Du bist hier, vielleicht aber auch fort

31. März 2022. Im Jahr 2014 verschwindet das Flugzeug MH370 über dem Ozean. Zeitgleich zeigen sich erste Anzeichen von Demenz beim Vater der Regisseurin Helgard Haug (Rimini Protokoll). Das Ergebnis: zweieinhalb beinahe wortlose, fordernde, soghafte Stunden.

Von Janis El-Bira

"All right. Good night." von Rimini Protokoll © Merlin Nadj-Toma

17. Dezember 2021. Dass des Menschen Sinn tief wie ein Abgrund und seine Seele weit wie ein Meer sein müssten, um alles zwischen Himmel und Erde zu fassen, das weiß schon das klassische Weihnachtslied. Weihnachtlich geht es zwar überhaupt nicht zu an diesem Abend am HAU, aber vom Sinn und seinem Abgrund, von der Weite und vom Meer ist trotzdem die Rede. Ein "Stück über Verschwinden und Verlust" hat Helgard Haug von Rimini Protokoll angekündigt, und wie Paul Gerhardt im Kirchenlied misst auch sie das kleine Menschendasein an den ganz großen, oft genug merkwürdigen Dingen da draußen. Gefunden hat sie ein solches im Malaysia Airlines-Flug MH370.

Dessen Schicksal steht für das wohl größte Rätsel der jüngeren Luftfahrtgeschichte. Ein Passagierflugzeug mit 239 Menschen an Bord auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking, das in der Nacht des 8. März 2014 spurlos von den Radaren verschwand, um schließlich – so die gängigste Theorie – nach Stunden weit abseits der geplanten Strecke mit leergeflogenem Treibstofftank in den Indischen Ozean zu stürzen. "All right. Good night" sollen die letzten Funkworte des Piloten gewesen sein, hieß es am Anfang der Untersuchungen. Gefunden wurde das Wrack der Maschine indes nie, was die Legendenbildung bis heute nicht abreißen lässt.

Ein Verschwinden anderer Art

Wie zum Boarding bereit stehen auch die Musiker:innen des Zafraan Ensembles zu Beginn auf der Bühne. Es ist eines der ganz wenigen Motive an diesem Abend, das sich illustrativ bei der Fliegerei bedient. Denn um den Schicksalsflug in seiner Mystery-Dimension geht es eigentlich nicht. Das Verschwinden von MH370 hat vielmehr einen persönlichen Widerhall im Leben der Autorin, korrespondiert mit einem anderen, langsamen Gleitflug hier unten am Boden der Tatsachen. Denn kurz nach dem Abheben und Nicht-wieder-Auftauchen von MH370 werden bei Haugs Vater Anzeichen einer beginnenden Demenz bemerkt. Ein Verschwinden anderer Art beginnt. Ein Auflösungsprozess, der mit vergessenen Pesto-Gläsern im Kühlschrank beginnt und mit einer brennenden Kerze vor der Tür der Demenz-WG endet, die der Vater schon vor seiner Erkrankung im eigenen Haus begründet hatte. Dazwischen liegt eine jahrelange Suche – nach den Resten des Vater-Ichs und den Trümmern von MH370.

Rimini Protokoll 805 Rimini Protokoll uÜber zwei Seiten krakeliger Vater-Handschrift und ein Lied zum Abschied © Merlin Nadj-Toma

Haug hat aus der Parallelität von dem Einen, der noch da ist, aber schon fort scheint, und den Vielen, die fort, aber allgegenwärtig sind, einen Text entworfen, der zu den schönsten und berührendsten, durchaus auch traurigsten dieses Theaterjahres zählen muss. Man wünscht ihm ein Nachleben in vielen Formen, als Buch oder Hörspiel, damit man sich festhalten kann an seinen Bildern, die so beredt gleichzeitig von der Katastrophe am Himmel und im Kopf zu sprechen verstehen: Die Batterien des Funkschreibers, die zu früh abgelaufen waren, die krakelige letzte Vater-Handschrift, "krumm wie Moorstelzen", die "Kontaktpunkte" und "handshakes", mit denen die Familie versucht, dem Dementen einen Weg durch den Alltag zu bahnen. "Du bist hier, vielleicht aber auch fort", heißt es einmal. Dazu rauscht der Ozean via Projektion im Bühnenrücken. Irgendwann fällt ein Wrackteil vom Schnürboden.

Letztes Auflehnen

Dazwischen ist man mit Lesen und Hören beschäftigt. Als Regisseurin hat Helgard Haug ihr Stück in eine ungewöhnliche Art von Konzerttheater übertragen, das den Wort für Wort auf einen Gaze-Vorhang vor der Bühne projizierten Text mit einem Soundtrack der Komponistin Barbara Morgenstern verbindet. Die fünf Zafraan-Musiker:innen im weit aufgerissenen, tiefdunklen Bühnenraum weben im Lichtschein ihrer Tablets Ambient-Strukturen wie von Brian Eno oder lassen pentatonische Skalen milde jenseitig flackern. Wenn es selten lauter werden soll, vertritt ein Schlagzeug die fluffige Marimba. Einmal setzen sich alle für eine Strandszene zusammen. Vom Band kommen sehr gelegentlich kleinere Textpassagen, häufiger knisternde Funksprüche und Kindergeschrei.

All right Good night 2 Merlin Nadj Toma uFunkversuch ohne Widerhall © Merlin Nadj-Toma

Zweieinhalb beinahe wortlose Stunden formen sich so zu einem fordernden, langen, aber nur manchmal länglichen Lese- und Hörsog, der wie ein Echolot seine Schallimpulse an den Text sendet. Von dort fallen die Antworten mit der Zeit immer schroffer aus. Der Vater, evangelischer Pfarrer und einst engagierter linker Demo-Gänger, rebelliert noch einmal gegen das Siechtum, selbst die letzten Spaziergänge bereiten ihm keine Freude mehr. Erst in der Demenz-WG, seinem Lebensabend-Projekt, fühlt er sich wieder gewürdigt. Wie ihm zur Seite gestellt, erscheint im Text eine Gruppe Angehöriger des Flugs MH370, die seit dem Absturz jeden einzelnen Tag im Büro von Malaysia Airlines anfragt, ob es Neuigkeiten gebe. Vielleicht ist das der zarte Wink ins Politische, der auch noch in diesem Abend zu stecken scheint. Jede Spur zu verfolgen, die zu einer Veränderung der Ist-Verhältnisse führen könnte. Und sei sie nur ein Kondensstreifen.

 

All right. Good night.
Von Helgard Haug (Rimini Protokoll)
Musik von Barbara Morgenstern in Zusammenarbeit mit dem Zafraan Ensemble
Konzept, Text, Regie: Helgard Haug, Komposition: Barbara Morgenstern, Orchester: Zafraan Ensemble, Bühne: Evi Bauer, Video-/Licht-Design: Marc Jungreithmeier, Sound-Design: Peter Breitenbach, Dirigat: Premil Petrović, Arrangement: Davor Branimir Vincze, Technische Leitung: Andreas Mihan, Dramaturgie: Juliane Männel, Outside Eye: Aljoscha Begrich, Recherche / Regieassistenz: Lisa Homburger, Bühnenbild Assistenz und Kostüm: Christine Ruynat, Sound Design Assistenz: Rozenn Lièvre, Hands: Johannes Benecke, Mia Rainprechter, Produktionsleitung: Louise Stölting.
Mit: Zafraan Ensemble Musiker:innen Bühne: Matthias Badczong (Klarinette), Evi Filippou (Schlagzeug), Josa Gerhard (Violine), Martin Posegga (Saxophon), Beltane Ruiz (Kontrabass) / Zafraan Ensemble Musiker:innen Aufnahme: Josa Gerhard (Violine), Noa Niv (Posaune), Matthias Badczong (Klarinette), Liam Mallet (Flöte), Martin Posegga (Saxophon), Damir Bacikin (Trompete), Anna Viechtl (Harfe), Adam Weisman (Schlagzeug), Yumi Onda (Violine), Benedikt Bindewald (Viola Tonaufnahme), Maria Reich (Viola), Alice Dixon (Cello), Natalie Plöger (Kontrabass), Florian Juncker (Posaune), Sprecherinnen: Emma Becker, Evi Filippou, Margot Gödrös, Ruth Reinecke, Mia Rainprechter, Louise Stölting, u.a.
Eine Produktion von Rimini Apparat in Koproduktion mit Hebbel am Ufer, Volkstheater Wien, The Factory Manchester, Künstlerhaus Mousonturm, PACT Zollverein.
Premiere am 16. Dezember 2021
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

https://www.hebbel-am-ufer.de/

 

Kritikenrundschau

Zusammen mit dem eingeblendeten Text ergebe die Musik "einen sehr schönen, ich würde fast sagen zauberhaften Flow", sagt Tobi Müller von Deutschlandfunk Kultur (16.12.2021). Zwar hält er den Abend für eine halbe Stunde zu lang, doch insgesamt gehe die Inszenierung erstaunlich gut auf. Der Kritiker ist beeindruckt davon, wie behutsam und schlüssig Haug die beiden Themen zusammenführe. "Ich bin ein bisschen verzaubert von diesem Abend. Das passiert mir nicht oft im Theater."

Zwar verliere sich die Inszenierung zunehmend in Redundanzen, wie Barbara Behrendt vom RBB (17.12.2021) bemerkt, doch kommt die Arbeit bei der Kritikerin ingesamt gut weg. Der Text sei pointiert und zugleich poetisch, dazu spannungsreich. "Der fehlende Protagonist ist die Leerstelle, um die der Abend kreist. Daher ist es nur konsequent, dass alle Performerinnen und Schauspieler auf der Bühne fehlen."

"Die Idee ist brillant. Das kleine, individuelle, aber doch weit verbreitete Unglück – von mehr als 55 Millionen Demenzkranken weltweit geht die WHO aus – wird mit der größten singulären Katastrophe der zivilen Luftfahrt verknüpft", schreibt Tom Mustroph von der taz (17.12.2021), dem sich ein "faszinierender Assoziations- und Emotionsraum" eröffnet habe. "Leider ließ sich Komponistin Morgenstern von der für freie Gruppen ungewöhnlich opulenten Besetzung zu orchestraler Breite hinreißen. Nur selten spiegeln ihre Kompositionen die Fragilität des zerfallenden Gehirns und die Vergeblichkeiten der Suchbewegungen wider. Zu oft blähen sie sich zu cinemascopischer Dimension auf, versteigen sich gar zum Trost. Die Lücken, die Unsicherheiten, denen sich dieser Abend anfangs stellt, werden so zugekleistert."

"Großartig", findet Patrick Wildermann vom Tagesspiegel (18.12.2021) diese Arbeit. Die Erzählung gewinne im Laufe des Abends eine bestechende Plausibilität und Dynamik. Barbara Morgensterns Komposition bezeichnet der Kritiker als "Requiem ohne Pathos" und als "Soundtrack der Vergänglichkeit, der die große Leerstelle auf der Bühne zwar füllt, aber nicht vergessen macht".

"Die Engführung der beiden Geschichten ergibt sich nicht aus ihnen selbst, die eine hat wenig mit der anderen zu schaffen", schreibt Michael Wolf im Neuen Deutschland (20.12.2021). "Erfreulich ist dieses formale Experiment dennoch. Denn Haug erfindet hier nebenbei eine ganz neue theatrale Form, die viel Potenzial verspricht: den Bühnenessay. Ihr Wunsch, Theater anders zu denken und zu inszenieren, ja es stets neu zu erfinden, ist auch an diesem Abend Programm, wie in den meisten Arbeiten ihrer Theatergruppe Rimini Protokoll."

"Einen Bühnenabend (…), der anrührt und Raum und Zeit lässt für ganz eigene Gedanken" hat Bernd Noack gesehen und bespricht in der Neuen Zürcher Zeitung (27.12.2021) gleich noch Christine Wahls im Alexander-Verlag erschienenes Buch über Rimini Protokoll "Welt proben" mit.

 

Kommentare  
All right. Good Night, Wien: Lese-Konzert
Wer einen typischen Rimini Protokoll-Abend mit den Expert*innen des Alltags erwartet, geht hier in die Irre. Auch wer mit den Seherwartungen klassischen Sprechtheaters unvorbereitet in dieses minimalistische Lese-Konzert hineingerät, dürfte sich erstmal „im falschen Film“ fühlen, wie ein Sitznachbar bei der Wien-Premiere im Volkstheater raunte.

Zwei Erzählstränge führt Haug an diesem Abend parallel: die sehr persönliche Erinnerung an die fortschreitende Demenz ihres Vaters und die Recherchen zum mysteriösen Verschwinden des Flugs MH 370 vor mittlerweile 8 Jahren über dem Indischen Ozean. Wirklich schlüssig ist die Kombination der beiden Stränge, die ineinander montiert werden, nicht: ja, beide erzählen vom Verschwinden und einem Verlust. Doch der bedrückende, autobiographische Bericht der Regisseurin, wie sie mitansehen musste, wie ihr Vater nach ersten Alarmzeichen wie kleinen Aussetzern immer hilfloser wurde, ist um Längen stärker und eindrucksvoller als der sachliche Bericht über die weitgehend erfolglosen Ortungsversuche nach Trümmern der im März 2014 verschwundenen Boeing.

Die Theatertreffen-Jury ist von „All right, good night“ so überzeugt, dass sie den Abend in die 10er Auswahl einlud. Dies fügt sich ein in die Vorliebe der aktuellen Jury für kleine, oft sehr minimalistische Abende, die in poetischen Suchbewegungen an den Rändern des Sprechtheaters kreisen. Fulminant mit Starpower auftrumpfende Festival-Koproduktionen wie „Richard the Kid and the King“ hatten diesmal keine Chance.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/03/30/all-right-good-night-rimini-protokoll-theater-kritik/
All right. Good night, Berlin: Sanfte, fragende Beharrlichkeit
All right. Good night, die letzten Worte des Flugkapitäns des Malaysia Airline Fluges MH370. Die Boing 666 verschwand am 8. März 2014 gegen 1.21 Uhr vom Radar und bleibt bis heute verschwunden und mit ihr 239 Personen.
Inszeniert von Helgard Haug mit der grandiosen Musik von Barbara Morgenstern und den Zafraan Ensemble.
Das HAU1 ist ein schönes Jugendstiltheater, jedoch mit der schlimmsten Bestuhlung in einem Rang, die ich kenne und diese musste ich heute wieder einmal 2 ½ Stunden ertragen. Nach solch einem Abend ist das aber total vergessen.
Ein Stück über das Verschwinden und den Verlust, ein Stück über das Sterben, den Tod und den immer weniger werdenden Worten, je mehr man sich von der Ursache des Verschwindens entfernt.
8 Jahre von 2014 bis 2021 werden in einzelnen Szenen untergliedert. Zwei Geschichten werden erzählt, die des Verschwindens der Boeing 777 und die des Vaters von Helgard Haug, der an Demenz litt und aus seiner Welt auch immer mehr verschwand.
Wann hat der Mensch noch eine Verfügungsgewalt über sein Leben und wann endet es? Orientierungslosigkeit, Störungen der Synapsen und die allmähliche Auflösung der Persönlichkeit verhindern, den Punkt zu finden, an dem es heißen müsste, jetzt ist Schluss, gebt mir die Kugel.
Ich fand diesen Abend unglaublich nachhaltig in der Auseinandersetzung mit dem Tod, mit dem Verlust und dem Verschwinden des Lebens. Es trifft uns alle.
Der Text des Abends ist von einer sanften, fragenden Beharrlichkeit, überraschend, ehrlich, traurig, aber auch mitunter komisch. Begleitet werden die Worte, die sich auch auf den Gaze-Vorhängen spiegeln, von einer unglaublichen musikalischen Kraft, die sanft, rhythmisch, hart, eindringlich, erträglich aber mitunter auch unerträglich den Abend begleitet. Eigentlich ist es in erster Linie die Musik, die die Gedanke in den Raum gleiten lässt und das Zusammenspiel mit Bild und Text dominiert. Großartig hier die Zusammenarbeit zwischen Barbara Morgenstern und dem Zafraan Ensemble.
Was bleibt vom Theatertreffen 2022? Einige tolle Inszenierungen, aus denen dieser Abend eindeutig heraussticht und dann das gemeinsame ins Theater gehen, Menschen zu sehen, zu treffen und sich in Präsenz auf Theater einlassen zu können. Das habe ich so sehr vermisst und muss nun aufpassen, meinen Hunger auf Theater im Zaume zu halten. Bis zur Spielzeitpause werde ich in 6 Monaten 60 Aufführungen gesehen haben. Und eines muss ich sagen, ich habe keinen Theaterabend bereut. Dieser Theaterabend war aber eindeutig ein bemerkenswerter Abend, der zum Theatertreffen eingeladen wurde.
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