Euphorie und Theaterhunger

6. Dezember 2021. Das Hessische Staatstheater Wiesbaden war mit seiner Daniel-Kehlmann-Adaption "Tyll" zum Baghdad International Theater Festival eingeladen – und traf dort in einem Panorama von Inszenierungen, überwiegend aus der arabischsprachigen Welt, auf ein theaterbegeistertes Publikum. Ein Festivalbericht aus europäischer Perspektive.

Von Wolfgang Behrens

Nach dem "Tyll"-Gastspiel in Bagdad: Das Ensemble mit Zuschauer:innen auf der Bühne © Wolfgang Behrens

6. Dezember 2021. Noch im Schlussapplaus der Festival-Vorstellung "Yes Godot" im Al-Raschid-Theater in Bagdad dreht sich ein irakischer Mann zu uns Deutschen um und wiederholt mehrfach erregt: "You cannot understand it! It's so local! You cannot understand it!" Einer unserer Schauspieler widerspricht: Er glaube, eine Menge verstanden zu haben. Aber der Iraker ist nicht zu beruhigen – das sei nichts für uns, das könne man nur hier in Bagdad verstehen.

Verhältnis zum Westen

Seltsamerweise spielt sich diese kleine Szene ausgerechnet nach der einzigen Inszenierung ab, bei der unsere kleine Delegation vom Hessischen Staatstheater Wiesbaden keine sprachlichen Verständnisschwierigkeiten hat, denn "Yes Godot" des irakischen Regisseurs Anas Abdul Samad kommt gänzlich ohne Worte aus. Und auch die künstlerische Setzung ist durchaus anschlussfähig, da sie sich umstandslos als eine Adaption westlicher Performance- und Happening-Ästhetiken lesen lässt. Trotzdem oder gerade deswegen entsteht unter den deutschen Schauspieler:innen hinterher eine Diskussion über die Qualität der Aufführung. Die einen wollen einen schlechten Abklatsch europäischer Avantgarde gesehen haben, die anderen eine unter die Haut gehende theatrale Installation.

Yes Godot c Anas Abdul SamatSzenenbild aus "Yes Godot" © Anas Abdul Samat

"Yes Godot" macht dieses Verhältnis zum Westen und seiner künstlerischen Tradition selbst zum Thema. Eine aus Pappkartons erbaute Stadt, die sich unschwer als Bagdad identifizieren lässt, wird zu Beginn pantomimisch von Flugzeugen angegriffen. Im Laufe der Performance verwahrlost und verwildert diese Stadt immer mehr, am Ende ist sie von Grünzeug überwuchert und wird von (realen) Kaninchen durchstreift. Vorher jedoch beherbergt sie Figuren aus Samuel Becketts "Warten auf Godot" – Wladimir, Estragon und Lucky (der Sklaventreiber Pozzo wird hier nicht gebraucht) –, die im kriegszerrütteten Bagdad eine sinnlose Existenz führen. Wenn sie zwischenzeitlich eine Projektion ihres Autors Beckett mit Eiern bewerfen, wirkt das wie ein absurd-verzweifelter Aufstand sowohl gegen ihren Schöpfer als auch gegen den Westen im Allgemeinen. Absurd ist dieses Anrennen nicht zuletzt deswegen, weil es die Figuren ohne ihren Autor ebensowenig gäbe wie diese Inszenierung ohne den Einfluss des westlichen Theaters. Der Wut der Aufführung haftet dennoch etwas Authentisches an, denn auch das Bagdad von heute wäre ein anderes ohne das Jahrzehnte währende, vornehmlich militärische Eingreifen des Westens.

Unterbrochene Tradition: Das Baghdad International Theater Festival

In der Tat macht die irakische Hauptstadt an vielen Ecken, die wir bei unseren Shuttle-Transporten durchfahren, einen heruntergekommenen, nur notdürftig wiederhergestellten Eindruck. Bagdad ist eine Stadt, die sich nach Jahrzehnten des Krieges und Bürgerkrieges erst wieder finden muss. Dazu gehört auch das gerade erst wieder langsam sich hervorwagende kulturelle Leben. Um dieses ein wenig mit beleben zu helfen, sind wir hier: Das Hessische Staatstheater Wiesbaden wurde mit Tilo Nests Inszenierung "Tyll" zum 2. Baghdad International Theater Festival eingeladen. Das Festival selbst ist eine Wiedergründung: Als eines der wichtigsten Theaterfestivals der arabischsprachigen Welt hatte es sich zu Saddams Zeiten etabliert, nach langer kriegsbedingter Unterbrechung ist es nun zurückgekehrt, im November 2021 immerhin schon mit der zweiten Ausgabe der neuen Zeit.

Dass wir dabei sein können, ist etwas ganz Besonderes. Für uns, aber auch für die Iraker. Wir selbst sind vor dieser Gastspielreise gewarnt worden: Es gab Widerstände innerhalb unseres eigenen Theaters, aber auch Angehörige und Freunde waren not amused. Und ja – es besteht eine offizielle Reisewarnung des Auswärtigen Amtes für den Irak. Die Schauspieler:innen und den Intendanten freilich musste man nicht lange überzeugen: Eine Aufführung nach Daniel Kehlmanns Roman "Tyll", der wie kaum ein anderes Buch die Schrecken des 30-jährigen Krieges gegenwärtig werden lässt, nach Bagdad zu verfrachten – in eine Gegend, in der alle aus eigenem Erleben wissen, wovon wir sprechen und spielen –, das schien einfach zu schlagend.

Rainer Kuehn mitternaechtliche Einrichtung Bagdad c Wolfgang BehrensMitternächtliche Einrichtung von "Tyll" in Bagdad, im Vordergrund Titeldarsteller Rainer Kühn © Wolfgang Behrens

Die Bedingungen, auf die wir uns einlassen, sind allerdings abenteuerlich. Man hatte uns versprochen, das Bühnenbild vor Ort nachzubauen. Die Kostüme haben wir als Privatgepäck mit auf die Reise genommen. Auf die Bühne des irakischen Nationaltheaters, unseres Spielortes, dürfen wir erstmals 22 Stunden vor der Aufführung. Erst dann wissen wir definitiv, was überhaupt machbar und was vorhanden ist – es ist nicht viel, aber es ist auch nicht wenig. Mit Improvisationstalent, Nachtarbeit und den Übersetzungskünsten eines unserer Beleuchtungstechniker gelingt es schließlich, in Bagdad eine Arbeit zu präsentieren, die dem Wiesbadener "Tyll" doch im Wesentlichen gleicht.

Wie sehr die Kultur in Bagdad noch am Neuanfang steht, lässt sich bereits am Zustand der Gebäude ablesen. Das Al-Raschid-Theater – dem Al-Mansour-Hotel, das als Festivalzentrum dient, direkt gegenüber gelegen – ist vor 17 Jahren in weiten Teilen zerstört worden und wurde nun mit großem Einsatz für diese Festivalausgabe erstmals wieder spielfähig gemacht. Das irakische Nationaltheater wiederum, ein gigantischer Bau mit Riesenbühne und einem über 1000 Personen fassenden Zuschauerraum, liegt den größten Teil des Jahres im Dornröschenschlaf. Vier- oder fünfmal im Jahr spielen hier freie Gruppen zwei oder drei Vorstellungen. Entsprechend ungepflegt ist die Infrastruktur: verstaubte Proberäume, keine Duschgelegenheiten für die Darsteller:innen, Gerümpel in Fluren und Zugängen, ein unbenutzbares Inspizientenpult aus vorvergangener Zeit. All diese Mängel aber verblassen vor der Begeisterung der Festivalmacher:innen für ihre Mission und vor der ungeheuren Zuschaulust der Menschen, von der sich das Festival speist.

Teilnehmendes Publikum

Diese Zuschaulust erleben wir gleich in der ersten von uns besuchten Vorstellung. Schon die Einlasssituation hat etwas Verblüffendes: Es gibt keine Tickets. Der Saal füllt sich einfach so lange, bis die Plätze (und zum Teil auch die Treppen) besetzt sind. Die Ansage, dass die Handys auszuschalten seien, wird ignoriert: Während der Aufführung wird gefilmt und fotografiert, manchmal auch geredet oder telefoniert. Und manche Zuschauer gehen auch schnell wieder, um entweder ganz fortzubleiben oder ein paar Minuten später zurückzukommen. Trotzdem ist die Aufmerksamkeit greifbar. Gegeben wird Dario Fos "Bezahlt wird nicht!" in einer syrischen Inszenierung aus Damaskus (Regie: Ayman Zeidan). Und wirklich stellt sich der volkstheatrale Charakter des Stücks in dieser unruhigen Atmosphäre deutlich besser her, als man es von deutschsprachigen Aufführungen kennt: Die Syrer bieten herrlich komödiantische Typen auf, die auf die unmittelbaren Reaktionen des Publikums rechnen können. Szenenapplaus, Zwischenrufe, sogar kurze Dialoge mit den Darsteller:innen – am Schluss entlädt sich ein heftiger, aber sehr kurzer Schlussapplaus, ehe viele aus dem Publikum die Bühne erstürmen, um mit den Schauspieler:innen zusammen Selfies aufzunehmen. Dieses Zuschaumuster sollte sich bei allen anderen Vorstellungen wiederholen.

Zuschauer im Nationaltheater c Wolfgang BehrensZuschauer im Nationaltheater © Wolfgang Behrens

In jenen Inszenierungen des Bagdader Festivals, denen europäische Stoffe zugrunde liegen, wie eben in "Bezahlt wird nicht!" und "Yes Godot" – oder auch in einer kurdischen, in den Keller einer lehmhellen Wüstenbehausung verlegten Variante von Gorkis "Nachtasyl" –, findet der an der europäischen Kultur ausgerichtete Blick bei allen Besonderheiten der konkreten Spielweise naturgemäß Anknüpfungspunkte. Wir erleben indes auch, wie sämtliche Bewertungsmaßstäbe kollabieren können. Mit Vorschusslorbeeren war etwa eine Produktion aus dem Oman angereist: "Henna-Schläger" (oder "Henna-Stampfer" – ich bin bei der korrekten Übersetzung des Titels unsicher) der Theatertruppe Mazoon in der Regie von Yousef Al Balushi hatte bereits bei zwei arabischsprachigen Festivals Preise abgeräumt, beim Schardscha Golf-Festival in den Vereinigten Arabischen Emiraten und bei einem Festival für frei produziertes Theater im ägyptischen Alexandria.

Mit großem Personalaufwand und volksmusikalischen Einlagen entfaltet sich in "Henna-Schläger" das große Tableau einer von einem Tyrannen beherrschten Stadt, in der Henna verarbeitet und gehandelt wird. Die Widerstandsgeschichte, die sich nun vor den Augen des Publikums in folkloristisch gehaltenen Kostümen abspielt, wird von einem naiv anmutenden Pathos getragen, das mitunter ins Rituelle kippt. Rhythmisch in einem Henna-Mörser stampfend, trägt etwa eine Mutter minutenlang einen Klagemonolog vor. Kurioserweise ahnt das irakische Publikum – offenbar aufgrund subtiler Steigerungszeichen – das Ende solcher Szenen immer voraus und spendet in die Höhepunkte hinein spontanen Beifall. Wir deutschen Zuschauer hingegen sitzen fasziniert und ratlos. Eine unserer Schauspielerinnen bringt es auf den Punkt: Für uns ist nicht unterscheidbar, ob es sich um eine Aufführung von heute oder um eine von vor 1000 Jahren handelt, um Kunst oder Folklore.

Henna3 c unbekanntSzenenbild aus der vielgepriesenen Produktion "Henna-Schläger"

Und unser "Tyll"? Er wird von den Festivalbesucher:innen mit ungemeiner Neugier aufgenommen. Enorm berührend ist für uns der Moment, in dem der Schauspieler Rainer Kühn als Tyll die (arabisch übertitelte) Frage stellt, ob das Publikum mit ihm auf die Reise gehen wolle. Hunderte Kehlen rufen ihm Zustimmung entgegen. Eine Szene, in der Tylls Vater, der Müller, unter Einsatz von Eimern voller Wasser und Kunstblut gefoltert wird, erhält lauten Szenenapplaus. Wenn Tylls Gefährtin Nele stirbt, kehrt im Theater ein seltener Moment der Ruhe ein.

Am Vormittag nach den jeweiligen Vorstellungen vollzieht sich in einem Tagungssaal des Hotels und Festivalzentrums ein seltsames Ritual. Einige Kritiker, meist ältere Herren und immerhin auch eine Frau, besprechen sehr ernsthaft das am Vortag Gesehene. Sie tun es offenbar vor allem für sich, als eine Art Selbstbestätigung des kritischen Sprechens, das es auch braucht, um die Theaterkultur wieder an den Start zu bringen. Als "Tyll" an die Reihe kommt, sagen sie viel Lobendes, manch Interessantes, aber auch Merkwürdiges. Für einen zeigt die Aufführung den in Deutschland nach wie vor bestimmenden Einfluss von Bertolt Brecht (!). Und einer sagt gar: "Erst wenn die Schauspielkunst auf einem solchen Niveau ist, darf sie es wagen, die Politik zu kritisieren."

Man möchte diesen Satz so kaum hinnehmen. Denn wo könnte die Kunst des Theaters derzeit politisch wirkungsloser sein als in deutschsprachigen Landen? Doch natürlich hat der irakische Kritiker in diesem Augenblick vor allem über das irakische Theater geredet. Über den Umweg "Tyll" hat er von der Hoffnung gesprochen, sein Land wieder an die internationalen ästhetischen Theaterdiskurse anzuschließen, und von der Sehnsucht, mit einem sich neu konstituierenden irakischen Theater in eine sich neu konstituierende irakische Gesellschaft hineinzustrahlen. Bis dahin ist es sicherlich ein weiter Weg. Euphorie und Theaterhunger aber sind im Übermaß vorhanden. Und auch an kultureller Dialogbereitschaft fehlt es nicht. Es ist nun an uns Europäern, die Berührungsängste abzulegen und das Dialogangebot anzunehmen.

Wolfgang Behrens ist Dramaturg am Hessischen Staatstheater Wiesbaden und Kolumnist von nachtkritik.de. Die Wiesbadener Adaption von Daniel Kehlmanns Roman "Tyll" (Regie: Tilo Nest) hat beim 2. Baghdad International Theater Festival den Gesamtpreis für die beste Aufführung gewonnen.

Kommentare  
Theaterbrief Irak: Klischees auf den Kopf
Wow. Danke für diesen ermutigenden und schönen Beitrag und danke auch für die perspektiverweiternde und mutige Reise nach Bagdad, die so schön die Klischees auf den Kopf stellt.
Kommentar schreiben