Das Erbe offener Käfigtüren

15. Januar 2022. Tochter aus gutem Haus, mit Hippie-Eltern, aber finanziell abgesichert, alles steht ihr offen. Sie will "irgendwas mit Worten" machen. Am Ende landet sie wieder bei den Eltern. So will es der Plot von Anja Hillings neuem Stück über Freiheit und Zwänge der kreativen Klasse.

Von Leo Lippert

 

Die Sintflut, in Selbstverwirklichungswatte gepackt in "Liberté oh no no no" © Robert Schittko

15. Januar 2022. Die Sintflut kommt aus der Gießkanne, als kurzer Regenschauer, sie kommt als zarter Sprühnebel, als spuckender Schauspielerkollege mit Nachfüll-Wasserglas zur Hand. Die Sintflut ist ein Flütchen, ein bisschen komisch, ein bisschen ekelig, aber gar nicht so furchteinflößend apokalyptisch. Sie ist in neoliberale Selbstverwirklichungswatte gepackt in Anja Hillings "Liberté oh no no no", in den Kammerspielen des Schauspiel Frankfurt von Regisseur Sebastian Schug uraufgeführt.

Hilling hat sich Arthur Rimbauds Gedichtband "Illuminationen" (aus dem wiederum das Gedicht "Après le déluge" stammt) als Inspiration und formale Vorlage genommen und daraus eine Geschichte über Freiheit und Handlungsmacht der modernen Kulturarbeiterin gemacht. Es ist dies auch, man stellt es etwas irritiert fest, die nunmehr x-te Nabelschau der gegenwärtigen kreativen Klasse, oh no no no.

Lust auf den großen Ausbruch

"Liberté…“ ist ein biographisches Stationendrama, das mehr oder weniger chronologisch vom Leben seiner Protagonistin R (Lotte Schubert) erzählt, die "aus gutem Hause" kommt, von ihren saturierten Hippie-Eltern (MA und PA, Angelika Bartsch und Uwe Zerwer) geliebt wird, "scheißsensibel" ist, und über ihre Lebenswege per Computer-Kriegsspiel entscheidet. Es folgen: "Boys! Boys! Boys!", Berufsberatung, Praktikum in "irgendwas mit Worten", gentrifizierende Eigentumswohnung, Partner und Kleinkindstress, Therapie, und am Ende landet R wieder bei den Eltern, wo man sie natürlich mit offenen Armen und frisch gekochtem Abendessen empfängt.

Es geht also um diese besondere Form der Freiheit, nämlich die des finanziell abgesicherten Individuums zur Selbstverwirklichung, es geht um gesellschaftliche Zwänge und das immer schon vergebliche Begehren nach dem großen Ausbruch.

liberté 2 c robert schittkoVon L-O-V-E zu F-E-A-R: Sinn und Unsinn von T-Shirt-Aufdrucken © Robert Schittko 

Das klingt so banal wie bekannt, erfreut aber doch, weil Hilling ihre Gegenwartsbeobachtungen zu feiner Sprache formt: denn R ist eine (Achtung Zitatmix!) burgerliebende bargeldloszahlende Bürgerin, die für heute, für nichts die Seele über die Schulter wirft. Und da wo sie herkommt, stand die Tür vom Käfig immer auf, da stellt man Weichen, keine Zusammenhänge, und sind die Weichen einmal gestellt, stellt man sich der Welt vor, der man fortan in aller Freiheit dienen soll. Hach, schön.

Neblige Stimmung

So richtig lebt das verspielte intertextuelle Gebäude um R wie Rimbaud wie Realität wie Radius-der-Welt aber bloß, weil Sebastian Schugs Inszenierung das schale neoliberale Freiheitsversprechen in die richtige Stimmung verpackt, in eine schaurigschummrige Nebelbank, die weich und comfy ist, aber zugleich durchzogen ist von stressig flackernden Neonröhren und aggressiv blinkenden LEDs (Bühne: Thea Hoffmann-Axthelm).

liberté 3 c robert schittkoAngelika Bartsch, Uwe Zerwer, Lotte Schubert, Mark Tumba in "Liberté oh no no no" © Robert Schittko

Und weil Multiinstrumentalist Thorsten Drücker nicht nur den treibenden Beat schlägt, sondern sich auf Gitarre, Bass, Klarinette, Mundharmonika und Klavier gemeinsam mit den Schauspieler*innen souverän durch das Buch der großen Balladen schunkelt – von Depeche Modes "I Feel You" über "I'm Going Home" aus der Rocky Horror Show zu Leonard Cohens "Thanks for the Dance" und schließlich zu Hillings selbsterdachtem zynischem Gentrifizierungsblues, dem "Hohelied des Eigentums".

Verwerfungen der Freiheit

Und auch, weil die irrlichternde Figurenkonstellation rund um R (Angelika Bartsch, Mark Tumba, Uwe Zerwer) in flottem Tempo immer neue Lebensstationen anfährt, um dort immer neue Verwerfungen der ach-so-selbstverständlichen Freiheit zu finden. Die ständig wechselnden Charaktere unterscheiden sich hauptsächlich durch die ebenso ständig wechselnden grauen Sweatshirts mit Buchstabenaufdruck (Kostüme: Nini von Selzam). Die Nebenrollen als lebendiger Schlagwortbaukasten zur ewigen Neuanordnung also, von (L)-O-V-E zu F-E-A-R zu UREI-NWO-HNER, ein dramaturgischer Mechanismus so simpel wie zuschauer*innenfreundlich.

Klar, den Rimbaud-Verweisreigen muss man aushalten, ohne mit den Augen zu rollen vor lauter kanonischer Beflissenheit, und die immer ein bisschen zu heimeligen Leiden der bürgerlichen weißen cis-Frau ebenso. Aber man muss doch anerkennen: das geht mit dieser Frankfurter Inszenierung wirklich E-A-S-Y.

 

Liberté oh no no no
Uraufführung
Von Anja Hilling
Regie: Sebastian Schug, Bühne: Thea Hoffmann-Axthelm, Kostüme: Nini von Selzam, Musik: Thorsten Drücker, Dramaturgie: Lukas Schmelmer, Licht: Ellen Jaeger.
Mit: Angelika Bartsch, Lotte Schubert, Mark Tumba, Uwe Zerwer.
Premiere am 14. Januar 2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

Rs Leben sei eine "überkomplexe Angelegenheit viel zu vieler Freiheiten, die sie so erschöpfen, dass sie quasi hysterisch durch ihr Leben läuft", sagt Natascha Pflaumbaum im Deutschlandfunk Kultur (16.1.2022). Dabei sei Rs Dasein ein prototypischer Abklatsch, R sei kein Individuum mit Identität, das in verschiedene Rollen schlüpfen könne, sondern ein "Avatar", eine Stellvertreterin vieler Biographien. Man sehe, wie ein Leben 2022 vorgeformt sei, wie es "sozial nach gewissen Mustern ablaufe", wie man sich Stereotype und Dialoge angeeigne und man sie nur noch abspule. Das fange Anja Hilling in ihren Sprachmustern für einen bestimmten Lebensabschnitts "extrem virtuos" ein, und die Musik, die sie auswähle, liege "wie ein Melodrama" unter den Szenen. Sebastian Schugs Inszenierung sei ein "großes, rasantes Durcheinander" mit einem sensationellen Vierer-Ensemble.

Sebastian Schug habe wahrscheinlich gar nicht verhindern können, dass alles im Ungefähren bleibe, schreibt Sylvia Staude von der Frankfurter Rundschau (16.1.2022). "Der Text ist wie ein Sumpf: Manches Wort saugt die Aufmerksamkeit der Hörerin kurz an – ah, Demokratie, ah, Liebe ah, Kinder –, doch gleich schon wieder geht es um anderes. Bloß um was eigentlich? Wo endlich kommt der feste Boden."

Viel sei nicht geworden aus der vielversprechenden Überschreibung von Rimbauds Leben, Lieben und Schreiben, bemerkt Eva-Maria Magel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.1.2022). "Ab und an explodiert ein Satz" und man denke mit den vier Spieler:innen darüber nach, ob man ein Kind zu sehr lieben könne oder ob reale Rollenbilder unseren Ideen von Freiheit nicht hinterherhinkten. "Das ploppt so auf uns versinkt gleich wieder in einem Strudel an bisweilen recht selbstgefällig unglücklichen Szenenschnipseln, die alle stark nach Wohlstandsverwahrlosung riechen." R arbeite sich an den Dunkelseiten des Lebens ab, aber sie sei, ganz im Kontrast zu Rimbaud, als Stereotyp gemeint, ein "Konstrukt … aus typischen Biographien anno 2022", das uns etwas angehen soll – aber fremd bleibe. All das lädt Magel zufolge weder zum Denken noch zum Mitfühlen an. "Zu banal, erst recht für zwei Stunden Drama."

Nebel auf der Bühne unterstreiche den Eindruck, sich "trotz aktueller, großstädtischer Themen jenseits einer Realität zu bewegen", schreibt Katja Sturm in der Frankfurter Neuen Presse (17.1.2022). Immer wieder verschwinde das angedeutete Wohnzimmer der Familie "unter Dröhnen für buntes Neonlicht, die darin eingeschlossenen Personen erstarren und erbeben für Sekunden" – energetische Störungen seien das, wie die Gedanken, die R nicht in Ruhe ließen. Poesie entfalte sich aus der pointierten Sprache Hillings und der Musik, die für jede Station auf Rs Lebensreise die passende Atmosphäre schaffe.

 

Kommentare  
Liberté oh no, Frankfurt/M: Entdeckung
Ich hoffe in Frankfurt zukünftig noch mehr Inszenierungen von Sebastian Schug sehen zu können.
Eine echte Entdeckung für das Schauspiel!
Kommentar schreiben