Was ihr wollt - Staatstheater Nürnberg
Zügellose Party
22. Januar 2022. Alle lieben. Nur nicht die, die zu ihnen passen, nicht die, die zurücklieben. Man kann Shakespeares Verliebt-verkleidet-verwechselt-verheiratet-Komödie "Was Ihr wollt" tiefschwarz zeichnen. Oder knallbunt. Wie Rafael Sanchez in Nürnberg.
Von Wolfgang Reitzammer
22. Januar 2022. Ach, Illyrien, du fernes Fantasieland für Gestrandete, für Liebessucher und Selbstdarsteller – wo bist du nur zu finden? Nach der "Was ihr wollt"-Inszenierung von Rafael Sanchez im Nürnberger Staatstheater kommt die geografische Frage einer Lösung etwas näher: Die Insel muss irgendwo zwischen Ballermann, Ibiza und Tauris liegen. Dort feiert man am Strand zügellose Partys, geht seinen diversen erotischen Neigungen nach und lebt nach der Methode "Alles ist verkleidet, nichts ist, wie es scheint".
Die Bühne von Eva-Maria Bauer zeigt sich im nasskalten deutschen Januar als wärmende Sandlandschaft mit Fernweh-Garantie – Liegestühle, Sonnenschirme, Wasserbälle, Schwimmreifen und eine Kiste Corona-Dosenbier liegen bereit. Der Hintergrund ist eine große Videowand, die abwechselnd mit Meereswellen, quietschbunten Kreisen oder einem Aquariums-Bildschirmschoner mit Seepferdchen bespielt wird. Drohend formt sich in der Mitte ein schwarzes Loch, durch das am Anfang die schiffbrüchigen Zwillinge Viola (Süheyla Ünlü) und Sebastian (Justus Pfannkuch) an Land gespült werden.
Karussell der Irrungen und Wirrungen
Mit ihrer Männer-Verkleidung und einem hautfarbenen Brusthaar-T-Shirt bringt Viola ein Karussell der Irrungen und Wirrungen in Bewegung, in das die ganze Insel-Gesellschaft involviert ist. Als vermeintlicher Knabe Cesario erledigt sie Botengänge für den unglücklich liebenden Herzog Orsino zu dessen Angebeteter Gräfin Olivia, wird aber bald selbst zum Objekt der Begierde für die Gräfin. Und erst die Ankunft ihres verschollen geglaubten Zwillingsbruders Sebastian löst die Verwicklungen.
Man fühlt sich an einen Film von Paolo Sorrentino aus dem Jahre 2011 erinnert ("La Grande Bellezza"), eine melancholisch-träumerische, hypnotisch-verführerische Kino-Geschichte über Exzess, Dekadenz und eitles Geschwätz, in der die italienische Promi-Gesellschaft von Silvio Berlusconi bis Flavio Briatore demaskiert wird. Beim Nürnberger Shakespeare gehören Hawaiihemden, Bermudahosen und Goldkettchen zum unverzichtbaren Inventar, man tanzt wie im Club Méditerranée den Bonga Cha-Cha-Cha als trunkene Polonaise oder singt mit dem Schmelz von Rolando Villazon "Unbreak My Heart" oder "O Sole Mio".
Proleten und sadistische Dienstmädchen
Gräfin Olivia (Stephanie Leue) torkelt als schrille "Lady In Black" zwischen den blauweißen Polstern, Sir Toby (Felix Mühlen) und Sir Andrew (Pius Maria Cüppers) geben sich als dümmliche Malle-Proleten die Kante, und Dienstmädchen Maria (Pauline Kästner) schwelgt in sadistischen Phantasien: "Dreams Are My Reality". Die Närrin (Adeline Schebesch) sondert weise Sprüche ab, die keiner hören will, und verkleidet sich gerne auch mal als Geistlicher.
Den skurrilen Kostüm-Höhepunkt (Kostümbild: Ursula Leuenberger) bietet der gehörnte Hausmeister Malvolio (Nicolas Frederic Djuren), der sich im schwarzen Borat-Tanga der Gräfin nähert, dann aber – dank Videoprojektion – in Dunkelhaft versetzt wird. Von der beflissenen bayerischen (!) Polizei wird er mit Elektro-Schockern getriezt und angekettet dem Grafen Orsino (Amadeus Köhli) vorgeführt.
Überdosis Faschingstreiben
Man sieht also, dass Regisseur Rafael Sanchez der eigentlich unkaputtbaren Shakespeare-Komödie, die sich aus Verwechslungen und falschen Brief-Botschaften speist, ordentlich Zucker in den Hintern geblasen hat, dabei aber manchmal übers Ziel hinausgeschossen ist. Schrille Dialoge, hektische Musikeinspielungen, nonverbaler Catch as catch can, ein bisschen Überdosis an Faschingstreiben – da macht sich im Corona-bedingt nur zu 25 Prozent besetzten Zuschauerraum manchmal ein lähmendes Gefühl breit: Ist das nicht viel Lärm um nichts?
Die Inszenierung findet zum Glück aber noch einen höchst originellen und versöhnlichen Abschluss: Fernab vom Originaltext startet Olivia einen grandiosen Monolog, in dem sie das ganze Bühnen-Personal sprachmächtig abkanzelt und damit in einer theatralischen Meta-Ebene die tragischen Abgründe aller Personen herausarbeitet. Danach flimmert an der Videowand noch ein selbstgemachtes Live-Musik-Video, in dem das ganze Ensemble in der Proben-Werkstatt beobachtet wird. So kann ein Happy End für den aufgeklärten Theaterbesucher auch aussehen.
Was ihr wollt
von William Shakespeare
Regie: Rafael Sanchez, Bühne: Eva-Maria Bauer, Kostüme: Ursula Leuenberger, Dramaturgie: Sascha Kölzow, Musik: Cornelius Borgolte, Videodesign: Robin Nidecker.
Mit: Süheyla Ünlü, Justus Pfannkuch, Amadeus Köhli, Stephanie Leue, Nicolas Frederic Djuren, Pauline Kästner, Raphael Rubino, Adeline Schebesch, Felix Mühlen, Pius Maria Cüppers.
Premiere: 21. Januar 2022
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.staatstheater-nuernberg.de
In den Nürnberger Nachrichten (24.1.22) schreibt Wolf Ebersberger: "Und der Anfang, er ist ja auch vielversprechend schön". Der Strandkulisse, in die das Geschehen verlegt wird, könne man sich schwer entziehen. Der Regisseur lege "das Stück als gnadenlose Satire im Ferien-Setting an, mit witzig überzeichneten Typen, die sich zum sommerlichen Schabernack zwischen Gummieinhorn und germanisch belagertem Liegestuhl treffen." Das ernüde. So sei die "neckisch und mit viel Musik von Gag zu Gag, von Sommerdisco zu Strand-Polonaise schlendernde Nürnberger Inszenierung eben nicht mehr ernst zu nehmen."
"Dem üblichen Spiel mit Geschlechterrollen, wie man es oft zu sehen bekommt, gilt aber nicht Sanchezʼ Augenmerk. Er zeigt eine wohlverstandsverwahrloste Spaßgesellschaft läppischer und mitunter sehr bösartiger Individualisten vor Strandkulisse", schreibt Florian Welle in der Süddeutschen Zeitung (24.1.22). "Wo Shakespeare die menschlichen Untiefen erahnen lässt, waten wir mit Sanchez knietief hindurch." Die Komödie werde zur Farce. Und dabei sei "die Überzeichnung noch nicht einmal das größte Problem. Das liegt darin, dass überdies die inflatorisch eingesetzten Songs dem Stück sein ureigenes Tempo rauben. Shakespeares unbändiger Wortwitz bekommt ständig Knüppel zwischen die Beine." Man lache hier erstaunlich wenig, schließt der Rezensent.
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