Kolumne: Als Ob!
Der Freien Szene fehlt es an Format
7. Dezember 2021. Früher wollte die Freie Szene die Kunst revolutionieren. Heute interessiert sie sich vor allem für Politik. Warum sie so dem Theater schadet.
Von Michael Wolf
7. Dezember 2021. Letzte Woche las ich den Bericht meines Kollegen Falk Schreiber über das Hamburger Nordwind-Festival. Zur Eröffnung erzählte ein nackter Andreas Constantinou davon, wie sein verstorbener Vater unter der Homosexualität des Sohns gelitten habe. Später feierte Mable Preach mit und für Freunde eine Art intersektionale Drag-Party. In früheren Jahrgängen reüssierten bei Nordwind die dänisch-österreichischen Performer von SIGNA, auch Vegard Vinge und Inge Müller gaben sich die Ehre. Vom einstigen Skandinavien-Schwerpunkt ist das Festival inzwischen abgerückt, mittlerweile habe es die klassischen Kampnagel-Themen verinnerlicht: "Postmigration, Postkolonialismus, Queerness".
Einstige Innnovationstreiberin
Die Genese des Festivals scheint mir exemplarisch für eine Tendenz in der freien Szene. Früher stand der Begriff für das formale Experiment, für ein Theater, das sich vom als antiquiert kritisierten Stadttheater abgrenzte, das dem Handwerk und allem Tradierten misstraute und in einer Zeit, in der Kritiker sich noch über Videobilder ärgerten, ganz selbstverständlich die Medialität des Theaters in alle Richtungen erweiterte und reflektierte. Was eine Bühne, was ein Stück und was Spiel war, schien den sich selbst stolz als "frei" bezeichnenden Künstlern noch gar nicht ausgemacht, und in eben dieser Verhandlung fanden sie ihre dringlichste Aufgabe. Dass dabei stets viel verkopftes und anstrengendes Theater entstand, das mitunter nur Theaterwissenschaftler interessierte, sei dahingestellt. Die Karrieren von Granden wie Rimini Protokoll oder Forced Entertainment und die Öffnung der Stadttheater für offenere Dramaturgien stehen für die Produktivität der freien Szene: als Innovationstreiberin.
Ein Theater, das sich isoliert
Doch diese Zeiten scheinen vorüber zu sein. Denn heute, so mein Eindruck, ist Avantgarde nicht mehr an die formelle Weiterentwicklung des Theaters als Kunst und Medium gebunden. Im Zentrum stehen stattdessen Themen. Häufig eben die bereits erwähnten: Postmigration, Postkolonialismus, Queerness, man kann hier neuerdings noch die Ökologie hinzufügen.
Welche Konsequenzen folgen daraus? Zunächst ist ein solches Theater oft elitär. Wer in der durchaus voraussetzungsreichen Diskussion um Identitätspolitik auf dem Laufenden bleiben will, sollte in den letzten zehn Jahren ein geisteswissenschaftliches Studium abgeschlossen haben oder besser rasch eines beginnen. Damit verbunden ist eine Isolierung, ein Theater für einzelne Communitys und Peer Groups, das sich gar nicht mehr an eine Stadtgesellschaft richtet, sondern sein Publikum aus den eigenen Kreisen rekrutiert.
Freilich war das nie völlig anders. Die Avantgarde sendet der Definition nach nicht an die breite Masse, sonst wäre sie ja Mainstream. Allerdings besteht ein wichtiger Unterschied darin, dass freie Künstler von früher durchaus noch ästhetische Setzungen anzubieten hatten, die im Theater weiterwirkten, während die neue Avantgarde gar kein großes Interesse an diesem zu erkennen gibt. Die neuen Rebellen wollen die Bühne nicht immer wieder einreißen und neu bauen. Sie nehmen sie stattdessen selbstverständlich als gegeben, wollen lediglich andere Themen und Identitäten ins Scheinwerferlicht rücken. Avanciert zu sein, bedeutet also in erster Linie politisches oder soziales Engagement zu zeigen.
Was es noch nicht ist, was es sein könnte
Das früher vielleicht überstrapazierte Schlagwort des Experiments weicht so dem der Progressivität. Ersteres war politisch durch seinen Formwillen, letztere ist politisch – einfach, weil politische Inhalte verhandelt werden. Die gesellschaftliche Wirkung dürfte gleichwohl marginal ausfallen, weil ohnehin kaum jemand Notiz nimmt, der nicht schon Bescheid weiß. Das Theater als Kunst hingegen gibt so einen Schatz auf, ist es doch auf seine beständige Neuerfindung angewiesen, umso mehr als es immer auch Institution ist, und sich als solche nur äußerst widerwillig weiterentwickelt. Vor allem die freie Szene hat stets frische Impulse gegeben, eben durch ihre Reflexion und Erprobung dessen, was Theater noch nicht ist, aber sein könnte. Es wäre ein großer Verlust, gäbe sie diese Agenda auf, würde sie nur noch Themen abarbeiten, statt neue Formen zu erarbeiten.
Michael Wolf hat Medienwissenschaft und Schreiben in Potsdam, Hildesheim und Wien studiert. Er ist freier Literatur- und Theaterkritiker und gehört seit 2016 der Redaktion von nachtkritik.de an.
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Der Unsinn mit den "Themen" wehte einem schon vor knapp 20 Jahren entgegen und hat weniger mit einem plötzlichen formalen Desinteresse der Theater Machenden zu tun. Sondern zu großen Teilen damit, dass der Umbau der "Förderlandschaft" auf jurybeurteiltes Antragswesen systematisch Argumentations- und Denkweisen begünstigte, die Vorhaben themenzentriert beschrieben und so ihre "Relevanz" jenseits ästhetischer Setzungen begründen konnten. Die Crux in Anträgen für "freie" Projekte besteht ja darin, lang vor Beginn der Arbeit schon darstellen zu müssen, "worum es geht". Es handelt sich hier also wesentlich um einen Effekt struktureller Kulturpolitik.
Dass eine Generation, die aus dem Stadttheatersystem ausstieg, gegen dessen Formkonventionen (aber auch Arbeitsweisen!) anging, ist so nachvollziehbar wie die Tatsache, dass eine andere, die nie Teil dieses Systems war, dies nicht tut. Den nächsten größeren Wandel werden wir vielleicht erst erleben, wenn eine neue Reihe darstellender Künstlerinnen das staatliche Förderwesen und seine Institutionen ebenso entnervt hinter sich zu lassen versucht. Dass sich auf diesem oder anderem Weg aber noch einmal eine "Stadtgesellschaft" alter Prägung finden ließe, bezweifle ich.
Könnte sein, dass die „freie Szene“ die von Ihnen skizzierte Aufgabe also vorbildlich erfüllt? Erscheint mir immerhin denkbar. :)
Herr Wolf vergisst in seinem Bemühen das herabzuwürdigen, was die Relevanz der Kunst ausmacht, dass er eigentlich nur das von ihm beschriebene System validiert.
Themen und Narrative finden in den freien darstellenden Künsten ihren Ausdruck, weil sie (und diejenigen, die sie erzählen) am institutionellen Stadttheater keinen Platz haben. Aber keine Sorge. So wie diese vorher Formen und Ästhetiken aus der freien Szene übernommen haben, sind die Theater jetzt dabei sich die thematischen Setzungen anzueignen. Die Inspirationsquelle geht also nicht verloren. Sie liefert nur frische Impulse für die angestaubten Tempel.
Abgesehen davon finde ich es ermüdend und uninspirierend mal wieder zu lesen, wie Herr Wolf die „gute alte Zeit“ vermisst. Naja … Alter weißer Mann ist eben auch nur eine politische Bezeichnung.
Ich kann kein absichtliches ästhetisches Diktieren erkennen. Das ist erklärungsbedürftig.
ich lege einen gewissen Wert auf die Feststellung, dass Kollege Wolf nicht den geschätzten Falk Richter zitiert hat, sondern mich. Ansonsten sehen sie schon richtig, dass mein Artikel verwendet wird, um eine These zu belegen, die mit dem Beschriebenen gar nichts zu tun hat. Ich schreibe, dass auf Kampnagel bestimmte Themen regelmäßig bearbeitet werden - aber das sagt ja noch nichts aus über „die freie Szene“, nur etwas über die Interessenslage einer ganz bestimmten Dramaturgie. Was hingegen Rolf Kemnitzer schreibt, dass nämlich Vergabejurys bestimmte Schlüsselbegriffe in Anträgen erwarten würden, während „bestimmte Formate des Sprechtheaters“ von vornherein keine Chance hätten - das ist wirklich Blödsinn. Das sage ich als langjähriges Mitglied diverser Jurys, wirklich, das stimmt nicht.
Sie haben natürlich Recht - entschuldien Sie bitte die Verwechslung!
Schon vor zehn Jahren, als ich selbst mal in der einen oder anderen Jury saß, gab es Richtlinien / Handouts für Juror:innen, die nahe legten, Projekte bevorzugt zu behandeln, die dezidiert feministische und inklusive Positionen beinhalteten (Postkolonialismus etc. war noch kein Thema ...). Umgehend gaben Juror:innen diese Must-Haves an ihre Favorit:innen weiter, weshalb es nur wenige Bewerbungen gab, in denen die Explikation dieser Positionen fehlte.
Heute wird das z. B. in der Filmförderung der Länder offen artikuliert und verlangt.
@ Doris Meierhenrich
Bitte, wann war das HAU zum letzten Mal "freie Szene"?
Das HAU ist durchfinanziert, und was der Berliner Senat nicht wuppt, erledigen projektbezogen Hauptstadtkulturfonds und Bundeskulturstiftung.
Das ist auch der Grund, warum so viele am HAU was machen wollen: weil man hofft, an diese Förderstrukturen nachhaltig andocken zu können. Das führt dann bestenfalls weiter zu den europäischen Fördertöpfen und der Chance, dass man auf Festivals von Talinn bis Belgrad durchgereicht wird.
Das soll die "freie" Szene sein, die "autonome" Kunst? Dass ich nicht lache.
The "need" is felt by the "weak".
They only make it Art.
There is no door in Berlin for the "weak".
No independent scene can withstand much.
It lives and dies like a butterfly.
The juries are like crocodiles in the mud
with mouths open. Alas for the butterfly
who will stand there to breathe.
Und ja, sicher es gibt sie, die Künstler im Theater, die ihr Anliegen, ihr Thema, ihren Stil gegen unabhängig von jedem Trend auf die Bühne bringen, ihr Dasein, ihre Arbeiten sind die wenigen Perlen, die man suchen muss im kunsthandwerklichen Einheitsbrei.
Als Künstler finde ich es ärgerlich, das in der Breite nicht Künstler sondern Kunsthandwerker gefördert werden, die wenig Reibung und wenige Leberhaken verteilen. Falls jemand hier Künstler im Theater kennt, Stücke, die diesem Trend entgegenlaufen, würde ich mich hier Hinweise freuen.