Modenschau mit Ungeheuern

4. Dezember 2021. Der Tanzstil "Voguing" spielt auf die Welt der Reichen und Schönen und Hochglanzmagazinfähigen an. Aber wie sieht das Amerika unterhalb des "Vogue"-Radars aus? Trajal Harrells großer Tanzabend im Schiffbau Zürich verbindet Pose und Pathos einer gespaltenen Gesellschaft.

Von Valeria Heintges

Jeremy Nedd in Trajal Harrells "Monkey off My Back" © Orpheas Emirzas

4. Dezember 2021. "Hallo, mein Name ist Anna Wintour", sagt Trajal Harrell verwandlungsfreudig. Der Choreograph Trjal Harrell habe sie eingeladen, auf seiner nächsten Show zu tanzen. Aber sie sei doch gar keine Tänzerin, habe Anna Wintour da gesagt. Doch wenn sie ein "liver" sei, also ein lebendiger Menschen, dann gelte auch für sie: "If you live, you sometimes have to dance".

Mit dem Hüftschwung der Mannequins

Mit seiner Verwandlung in die "Vogue"-Chefredakteurin Wintour verweist Trajal Harrell augenzwinkernd auf die Ursprünge des Tanzstils, der im Namen "Voguing" die Welt der Laufstege und exklusiven Moden anklingen lässt. Entstanden ist das Voguing laut Wikipedia "in den 1970er Jahren in der Ballroom-Szene der marginalisierten homosexuellen Subkultur von New York Harlem". Wie ansteckend Voguing sein kann, wie scheinbar leicht es sich lernen lässt, mit Mannequin-Hüftschwung über die Bühne zu staksen und gleichzeitig alle Models dieser Welt als altbacken und von vorgestern zu entlarven – auch das zeigt Trajal Harrell in seinem neuen Werk "Monkey off my Back or the Cat's Meow" in der Zürcher Schiffbau-Halle. Hier sind nicht nur dünne, blonde, weiße Models zu sehen, sondern alle Körperformen und -farben. Es treten nicht nur Harrells Haustänzer auf, sondern auch viele der dem Sprechtheater zuzuordnenden Ensemblemitglieder. Und es scheint, als mache es allen 18 Darsteller*innen, unter die sich Harrell zuweilen selbst mischt, Spaß, den glattgebügelten Modebegriff in allen Belangen zu hinterfragen.

Harrell stiftet dabei als sein eigener Ausstatter die Kostüm- und Requisitenabteilung zu Höchstleistungen an. Fast jedes Kleid ist eine Augenweide. Etwa das lila-grün-rosa-weiß gefleckte von Alicia Aumüller, das sich wie ein Petticoat über den Knien aufbäumt und mit gigantischer Schleife über der Brust seinen Abschluss findet. Das wäre allerliebst und oberkitschig, steckten nicht Aumüllers Beine in einer ähnlich gefleckten Strumpfhose, die das ganze fast zur Tarnkleidung in entsprechend lila-grüner Umgebung werden lässt.

Wuchernde Stoffgebilde

Im vierten Teil von fünf, unter dem Titel "Nichts für Herzkranke", schlängelt sich den Mannequins gleich eine Vielzahl von Unterwasser-Ungeheuern um den Hals. So jedenfalls sehen sie aus, die dreidimensional, pilzartig wuchernden Stoffgebilde, die den beinahe bieder aussehenden Kleidern das gewisse Etwas an den Hals legen.

Monkey off my Back 2 OrpheasEmirzas uAlicia Aumüller auf der Piet Mondrian-Bühne von Trajal Harrell und Erik Flatmo © Orpheas Emirzas

Aber auch wenn ohne Unterlass Mannequins die riesige Bühne in der Schiffbau-Halle abschreiten und die Zuschauer auf zwei Tribünen wie vor einem Cat Walk sitzen (Bühne: Harrell und Erik Flatmo), so ist die Modeschau nur ein Teil des Abends. Ein anderer ist die Stilisierung, die Überhöhung – und die Vereinzelung: Darauf weist schon der Bühnenteppich, der ganz im Stil eines Piet-Mondrian-Werkes mit strengen Strichen die Farbflächen voneinander trennt, das Schwarz und das Weiß, mit den wenigen blauen, roten und gelben Rechtecken dazwischen. Darauf stehen große Couchgarnituren und in der Mitte ein Marmortisch, der als Präsentationsempore dient und unter dem sich Reste eines Kinderzimmers zeigen. Ein Luftballon-Pferd mit Papierbeinen schaut hervor und wiegt sich im Ventilator-Wind.

Schmerz bricht in die Poserei ein

Harrells anderes Steckenpferd, der japanische Butoh-Tanz, stellt sich immer wieder quer zur fließenden Vogue-Bewegung, wenn die Tänzer sich wie in sich versunken in ihren Armen verbergen, ihren Körper bewegen, als wäre der Muskeltonus bis zur Verkrampfung erhöht. Ungeheuer verletzlich wirkt das, als brächen Alter, Krankheit und Gebrechen in all die Poserei hinein.

Offen liegt der Schmerz der Black- und der LGBTQ*-Community zwischen und über all der Schönheit. So bezeichnet der Titel "Monkey off my back" ein Problem, das man abwirft wie einen Affen vom Rücken. Im zweiten Teil etwa peitscht der Text der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung brutal und kraftvoll in ganzer Länge durch den Raum. Dazu gruppieren sich die Akteure zu Duetten, allerdings mit meterweise Platz dazwischen, lassen alles wie eine Parodie auf Hoftänze wirken. Wenn die Sätze immer weiter prasseln, die Darsteller*innen immer wilder tanzen, beschreibt das den maladen Zustand der (amerikanischen) Demokratie mehr als deutlich. Es stand ja ohnehin schon vorher auf den Plastikhüllen, in die sich manche Models gewickelt haben. "The king is naked. Shout out aloud."

Auch zieht die Musik von Harrell und Asma Maroof eine weitere Ebene ein. Laura Nyros trauriger Song "Been on a train" ist eine Geschichte voller Drogen und Schmerz. Genauso Steve Reichs "Come out", das wie ein Sampler unendlich oft die Worte "Come out and show him" aneinanderreiht. Die sagte ein Verletzter in den Harlem Riots 1964 – weil die Polizei nur offensichtlich Verletzte ins Krankenhaus bringen lässt, muss er sich Blut aus dem Bein quetschen.

Man muss das wissen, um die Szene in Gänze zu erfassen. Aber in der Weite des Bühnenraums erfasst ohnehin niemand alle Details, ist man oft auch zu eigenen Assoziationen aufgefordert. Und kann dabei auch mal darüber hinwegsehen, dass sich manche Szenen etwas in die Länge ziehen.

 

Monkey off My Back or the Cat’s Meow
A piece for dancers and actors
von Trajal Harrell
Inszenierung, Choreografie, Bühne, Kostüme, Soundtrack: Trajal Harrell, Rehearsal Director: Maria Ferreira Silva, Ondrej Vidlar, Co-Soundtrack: Asma Maroof, Co-Bühne: Erik Flatmo, Licht: Stéfane Perraud, Dramaturgie: Laura Paetau, Tobias Staab.
Mit: Titilayo Adebayo, Alicia Aumüller, Frances Chiaverini, Sultan Çoban, Adel Sze-Farragne, Trajal Harrell, Tabita Johannes, Thibault Lac, Nasheeka Nedsreal, Perle Palombe: Karin Pfammatter, Maximilian Reichert, Lena Schwarz, Stephen Thompson, Songhay Toldon, Jeremy Nedd, Thomas Wodianka.
Premiere am 3. Dezember 2021
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

Kritikenrundschau

Christian Gampert im Deutschlandfunk Kultur (3.12.21) beschreibt, wie sich über Körperhaltungen, Bewegungen aber auch modische Accessoires "Stolz und sexueller Fluidität" angenährt wird. Die Tänzer:innen würden sich im Laufe des Abends immer wieder in Identitäten neu erfinden. Es sei teilweise "wirklich genial", wie ein semiologisches modisches System vorgezeigt werde. "Freudig, offensiv und politisch aufmüpfig" - und absolut ansteckend nennt der Kritiker den Abend abschließend.

"Was für ein grossartiges Spektakel!", ruft Lilo Weber in der Neuen Zürcher Zeitung (4.12.21) aus. Trajal Harrels Mittel seien Zitat, Imitation, Parodie – "das Medium ist der Tanz, genauer der Tanzstil Voguing, der selbst Zitat und Imitation ist." Dennoch sei der Abend mehr als ein "Stück der Imitate". Denn wenn die Tänzer:innen "verbissen ihre letzten Runden drehen, blitzt eine Wirklichkeit auf, die weit weg vom Glamour der Modewelt führt: in die bodenlosen Tiefen dunkelster Trauer."

"Wenn die Sätze immer weiter peitschen, die Darstellenden immer wilder tanzen, beschreibt das den maladen Zustand der (amerikanischen) Demokratie deutlich", so Valeria Heintges in der Aargauer Zeitung (6.12.21). So sei "die Modeschau nur ein Teil des Abends. Ebenso geht es um Stilisierung, Überhöhung und Vereinzelung". Man könne hier nicht alles erfassen, ist "oft auch zu eigenen Assoziationen aufgefordert. Der Abend ist schillernd, kraftvoll und spannend." Und nicht zuletzt "ein Aufschrei gegen Rassismus".

Kommentare  
Monkey off My Back, Zürich: Modedesigner!
Es wäre reizvoll, zu dieser phantasievolle Modeschau, wie sie Valeria Heintges beschreibt und die Trajal Harrell im Schiffbau präsentiert, Modedesignern einzuladen. Ida Gut aus Zürich oder den in St.Gallen tätigen Albert Kriemler mit seiner Linie Akris, die in Paris und New York als einziges Schweizer Modelabel, könnten in der ersten Reihe vor dem Laufsteg sitzen und sich nachher zu dieser bunten Vielfalt von Kleidern äussern. Dieser Abend im Schiffbau hat Schwung. Und wie!
Kommentar schreiben