Müllsäcke, die sich von allein bewegen

von Dorothea Marcus

Mülheim, 18. November 2008. Bei all den Katastrophen, die man aus Afrika hört, mutet es immer wieder erstaunlich an, dass es dort auch ganz anders zugeht. Zum Beispiel in Benin, einem schmalen Staat in Westafrika mit 8,1 Millionen Einwohnern. Abgesehen davon, dass er die historische Wiege des Voodoo-Kults ist und eine Analphabetenrate von fast 70 Prozent hat, gilt der Benin seit 1990 als Vorzeigeland der afrikanischen Demokratien. Es war 2005 das erste afrikanische Land, das öffentlich die weibliche Genitalverstümmelung abschaffte. Die Vereinigung "Reporter ohne Grenzen" hebt immer wieder die dort herrschende Pressefreiheit hervor. Und alle zwei Jahre findet in Contonou, eine der größten Städte, das FITHEB (Festival International de Théâtre du Benin) statt.

1991 gegründet, ist es das einzige internationale Theaterfestival Westafrikas. Sein Etat von fast einer Million Euro ist sagenhaft für afrikanische Verhältnisse. Parallel dazu schüttet der Benin jährlich rund 1,5 Millionen Euro an Kulturförderung aus, für Film, Theater, Tanz und Kunst. "Das ist immer noch viel zu wenig!" ruft der Kulturattaché der beninischen Botschaft, Ludovic Dakossi, auf dem Podium des Theaters an der Ruhr aus, "ohne Kultur gibt es keinen Frieden, keine Identität und keine Zivilisation!"

Drei Theaterformen in Westafrika seien momentan besonders interessant, berichtet Orden Alladatin, der Leiter von FITHEB, und alle waren am letzten Wochenende in Mülheim zu Gast, als die "Theaterlandschaft Benin" vorgestellt wurde. Der Benin als eines von vielen Ländern, das Theaterleiter Roberto Ciulli kurzerhand an die Seidenstraße verlegt und mit Hilfe des Landes NRW und des Theater-Fördervereins eingeladen hat, wie zuvor den Irak, Iran, Aserbaidschan oder Mali – die allerdings wirklich an der Seidenstraße liegen.

Die Geschichte vom Mann und der Salzfrau

Tief aus der Tradition kommt der "Griot", aus der alten Kaste der Geschichtenerzähler. Roger Atikpo selbst kommt zwar aus dem Nachbarland Togo, ist aber auch im Benin berühmt. Zeitweise lebt er auch am Genfer See und spielt dort Theater – zuletzt Woyzeck. Atikpo spielt auf Französisch und begleitet sich auf der Kora, einem gitarrenartigen Instrument. Dreimal wechselt er die bunten Gewänder und erzählt von Liebe, dem täglichen Überlebenskampf, von Inzest und Hunger. Mit strahlendem Gesicht und feiner Ironie mischt er althergebrachte Geschichten mit modernen Elementen, einige davon verschlungene Fortsetzungsromane.

Einmal ist er ein einsamer Mann, der sich beim Anblick eines Salzkorns nach einer Frau sehnt. Und weil damals "Gott noch telefonisch zu erreichen war", benutzt er die Kora als überdimensionale Sprechmuschel. Gott hat ein Einsehen und schickt eine schöne, glänzende Frau vorbei, Atikpo wird auf einmal ganz zart und weich, und sie werden sehr glücklich – für ein Jahr. Hätte ihr Mann sie nur nicht gezwungen, zur Badeparty des Nachbarn mitzukommen, denn da löst sie sich wieder in ihre Bestandteile auf. Aber die Geschichten können auch äußerst brutal werden: etwa, als Ikando mit seiner kleinen Schwester zur Jagd aufbricht und sie vergewaltigt und schließlich tötet. Nur der Hund ist Zeuge und erzählt der Dorfgemeinschaft davon.

Die Frau, die nicht gehen darf

Ohnehin geht es im westafrikanischen Theater häufig um Stellung und Zwangslage der Frau. Vor allem beim so genannten "théâtre de sensibilité": Aufklärungstheater für die Landbevölkerung. Es kommt ohne viel Sprache aus und lebt von der Choreografie. Die Tänze lehnen sich stark an Rituale und den Voodoo-Kult an und schildern alltägliche Probleme: Wie schützt man sich vor Krankheiten und kommt an sauberes Wasser?

"Sans commentaire", eine Auftragsproduktion des FITHEB von diesem Jahr, erzählt von einer Frau, deren Mann im Krieg stirbt und die danach für ein besseres Leben das Land verlassen will. Doch die Brüder ihres Mannes lassen sie nicht, denn die Frau muss im Familienbesitz gehalten werden, zur Not mit Gewalt. Im Bühnenbild aus traditionellen Grabstelen und einem Voodoo-Pfahl wehrt sich die Frau schlagkräftig gegen die lästigen Bewerber in Machoposen, die – und das ist richtig komisch – einander vorschicken und danach die Schmach vertuschen. Aber schließlich schaffen sie es natürlich doch, umkränzen sie tanzend mit Reisigbesen, zum Schluss bleibt die Frau gefangen in der Familie.

"Ich mache rituelles Theater", erzählt Regisseur Euloge Béo Aguiar, "wie im Voodoo-Kult ist jeder Schauspieler in Trance und wird von einem Geist geritten". Seine Schauspieler kommen aus verschiedenen Regionen und Stämmen Benins, was nicht selbstverständlich ist in einem Land, in dem Bildung vor allem an den wohlhabenderen Küstenregionen zugänglich ist. Es gibt in Westafrika kaum Theaterschulen, selbst im Benin nur eine einzige. Aguiar arbeitet daher vor allem mit traditionell ausgebildeten Tänzern. Seine Botschaft ist ihm wichtig: "Wie kann sich ein Land Demokratie nennen, wenn Frauen nicht die Freiheit haben, ihr eigenes Leben zu führen?" sagt er im Publikumsgespräch nach der Aufführung, während mancher Deutsche argumentiert, dass der Verbleib in der Familie des Ehemanns ja auch soziale Vorteile hätte.

Übertitel als eigenes Inszenierungselement

Geschriebene Texte gibt es kaum im afrikanischen Theater, erst in den 80er-Jahren wurden die ersten Dramen veröffentlicht. Entsprechend sensationell ist die Inszenierung des Stückes "Omon-Mi" ("Mein Kind"), die in ganz Westafrika vor einigen Jahren Furore machte und eine neue Form von afrikanischem Kunsttheater ist. Sieben der 62 beninischen Sprachen werden auf der Bühne gesprochen. Und das in einem Land, in dem Theater bis vor wenigen Jahren fast ausschließlich in der Kolonialsprache Französisch stattfand.

Aufgrund der Vielsprachigkeit wird das Stück übertitelt, und zwar interessanterweise mit einem Prosagedicht, das zum Bühnengeschehen eine poetische Spannung entwickelt. Die Schauspieler tragen Anzughosen und weiße Hemden. Es geht um eine Frau, die sich weigert, ihr vermeintlich "anormales" Kind verschwinden zu lassen – es wurde mit Plazenta als "falscher Zwilling" geboren, und die bringen im Volksglauben Unglück. Mit aller Kraft setzt sie sich durch und erhält schließlich den Segen des Dorfältesten.

Die Szenen sind körperbetont und stark atmosphärisch: die Frau trägt auf dem Kopf Obst herum, das krachend gegessen wird. Rastlos hasten die Darsteller über die Bühne, sind Großstadt, Autoverkehr, Schuhverkäufer und Marktschreier. Hinter einem Vorhang erzählen wiegende und sich schlagende Schatten von Liebe und Sex, die Geburt ist ein Ritualtanz, und dazu steht in den Übertiteln: "In Cotonou bemuttern die Müllberge die Neugeborenen, die Kloschüsseln sind hungriger als die Friedhöfe von Dachau. Auf den Straßen Müllsäcke, die sich von ganz allein bewegen."

Im Theater des Westens kommt der Mensch nicht vor

Das ist verstörend und atemberaubend, es benutzt afrikanische Traditionen, um sie scharf zu kritisieren. Zum Schluss kommt ein betrunkener, moderner Mensch auf die Bühne und singt schief Tom Waits – und der Übertitelungstext spricht von den vielen Abtreibungen, die täglich passieren.

Regisseur Ousmane Aledj, Jahrgang 1972, ist auch Schriftsteller, Galerist und Herausgeber der wichtigsten Kulturzeitschrift im Benin. "Ich will nicht werten", sagt er anschließend, "nur gegenüberstellen, jeder soll sich ein eigenes Bild machen. Sowohl die Tradition als auch die Moderne haben Vor- und Nachteile. Jede Gesellschaft sollte sich fragen, was sie mit ihren Kindern macht. Ich beschäftige mich in meinem Theater mit Gewalt und Ignoranz. Aus dem Theater des Westens, habe ich dagegen den Eindruck, hat sich der Mensch verabschiedet – zugunsten der künstlerischen Aussage." Ganz Unrecht, denkt man auf der Rückfahrt, hat er vielleicht nicht.

 

www.festival-fitheb.org.

Mehr über die Theaterlandschaften-Reihe des Theater an der Ruhr in Mülheim lesen Sie im Bericht unserer Autorin über die Theaterlandschaft Iran sowie über das Gastspiel des Theaters Sogolon aus Mali.

 

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