Minna von Barnhelm - Schauspielhaus Düsseldorf
Gruppenbild im Nirgendwo
19. Dezember 2021. Freigeistig, orginell: Lessings "Minna von Barnhelm" ist ein Kind der Aufklärung und unterliegt vielleicht doch einem Missverständnis. Ein Stoff für Zeiten, in denen die Strahlkraft der Vernunft immer wieder an ihre Grenzen stößt, hat sich Regie-Altmeister Andreas Kriegenburg vorgenommen. Und ein Lustspiel inszeniert.
Von Andreas Wilink

19. Dezember 2021. Und raus bist Du! Das Spielprinzip der "Reise nach Jerusalem" ist bekannt. Eine Gruppe von Leuten hat um eine Reihe von Stühlen zu laufen und auf ein Zeichen hin sich fix einen Platz zu suchen, denn jeweils ein Stuhl fehlt – berechnet auf die Zahl der Teilnehmenden. Dass für Gotthold Ephraim Lessing Jerusalem, die Stadt des weisen "Nathan", der als Jude am Ende des Dramas allein und ohne Familie, also gewissermaßen ohne Stuhl bleibt – besondere Bedeutung zukommt, mag hier am Rande mitwirken. Denn die Bühne für Lessings "Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück" im Düsseldorfer Schauspielhaus besteht aus einem ganzen Haufen von Stühlen, kreuz und quer aufgestellt, gestapelt und aufgetürmt. Eine Installation.
Formeln der Vergangenheit
Und raus bist Du! Man könnte auch sagen: "gewesen", "verabschiedet". Das sind Formeln der Vergangenheit und der Desintegration. In Lessings Lustspiel gibt es einen gewesenen Wachtmeister, Paul Werner, und einen verabschiedeten Major, Tellheim. Nicht der Zukunft zugewandt. Eine Stunde Null jedenfalls, 1763 nach dem Siebenjährigen Krieg in Preußen. Lessing war ihr Zeitgenosse.
Eine Zäsur wie Mai 1945, wie die Wende 1989/90 ff. oder eben wie der Schock der Pandemie seit nunmehr bald zwei Jahren.
Auf Andreas Kriegenburgs Bühne und in seiner Inszenierung ist es gerad' andersherum. Die Stühle sind überzählig, satt und genug für alle und mehr in einer Überflussgesellschaft. Hier muss keiner um Platz kämpfen. Die Mitte der kreisenden Bühne indes wird zum Finale hin leergeräumt, die Stühle – es sind eben doch nur Requisiten – werden an den Rand des Runds getragen. Anders als gedacht, trifft dieses szenische Bild damit die Aufführung ins Schwarze: eine leere Mitte. Ungefüllt von Minna und Tellheim. Sie tragen, wie die Übrigen auch, leicht altmodische Kleider von heute, ohne dass sich deshalb Gegenwärtigkeit einstellen würde. Das Gruppenbild verharrt im sozialen Nirgendwo.
In der Mitte der Überflussgesellschaft: Lea Ruckpaul, Wolfgang Reinbacher, Minna Wündrich © Sandra Then
In einem gesellschaftspolitischen Moment wie diesem, in dem Konflikte sich schärfen, der Konsens aufgekündigt ist, in dem das schroffe Entweder-oder gilt statt des gewährenden Sowohl-als auch (Hans Mayer nennt Lessing den Dramatiker des "Ausgleichs"), hätte eine "Minna"-Inszenierung diesen Spalt offenzulegen.
Das "Un" vor dem Glück
Ein Stück, das das Glück im Titel trägt, muss wohl eine Komödie werden und seine Kämpfe lachend auflösen, wobei das Weinen akut möglich bleibt und sich stets ein "Un" dem Glück voranstellen ließe. Der Erzieher Lessing entwirft am Ausgang dunkler Tage ein Märchen im harmonischen Zusammenführen des weiblichen und des männlichen Prinzips. Jetzt müsste das nur noch gespielt werden.
Kriegenburg erzählt in aller Gemütsruhe treu und brav: altväterlich (der Wirt), putzmunter und aufgekratzt (Just), wendig und wonnig (Wachtmeister Werner), kess und vorwitzig (Jungfer Franziska, die bei Lea Ruckpaul als Girlie-Backfisch drei Stunden lang mit dem Finger zu schnippen scheint, als wolle sie drankommen und nur ja nicht übersehen werden). Ein Abend wie eine adrette Laubsägearbeit, akribisch im Kleinen (und mit vielen kleinen Späßchen). Aber aufs Große und Ganze besehen?
Dunkle Kräfte, große Fragen
Wie wenig Strahlkraft die helle Vernunft haben kann, erfahren wir in dieser Corona-Zeit nur zu sehr. Aber wie klärt sich Aufklärung über sich selbst auf, wenn sie erleben muss, dass dunkle Kräfte wirken, die sich etwa in der Verschwörung des Ehrbegriffs gegen seinen eigenen Träger entfalten, und nicht immer ein Lustspiel-Schluss zu Diensten ist, um mit dieser Geisteshaltung aufzuräumen? Unterliegt die freigeistig kluge und liebende Minna von Barnhelm, die ebenso originell denkfähig ist wie Lessings weniger glückhafte Gräfin Orsina in "Emilia Galotti" womöglich dem Missverständnis des Geistes über sich selbst? Das wären so Fragen.
Aber sie gehen verloren in Düsseldorf, weil das Lustspiel in den Schwank rutscht und gegen Ende nicht mehr aus eigener Kraft da herauskommt. Weil die Verschattung Behauptung bleibt. Weil Wolfgang Michalek als der "in seiner Ehre gekränkte, der Krüppel, der Bettler" Tellheim nur die Maske des Ruppigen und Rabiaten nach außen trägt. Weil Minna Wündrich als Minna von Barnhelm aufgesteift mit der Attitüde einer dozierenden Soubrette agiert und die Eule der Minerva sich niemals auf ihrer Schulter niederlassen würde. Selbst wenn sie beide auf die Knie fallen und den Uneigennutz der Liebe beteuern – sie sind der Gefühlstiefe ihrer Figuren nicht gewachsen. Wir schauen zu, ungerührt.
Schwank der Aufgeklärten: Jonas Friedrich Leonhardi, Florian Lange, Lea Ruckpaul © Sandra Then
Es mag eine Beziehung geben zwischen dem seinen Betrug beschönigenden, dubiosen Chevalier Riccaut (Düsseldorfs Doyen Wolfgang Reinbacher in Altrosa-Sonnenstudio-Eleganz) und seinem Wort vom "corriger la fortune" und dem Lebensgrundsatz des großen Königs in Sanssouci, der sich zum "Rendezvous mit dem Glück" verabredet, womit nicht nur Friedrichs Kunst des Siegens als Kriegsherr gemeint ist. Fortune, Glück, Charisma aber sind Gaben, die nicht rational zu fassen sind. Andreas Kriegenburg mag sich ins Gelingen seines "Minna"-Paars verliebt haben, aber ohne Fortune.
Bei so vielen sich versammelnden Stühlen wundert nicht, dass die Inszenierung den Lessing ausgesessen hat. Wir wiederum haben dafür einiges an Sitzfleisch aufwenden müssen.
Minna von Barnhelm
von Gotthold Ephraim Lessing
Regie und Bühne: Andreas Kriegenburg, Kostüm: Andrea Schraad, Licht: Jean-Mario Bessière, Dramaturgie: Robert Koall.
Mit: Judith Bohle, Florian Lange, Jonas Friedrich Leonhardi, Wolfgang Michalek, Wolfgang Reinbacher, Lea Ruckpaul, Thomas Wittmann, Minna Wündrich.
Premiere am 18.12.2021
Dauer: 3 Stunden, 15 Minuten, eine Pause
www.dhaus.de
"Kriegenburg stellt in seiner zeitlosen Inszenierung allgemeingültige Fragen. Und die Drehbühne schafft es, dass alles im Fluss bleibt und dass das Spiel trotz der großen Textmenge seine Dynamik – bis auf einige wenige Längen – behält", schreibt Marion Meyer in der Rheinischen Post (20.12.2021). "Denn der Regisseur verzichtet auf weitreichende Striche, kürzt das Stück nicht coronakonform und und gemäß heutigen Sehgewohnheiten auf zwei Stunden. (…) Dank der vorzüglichen Schauspieler und der psychologisierenden Text-Arbeit kann man stets gut folgen durch den Dschungel der Gefühlswallungen und Intrigen, die hier gesponnen werden auf dem Weg zum Liebesglück."
Anna Brockmann schreibt in der Neuen Ruhr Zeitung (21.12.2021): "Eine inszenierung von Andreas Kriegenburg: drei Stunden Boulevard mit 'Landsmänninnen' und anderen Längen." Lessings stück scheine derzeit ein "Revival" zu feiern, vielleicht "als Antwort auf die finstere Corona-Zeit". Es gebe wenig Bühnenbild, aber "jede Menge Klamauk". Michalek und Wündrich machten ihre Sache gut, wenn sie sich gegenüber stünden, könne man "die liebevolle, sprachgewandte Erziehung a la Lessing, die zu einem Wandel führen kann" noch kurz erleben, ein "Paardisput auf Augenhöhe, ganz modern".
"Hier ist ein Theaterabend gelungen, der eine Reise nach Düsseldorf lohnt", schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (20.12.2021). "Da Andreas Kriegenburg ein schlauer Regisseur ist, nimmt er die Moll-Töne ernst, ohne dabei die Komik zu vernachlässigen. (…) Hochkomisch ist vor allem das Zusammenspiel von Minna und ihrem Mädchen Franziska, die in einer herzlichen Komplizenschaft so agieren, wie man sie selten auf einer Bühne erlebt hat."
Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (21.12.2021): Regisseur Kriegenburg siedele das "Kriegsheimkehrerdrama" in einem "bürgerlichen Jenseits der Macht" an. "Mit einer Barrikade aus aufgestapelten Stühlen hält Kriegenburg den Personen die Gewalt vom Leib, die man mit dem preußischen Staat assoziiert." Kriegenburgs "ungeteiltes Interesse" gelte der "Entfaltung der Charaktere in den Nuancen einer gesellschaftlichen Realität, die ganz und gar sprachlich hervorgebracht, aber nur momentweise gemacht ist." Die "lakonische nonverbale Ausdrucksweise" von Wolfgang Michaleks Tellheim sei "im Privatleben" fehl am Platz, "wo Wohlwollen keine Herablassung" seit. Minna Wündrich gebe eine Minna von Barnhelm, wie Georg Lukács sie beschrieben habe: Sie verkörpert "die Grazie der vernünftigen Einsicht als unwiderstehlichste Macht des vorwärtsschreitenden Lebens".
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Das Ringen um die Vernunft und Verantwortung für den Partner in Liebesdingen und Freundschaft scheint mir auch schwer vergleichbar mit dem Kampf um die Vernunft, den eine Gesellschaft in einer solchen Krise führt, wie die unsere im Moment.
Wenn überhaupt erzählt doch die Geschichte heute wie damals, wie gefangen ein exemplarischer Mann in seinem (irgendwie auch lobenswerten) Verantwortungsgefühl seiner künftigen Partnerin und der Welt gegenüber ist - bis hin zur Absurdität und Selbstverletzung - und wie gut sie ihn kennt und ihm seine Engstirnigkeit spiegelt und darüber hinweg hilft.
Was man aus diesem Abend mitnehmen kann, ist das Liebe total komplex und schrecklich schön ist.
Wie unterschiedlich doch die Wahrnehmungen sind.