freude ist hier Fania Sorel in der Titelrolle, wie sie mit Riesenbrille, Prinz-Eisenherz-Frisur, grotesken Puffärmeln, Schnauzer und Tennissocken ein zwar irgendwie gender-codiertes, aber eben nicht limitierendes Bildarsenal in Bewegung versetzt: Sie ist nicht mal der Franz, dann die Franziska, sondern in konsequent offenen Versuchen: Franz:iska.

Ihre trippelnden Bewegungen, ihre aufgestauten Energien, stehen dabei in so krassem wie nachhaltigem Kontrast zu Annemaaike Bakker als Teufel und Manager Kunz, die ausstaffiert zwischen Fetischparty und Step-Aerobic-Kurs den Raum füllt. Was sie da vorführt ist eine Art metaphysisches Manspreading, das nicht zuletzt dank Aleksandra Pavlovićs phantastischer Kostümierung längst an Lady Gaga denken ließ, als Bakker deren "LoveGame" als dynamische Gesangs- und Showeinlage performt.

Im pastellfarbenen "Polly Pocket"-Eigenheim

Inzwischen hat sich auch das lila Plateau geöffnet und den eigentlichen Zauber von Johanna Stenzels Bühnenaufbau offenbart: Im Inneren steckt ein "Polly Pocket"-Eigenheim in grässlich-schönen Pastellfarben. Falls wer den 90er-Jahre-Trash verpasst oder verdrängt haben sollten: Das ist eine Mischung aus Muschel, Ameisenfarm und Puppenhaus aus allerfeinstem Plastik. Und hier ist es auch der Schauplatz von Franz:iskas Sinn- und Beziehungskrise, Austragungsort der Horrorehe mit Sophie, die Mirjam Rast punktgenau zwischen Hausfrauenkarikatur, Widerstand und Begierde interpretiert. Wenn sie nicht gerade Slow-Motion-Faustkämpfe mit der nicht minder großartigen Lieke Hoppe austrägt, oder ihr rosa Hackebeilchen schwingt, dann wird übrigens auch hier gesungen. Diesmal Gillian Hills' "Zou Bisou Bisou" von 1963, das spätestens seit seiner Wiederentdeckung in der AMC-Serie "Mad Men" geradezu sinnbildlich für die Fallstricke zwischen Empowerment und Sex-Appeal steht … oder doch wenigstens für die Männerphantasien zum Thema.

Franziska 2 JoergLandsberg uFriends of Lady Gaga: Christian Freund, Mirjam Rast, Fania Sorel, Lieke Hoppe, Annemaaike Bakker, Alexander Swoboda, Ferdinand Lehmann in Kostümen von Aleksandra Pavlovic © Jörg Landsberg

Zwischen eskalierender Spielfreude und popkulturellen Eskapaden löst sich klammheimlich auch der Wedekind’sche Plot in seine Bestandteile auf. "Ich bin so hingerissen", sagt Ferdinand Lehmann als Herzog von Rothenburg einmal, "dass ich vom ersten, dem zweiten und dem dritten Akt nicht das geringste begriffen habe." Und das dürfte weiten Teilen des Publikums nicht anders ergangen sein.

Schlimm ist das nicht. Fast als wäre der Wedekind die Mühe am End’ dann doch nicht wert gewesen, verpufft die eingangs noch genussvoll vorgeführte Textexegese, bis irgendwann auch völlig egal ist, warum genau hier eigentlich was passiert – wie sich die eingekürzte Mitte zum gestrichenen Ende verhält. Spaß macht es jedenfalls, auf mehr als einer Ebene. Auch wenn die vor inzwischen mehr als hundert Jahren versprochene weibliche Fausterzählung bei Gelegenheit vielleicht doch nochmal die Mühe wert wäre.

 

Franziska. Ein modernes Mysterium
von Frank Wedekind
Regie: Pinar Karabulut, Bühne: Johanna Stenzel, Kostüme: Aleksandra Pavlovic, Musik: Daniel Murena, Licht: Norman Plathe-Narr, Daniel Thaden, Dramaturgie: Stefan Bläske.
Mit: Fania Sorel, Annemaaike Bakker, Lieke Hoppe, Mirjam Rast, Christian Freund, Ferdinand Lehmann, Alexander Swoboda.
Premiere am 3. Dezember 2021
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause

www.theaterbremen.de

Kritikenrundschau

Benno Schirrmeister in der taz (6.12.21) beschreibt die Inszenierung als "rasanten Bilderbogen, atemberaubend krawallig und rauschhaft bis zum Taumeln." Karabulut fokussiere "die Grundstruktur, macht die direkt parodistischen Szenen stark, infiziert mit diesem respektlosen Spirit durch unmittelbare Faust-Zitate die weniger goetheanischen Bilder und unterstreicht und weitet durch klug montierte Pop-Elemente die Geschlechterkampfdimension". Sorel trage den Ich-will-mehr!-Drang mit großartiger Verve vor. "Dieser Drang, diese Sucht nach Genuss, diese Hetze, die sie sich selbst auferlegt, das ist ihr eigener Weg. Rastlos wie er ist auch die Aufführung."

"Die Inszenierung nutzt nicht nur ein Spielzeug als Bühnenbild, sondern sie spielt auch mit dem Stück", sagt Christine Gorny bei Bremen Zwei (7.12.2021)Der Umgang mit der Vorlage sei "freihändig" und "sehr ironisch". Das geschehe "durchweg sehr gekonnt, wobei Fania Sorel als Franziska besonders herausragt, weil sie selbst in dieser grellen Inszenierung immer noch zerbrechliche Seiten ihrer Figur zeigt". Zu sehen sei eine Inszenierung, die die "darstellerischen Möglichkeiten für einen visuellen Befreiungsschlag" ausnutze.

Kommentare  
Franziska, Bremen: Geschenk
Es ist wirklich ein Geschenk dass Michael Börgerding und das Theater Bremen Frau Karabulut für sich gewinnen konnten. Ein Abend der aus der Reihe fällt, voller Energie und Spielfreude.
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