Und es jault die Entfremdung

14. Januar 2022. Nicoleta Esinencu, die wütende Stimme der moldawischen Gegenwartsdramatik, widmet sich den Auswüchsen des westlichen "Fortschritts". Am HAU Berlin ist daraus eine Performance geworden, in der es knarzt, zischt und soundwerkelt. Und noch mehr macht den Abend zum besonderen Sprachkonzert. 

Von Christian Rakow

Sinfonie des Fortschritts am HAU in Berlin © Dorothea Tuch

14. Januar 2022.Die Bühne sieht aus, als habe Medienkunstpionier Nam June Paik ein wenig mitgeschraubt: Bohrmaschinen sind mit dem Sound-Mischpult verkabelt, hinter den Instrumententischen stehen drei Wände aus Scheinwerfern (die aus alten moldawischen LKWs stammen, wie wir bald erfahren). Und an den Mikros vorn knarzen, sprechen und soundwerkeln die drei Performer:innen dieses Abends, alle in orangener Straßenbauarbeiter-Kluft: Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan, Kira Semionov.

Funkelnde Dienstleistungswelt

"Sinfonie des Fortschritts" nennt Nicoleta Esinencu, die wütende Oberstimme der moldawischen Gegenwartsdramatik, ihr am Berliner HAU entwickeltes Sprachkonzert. Und der leichte Retro-Chic im technischen Setting passt durchaus gut. Weil es auch inhaltlich um das geht, was beim "Fortschritt" des westlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems an Altbeständen so alles ausgelagert und vergessen wird: die Ausbeutung und Entfremdung von Lohnarbeiter:innen etwa, die in der funkelnden Dienstleistungswelt nicht mehr sichtbar sind, weil ihr Schuften im Niedriglohnsektor abläuft, oder längst an die Ränder Europas outgesourct ist.

In flächigen, monologischen Texten führt Esinencu Klage gegen das herrschende Wohlstandsmodell hierzulande, listet katalogartig vermeintliche zivilisatorische Errungenschaften und bricht sie ironisch ("Es ist nicht zivilisiert, nicht zu recyceln, / aber seinen Müll fürs Recycling ins Ausland zu exportieren, ist zivilisiert, oder?"). Größtenteils wird Russisch und moldawisches Rumänisch gesprochen und parallel Englisch und Deutsch übertitelt.

Sinfonie 2 c DorotheaTuchSommer mit Bohrmaschinengesang: Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan, Kira Semionov © DorotheaTuch

Eindrücklich ist der Vortrag dort, wo er aus der Parole ausschert und genauer in die Arbeitswelt hineinleuchtet. Etwa zum Amazon-Paketfahrer, der als Spielball von Algorithmen und harten Maximierungskalküls erscheint. Oder zur Saisonarbeit in der Landwirtschaft: Doriana Talmazan erzählt uns vom bitteren Sommer einer Moldauerin auf den Äckern in Finnland, wo man in auszehrender Akkord-Plakerei marktgängiges Gemüse erntet. Und wie im Wechselgesang jaulen dazu die Bohrmaschinen auf.

Motivationsmantra und bittere Basis

Die Erzählungen sind durchweg aus der Position der Betroffenen gesprochen, von Osteuropäer:innen, die das westliche System zwischen Ausländerbehörde und Gurkenacker leiden. Refrainartig und sarkastisch streuen die drei Performer:innen dazu New Age Psychologie oder das Motivationsmantra des fröhlichen Konsumismus dazwischen. Quasi: Fancy Überbau gegen die bittere Basis.

Sinfonie 3 c DorotheaTuchKlage und Gegenstimme: Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan, Kira Semionov © Dorothea Tuch

Die Struktur ist trotz des Stücktitels weniger symphonisch, nicht aufs breite Panorama angelegt, sondern erinnert eher an einen (harten, technoiden) Blues: mit Call and Response, Klage und Gegenstimme. Dabei sind die Texte in eher nüchterner, journalistischer Sprache verfasst. Musikalisch wirkt es anfangs, als ob Vince Clarke von den frühen Depeche Mode vorbeischauen wollte, aber dann doch von der Türschwelle geschubst wurde. Später bewegt es sich in Richtung straighter Technobeat und Soundgefiepe.

"Fuck you, Finnland! Fuck you, Germany!"

Im Finale spielen die Drei von der Baustelle in Gedanken durch, wie es sich ausnehmen würde, wenn "der Westen" zur Kolonie Osteuropas herabgestuft würde. Und sie strecken ihre Mittelfinger: "Fuck you, Finnland! Fuck you, Germany!" Und man denkt sich, die überwiegende Verbesserung der Lebensverhältnisse durch den EU-Binnenmarkt muss man vielleicht auch nicht völlig außer Acht lassen. Aber es ist natürlich richtig: Die im Dunkeln sieht man nicht, der nächste Tönnies-Schlachtereiskandal kommt gewiss, und die Schindersaison der Spargelstecher steht auch schon wieder vor der Tür.

 

Sinfonie des Fortschritts
von Nicoleta Esinencu
Eine Performance von Nicoleta Esinencu, Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan, Kira Semionov, Nora Dorogan, Oana Cirpanu
Technische Entwicklung: Iulian Lungu, Neonil Roșca, Technik: Sergiu Iachimov, Künstlerische Beratung, Aenne Quiñones, Produktionsleitung: Jana Penz, Technische Leitung HAU: Annette Becker, Ton HAU: Janis Klinkhammer, Licht HAU: Lea Schneidermann, Übersetzung Moldawisches Rumänisch ins Deutsche: Eva Ruth Wemme, Übersetzung Moldawisches Rumänisch ins Englische: Artiom Zavadovsky, Übersetzung Russisch ins Deutsche: Yvonne Griesel, Übersetzung Russisch ins Englische: Artiom Zavadovsky.
Mit: Artiom Zavadovsky, Doriana Talmazan, Kira Semionov.
Premiere am 13. Januar 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.hebbel-am-ufer.de

 

Kritikenrundschau

"Das Stück reißt durch (...) Verunmöglichungen der Ausflüchte in neoliberale Freedom-of-Choice-Argumente einen Graben auf, den es sich weigert zu schließen, mit dem das Publikum nach Hause geht," schreibt Luise Meier in der Tageszeitung nd (13.01.2022). "Man verlässt das HAU 1 – zum Glück – frustriert und wütend und mit der rhythmisch weiter bohrenden Frage: Was tun?"

Nicoleta Esinencu ziele auf die hässliche Seite der kapitalistischen Fortschritts, so Doris Meierhenrich in der Berliner Zeitung (16.1.2022). "Das ist nicht subtil und vieles allseits bekannt, doch gerade darum in seiner raffiniert hässlichen, rhythmisch-technischen Vertonung zu einer Sprechsinfonie aus hämmerndem Wiederholungen um so stringenter. Drei Performer fräsen und sprechen. Schmerzlich gut."

Sehr angetan ist Judith von Sternburg von der Frankfurter Rundschau (8.10.2022), die die Produktion beim Festival "Politik im Freien Theater" sah: "Das eigentliche Wunder dieses Abends beim Festival Politik im Freien Theater in den Kammerspielen des Schauspiels Frankfurt ist dabei, dass er sehr unterhaltsam ist. Dass er – obwohl für Empfindsame Ohrenstöpsel bereitliegen – keinen Angriff darstellt, obwohl unsereinem, der es doch ganz gut, zumindest okay hier in Europa findet, die Leviten gelesen werden."

 

 

 

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