Fantasien eines Exzentrikers

22. Januar 2022. Frank Castorf reist fünf Stunden in die Blütezeit des patriarchalen Theatermachens. "Molière. Ich bin ein Dämon, Fleisch geworden und als Mensch verkleidet" heißt sein neuester Abend. Frei nach dem französischen Theater-Anarcho faltet Castorf einen gewaltigen Assoziationskosmos auf, wie das kaum ein anderer beherrscht.

Von Dorothea Marcus

Molière (Bruno Cathomas) und sein gelber Lieferwagen © Thomas Aurin

22. Januar 2022. Da sausen sie über die Bühne, die Castorf-Spieler, berüscht, gepudert, beglitzert, mit ausufernden Perücken wie einst in Molières eingeschworenem Wandertheater. Wandern, wie der große Theatermann Molière, tut vor allem Frank Castorf selbst und inszeniert landauf, landab in Theatern zwischen Wien, Berlin, Hamburg, Köln und München – sein Schauspielensemble kommt an diesem Abend allerdings fest aus Köln. Bis auf die große Jeanne Balibar, die als Molières Geliebte Madeleine Béjart das gewaltige Zentrum der folgenden fünfeinhalb Stunden bilden wird.

Mit greinendem, chorischen Babygeschrei wird Jean-Baptiste Poquelin alias Molière im Januar 1622 zur Welt gebracht. "Ich habe schon bedeutendere Säuglinge in den Händen gehalten", verschätzt sich die Mutter Katharine Sehnert – und schon hängt der große, in nahezu alle Sprachen übersetzte Theatermann Molière, gespielt von Bruno Cathomas in langen braunen Locken und blauem Barock-Ornat, röchelnd und hustend, mit einem Bein im Todeskampf: Von Geburt bis Grablegung ist es am Anfang nur ein kleiner Augenblick.

Geburt eines Ungeheuers

Dazwischen liegt eine Probensimulation im Stuhlkreis, und Cathomas brüllt sein Ensemble zusammen, spielt eine lustig eitle und selbstgefällige Allianz von Castorf, Molière und Theaterpatriarchen an sich ("Ich bin schließlich 25 Jahre hier Präsident gewesen"). Doch Schauspieler liebten die Macht, so Cathomas, und ohnehin könne die Theaterkunst ohne eine finanzielle Macht hinter sich nicht existieren.

Recht hat er, und das gilt auch für die zunächst erfolglose Molière-Truppe "Illustre Théâtre", die neu durchstarten will, ganz viel Text zu lernen hat, doch wo sind die Textbücher? Alsbald rennen sie zum großen gelben Lieferwagen mit kolonialer Bananen-Aufschrift, der sich knatternd auf Tournee begibt – wohin, ist historisch nicht genau überliefert, bis die Truppe auf ihre ersten fürstlichen Gönner trifft. Und auch wenn der Anfang von "Molière“ im Kölner Depot 1 fast wie ein Wikipedia-Eintrag mit Insider-Witzen wirkt, so faltet sich jetzt ein gewaltiger Castorf'sche Assoziationskosmos auf.

Moliere7 Thomas AurinAusladene Kostüme, barocke Perücken, eine bunte, zunächst erfolglose Truppe und ihre fürstlichen Gönner kommen zusammen in Frank Castorfs "Molière" © Thomas Aurin

Fröhlich werden die Zuschauer von Bühnenbildner Aleksandar Denić in vier feisten, schwarz-weißen, auf die Rückwand gemalten Pappkameraden des letzten Jahrhunderts gespiegelt, die französische Zeitungen lesen und überraschend mit Augen und Mündern rollen können. Man macht Station bei Bulgakow, der tragische russische Autor, der auch ein Stück über Molière geschrieben hat und es sich leisten konnte, seinem Verehrer Stalin ehrliche Bittbriefe zu schreiben, flehend verlesen von Marek Harloff, ohne sofort inhaftiert zu werden – während sein Theaterkollege Meyerhold gefoltert und erschossen wurde.

Schaumbäder und andere Frivolitäten

Die Live-Kamera fährt in ein geheimes Zimmer hinter die Bühne, wunderschön gekachelt und mit Kulissen aus alten gemalten Pariser Stadtansichten hinter den Fenstern ausgestattet. In einer elegant schamlosen Szene, wie sie nur Castorf inszenieren kann, suhlt sich Jeanne Balibar erst mit roten Dessous und Netzstrümpfen, dann nackt, mit drei Männern im Schaumbad, sie schrubben sich orgiastisch die Schultern, herzen und streiten sich – auch Molière war ja ein Meister von Geschmacklosigkeit und frivolem Humor – und reflektieren dabei über die Vorherrschaft der Künste und die Wissenschaft des Fechtens.

Moliere3 Thomas AurinMedizinisches Text- und Mensch-Zezieren: Jeanne Balibar und Marek Harloff © Thomas Aurin

Immer wieder, schwer zu erkennen, sind Molière-Zitate eingebaut, etwa "Die gelehrten Frauen“, Stücke aus dem "Bürger und dem Edelmann", dem "Menschenfeind". Ausgiebig und ziemlich langwierig trainiert Jeanne Balibar in großen Tüllroben mit ihrer lasziv-lässig verzögerten Intonation Vokale, trägt Rivalitäten mit Lola Klamroth aus, die vermutlich Molières Frau Armande spielt, lässt sich kindgerecht Unterschiede von Prosa und Lyrik erklären, spielt in Papp-Theaterkulisse vor dem Schneider (Paul Basonga) eine herrische Hofdame mit Chanel-Tüte – und wie immer fragt sich Frau an dieser Stelle, warum das Castorf'sche Frauenbild sich in sexistischen Achtziger-Jahre-Klischees erschöpft. Um gleichzeitig einmal mehr Aura von Kraft und Geheimnis zu bewundern, die er stets um seine Schauspielerinnen kreiert.

Unterm Hintern mit Ohren

Ganz weit weg von Molìère geht es, als der Japan-stämmige Schauspieler Kei Muramoto, mit roten Zacken, halb als Mann, halb als Frau geschminkt, zu verstörenden Videobildern von geschmolzenen Häusern, verwüsteten Hiroshima-Landschaften nach der Atombombe über die Kunst des Butoh spricht, jener seltsamen grotesk-erschreckenden und tief widerständigen Tanzform, die zuweilen mehr an Meditation als an Performance erinnert.

Lange spricht er von Seidenspinnerraupen und der Sehnsucht des Butoh-Tänzers nach Unperfektion, sogar nach Tod – "sie essen das Dunkle, indem sie es in Fetzen reißen", während Jeanne Balibar ätherisch über den Bühnenboden mäandert. Grandios ist auch der geifernd verliebte Justus Maier in Stehkragen und Unterhose, der von seinem Liebesobjekt spricht, während Muramato weinend und rauchend in einer Opiumhöhle liegt, unter einem Hintern mit Ohren namens "Arc de Triomphe" – und uns von Melancholie, Sehnsucht und Verzweiflung erzählt.

Machtverschiebung

Castorf-Fantasien, nur ganz entfernt ausgelöst von Molière, begleitet durch eine wie immer grandiose Playlist (Can – Vitamine C – L’amour et la violence von Sébastien Tellier – Nothing left von Alan Vega.), stets changierend zwischen großem Klamauk und großen Sätzen. Von Molière alias Cathomas ist in all diesen Stunden nichts zu sehen, bis er dann endlich im Kastenwagen wieder angeknattert kommt und "Wie geht's" in die Runde ruft, "habt ihr Text gelernt?". Doch sehr bald hängt er röchelnd am Sauerstoffgerät, sichtlich sind die in Großaufnahmen gefilmten Gesichter gealtert, stirbt er, die Herbstblätter rieseln vom Bühnenhimmel, während Marek Harloff im Glitzeranzug einen Text von Bulgakow liest: Wie Molières Grabplatte zersprang, weil Obdachlose sich wärmen wollten, und seine Knochen zu Staub zerfielen.

Was der große, lange Abend am Ende erzählt? Vielleicht nur, wie leicht sich am Ende doch Machtverhältnisse verschieben, und dass sie eben auch für alte Theaterpatriarchen nicht in Stein gemeißelt sind.

Molière – Ich bin ein Dämon, Fleisch geworden und als Mensch verkleidet
Regie: Frank Castorf, Bühne: Aleksandar Denić, Kostüm: Adriana Braga Peretzki, Video: Andreas Deinert, Musik: William Minke, Dramaturgie: Lea Goebel.
Mit: Alexander Angeletta, Jeanne Balibar, Paul Basonga, Bruno Cathomas, Marek Harloff, Lola Klamoth, Justus Maier, Kei Muramoto, Katharine Sehnert / Margot Gödrös, Marlies Debacker (Klavier).
Premiere am 21. Januar 2022
Dauer: 5 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.schauspiel.koeln

 

Kritikenrundschau

Michael Laages sagte in Fazit auf Deutschlandfunk Kultur (21.1.2022), Castorf versuche sich an "einer Art Fantasie über Stoffe, Motive, Materialien wie er sie bei Moliére" finde. Der Abend setze indes mehr noch auf die Schauspieler, Jeanne Balibar trage einen Löwenanteil der Soloparts, das sei Klasse, der Rest des Ensembles komme vom Kölner Schauspiel, das Castorf offenbar ganz lieb gewonnen hätte. Alle zweideutige Fantasie wie die nackte Frau mit vier Männern in der Badewanne, entwickele sich aus Moliére, der ja auch selbst kaum Grenzen des Geschmacks gekannt oder respektiert habe.

Christian Bos schreibt im Kölner Stadt-Anzeiger (online 23.1.2022, 18:16 Uhr, €), Castorf gibge es bei seinem Moliére nicht ums höfische Vergnügen, das werde bereits in den ersten Minuten deutlich, wenn Schostakowitschs Achtes Streichquartett den "Holocaust, zerbombte Städte und Stalin'sche Säuberungen" evoziere. Castorf collagiere Szenen, die samt und sonders das weite Themenfeld Kunst und Macht beackerten. Die Balibar brenne auf der Bühne, man könne ihr ewig zuschauen. "Ein fordernder, erschöpfener, aber auch unendlich anregender Abend." 

Kevin Hanschke schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (24.1.2022, €), den Anfang mache die Geburtsszene Moliéres, aber gleich danach beginne "Castorfs berüchtigte Assoziationskette aus Fragmenten und Abschweifungen". Das Kölner Schauspielensemble leiste "Großartiges", und Castorf schaffe eine "Atmosphäre zwischen poppigem Klamauk und Anarcho-Tragödie". Ein "wirklicher Plot lässt sich mal wieder nicht erkennen". Die Inszenierung erschöpfe sich darin, "den Rausch und die darauf folgende Verzweiflung einer Gesellschaft am Abgrund in immer neuen Anläufen zu apostrophieren". Mal erinnere das Stück an "eine Jubiläumssendung, mal an einen laut vorgelesenen Wikipedia-Artikel". Doch besonders die erste Stunde steche heraus. Molières Theatertruppe bei Proben. "Die barocken Kostüme, die Perücken und die schrammelnden Gitarrenklänge im Hintergrund sorgen dafür, dass das Kollektiv mal wie eine Freakshow wirkt, mal wie eine Agitprop-Gruppe und dann wieder wie ein nobles Ensemble der Comédie-Française." Das Bühnenbild von Aleksandar Denić schaffe einen "opulenten Rahmen", getragen würden die fünfeinhalb langen Stunden von Jeanne Balibar. Ihre Aura mache manches erträglich. "Dass Castorf mit seinem Molière-Abend vor allem sich selbst ein Denkmal setzt", sei offensichtlich.

Hans-Willi Hermans schreibt in der Kölnischen Rundschau (24.1.2022: 11:30 Uhr, €), das Stück sei "größtenteils" eine "lose Aneinanderreihung von Assoziationen ohne roten Faden". Die Regie sei "abwechslungsreich" und "arbeitet mit allen Mitteln der Theaterkunst", bliebe aber im Rahmen des von Castorf Bekannten. Die Schauspieler seien durchweg "hiervorragend aufgelegt" und agierten "kraftvoll".

Alexander Menden schreibt in der Süddeutschen Zeitung (online 24.1.2022, 15:32 Uhr): Diesmal solle es um "das ganze Leben des französischen Komödiendichters gehen", um "Machtverhältnisse", "Hierarchien", die "Verpflichtung des Komödianten, dem adligen Herrn Zerstreuung zu bieten". Die Darsteller:innen müssten "unendliche Textriemen" durchkauen. An "bühnentechnischem Aufwand" werde nicht gespart. Vor allem werde "viel gefilmt und gesendet". Doch seien die "statisch in der Luft hängenden Bühnennebelschwaden" oft das "Beste und Klügste von dem, was da vorne passiert". Leider funktioniere auch bei der bewundernswerten Jeanne Balibar die "ironische Durchmischung verschiedener Register und Textsorten überhaupt nicht". Alles wirke "offenkundig auswendig gelernt". Alles in allem sei "Molière" ein "schlampig gebauter Riesenkübel, randvoll von Irrelevanz". Ein Abend, der vorführe, was passiert, wenn ein "superarrivierter Theaterregisseur ohne Rücksicht auf Verluste jeder noch so doofen Assoziation freien Lauf lässt".

Der Abend lasse sich Zeit, meint Lara Wenzel im nd (online (24.01.2022, 15:47 Uhr) "im Über- und Ausschuss zu schwelgen" und kommentiere "selbstgefällig seine ausufernden Gesten". Ein "Machtspiel mit dem Publikum" sieht die Rezensentin, das nicht nur den 400 Jahre alten Komödiendichter feiere, sondern auch seine Rezipient:innen. Mit dem Fazit: "Ein mäandernder Marathon, der von exzentrischen Ideen und Schauspielpersönlichkeiten getragen wird" beendet die durchweg begeisterte Kritikerin ihre Besprechung.

 

 

 

Kommentare  
Molière, Köln: Kurz und bündig
Ein grandioser Abend!
Molière, Köln: Margot Gödrös?
Mir hat es auch gefallen.

Aber die im Text und in der Besetzungsliste auf der Theater-Homepage erwähnte Margot Gödrös war nicht dabei. Wissen investigative Nachtkritik-Redakteure denn, warum?

(Anm. Redaktion. Es gab tatsächlich eine Umbesetzung. Krankheitsbedingt. Wir haben die fehlerhafte Passage im Text korrigiert. Mit freundlichen Grüßen, Christian Rakow / Redaktion)
Molière, Perchtoldsdorf: Pefekt, ein Genuss
Da kann ich Herrn Christian Bos vom Kölner Stadt Anzeiger nur zustimmen: Der Schauspielerin Jeanne Balibar könnte man ewig zuschauen. Eine schauspielerische Glanzleistung und dies, obwohl oder weil, sie fast 3 Stunden nackt resp. halbnackt war. Es war aber niemals peinlich, trotz der starken erotischen Momente. Balibar war der Mittelpunkt der Inszenierung, ohne sie wäre die Aufführung uninteressant gewesen, trotz des- wie immer ebenfalls glanzvoll auftretenden - Bruno Cathomas als Moliere. Bedauerlich, dass nur so wenige Zuschauer anwesend waren bei der Derniere.
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