Sexy in Roulettenburg

29. Januar 2022. Dostojewskijs Roman "Der Spieler" handelt von Menschen, die kurz vor dem Ruin stehen. Die Spielsucht wiegt schwer. Regisseurin Pınar Karabulut, Expertin für schillernde Klassiker-Aktualisierungen, lässt bei ihrem Einstand am Theater Basel seine High Society in Zuckungen verfallen – an der metaphernschweren Poledance-Stange.

Von Claude Bühler

Eine schillernde Gesellschaft | Ensemble von "Der Spieler" in der Regie von Pınar Karabulut am Theater Basel © Ingo Höhn

29. Januar 2022. Eine persönliche Horrorvision beschreibt Dostojewskijs Roman: die Tragödie seines psychischen und finanziellen Ruins. Der wäre eingetreten, wenn es ihm wenige Jahr zuvor nicht gelungen wäre, seiner Spielsucht zu entrinnen, sich von den deutschen Casinostädten des 19. Jahrhunderts loszueisen und anschließend den Roman "Der Spieler" in nur 26 Tagen zu diktieren und abzuliefern.

Abhängig und abgebrannt

Der immense Druck entlädt sich in einem sprachlichen Furor, der seit 155 Jahren das Lesepublikum fasziniert. Wie irre rempelt der Ich-Erzähler, ein Hauslehrer, in "Roulettenburg" (Baden-Baden) die höhere Gesellschaft an, provoziert den feigen, debilen General, der ihn bezahlt, entfacht aufzehrende Wortgefechte mit dessen Stieftochter Polina, die er angeblich liebt. Sein Feind ist der angebliche Baron de Grieux, auch weil Polina, so der Deal, mit ihm verheiratet werden soll.

Wie ein Krimi liest sich seine fieberhafte Recherche nach den Abhängigkeitsverhältnissen der abgebrannten Generalsfamilie. Dass Alexej Iwanowitsch dabei nur Gerüchte vernimmt oder entsetzte Mienen registriert, ansonsten auf verschlossene Türen trifft, vermehrt nur die Wut auf die Bessergestellten. Wir erleben das Drama eines Mannes, der glaubt, Kontrolle zu haben, und sie ebendeshalb verliert.

Atemlose Aufmerksamkeit

Wer den Roman der geschilderten Qualitäten wegen liebt, wird nach den 110 Minuten im Basler Schauspielhaus nur wenig auf seine Kosten gekommen sein. In die Glieder fahren ausgerechnet die zwei stillsten Szenen des Abends: ein Monolog Alexejs, in dem er uns akribisch den Entgrenzungszustand am Roulettetisch, die Glückswoge beim Gewinnen vergegenwärtigt. Und der Schluss, wenn er, gestrandet in einer Spielstadt, in einem Hamsterrad Tritt sucht, immer wieder fällt, beschwört: "Ich könnte schon morgen abreisen. Ich könnte neu geboren werden. Jetzt gerade ist es natürlich schon zu spät, aber morgen..." Das leise Orgel- und Cembalospiel im Hintergrund versetzt uns in die Isolation Alexejs. Elmira Bahramis souveräne Führung, ihr empfindsames Spiel, sorgen für atemlose Aufmerksamkeit.

Spieler 4 IngoHoehn uSexy Posen der besseren Gesellschaft © Ingo Hoehn

Ansonsten haut Regisseurin Pınar Karabulut bei ihrem Basler Debüt sprichwörtlich auf die Pauke. Techno-Gewummer versetzt die High Society zu Beginn in Zuckungen. Dostojewskijs abgezirkelte Gesellschaft wird um einige Zacken ins Instagram-Zeitalter weitergedreht. Die happy few sind jetzt queer und üben sexualisiertes Posing. Das Baronen-Paar Wurmerhelm unter wuchtigen Federhüten stakst in einem silly walk um die Drehbühne. Der General unter Damenperücke quasselt von seinen maroden Finanzen. Was im Roman umtreibt, hier wird es geheimnislos rausgeschwatzt.

Den biederen Bürgern 

Vera Flück als de Grieux schwingt ihre Federboa. Bahramis Herrenhemd mit großem Kragen zeigt das bekannte Lesben-Cliché. Es wird nie so recht klar: Ist das Spiel mit Geschlechterbildern, die Queerness, Satire oder Plädoyer oder beides. So lässt man sich mal vom grellbunten und aufgekratzten Personal in die Story tragen, wartet auf die Fortsetzung des fulminant inszenierten Antritts. Stattdessen hören wir lange Dialoge, die weitgehend ins Leere laufen. Sie passen zu wenig zu den Persönlichkeiten auf der Bühne. Musste etwa Alexejs Deutschenschelte über den biederen Bürger unbedingt mit rein, wenn hier mit Alexej gar kein innerlich verstrittener Nationalist dargestellt wird? 

Spieler 1 IngoHoehn uAufgekratztes Personal: Annika Meier, Elmira Bahrami © Ingo Hoehn

Grässlich lacht die Gesellschaft über die Meldung auf, die Erbtante sei endlich gestorben. Jetzt könnten die Schulden bezahlt werden. Zu früh gefreut. Barbara Colceriu tritt auf wie ein US-Rapstar, getragen von zwei Bodybuildern, und reanimiert den Abend pompös und temperamentvoll. Wie sie beim Roulette gewinnt, lässt sie sich selig die Brüste, den ganzen Körper streicheln. Wie sie ihr ganzes Reisevermögen verliert, versetzt sie schreiend in den General ins Elend, er kriege nichts von ihrem Geld, und reist wieder ab. An diese so eigenwillige Figur im Roman, die immer wieder neu frappiert, darf man nicht denken; Colceriu tut so viel, wie ihr die Inszenierung lässt.

Roulette an der Poledancestange

Die symbolstarke Erfindung des Abends ist der Roulette-Tisch: Eine Poledancestange. Das Setzen und Spielen wird mit wippenden Hintern als sexuell aufgeladener Akt gezeigt. Dass hinter der Spielsucht im Roman viel versteckter Sex steckt, ist zwar keine neue Erkenntnis, aber die Lesart wird mit mehreren angedeuteten Sexualakten zum roten Faden der Inszenierung. Der hat für sich, die Getriebenheit der Spielenden spürbar zu machen. Der kräftige Applaus zum Ende konnte den Generationengraben während der Aufführung nicht zudecken. Die Jüngeren schüttelten sich bei jeder Pointe vor Lachen, die anderen blieben weitgehend still.

 

Der Spieler
Aus den Aufzeichnungen eines jungen Mannes von Fjodor Dostojewskij
Inszenierung und Textfassung: Pınar Karabulut, Bühne und Kostüme: Sara Giancane, Komposition: Daniel Murena, Lichtdesign: Vassilios Chassapakis, Dramaturgie: Sarah Lorenz.
Mit: Elmira Bahrami, Jan Bluthardt, Barbara Colceriu, Vera Flück, Marvin Groh, Nairi Hadodo, Peter Knaack, Annika Meier, Antoinett Ullrich, Joshua Walton, Reto Furrer, Kennedy Maina, Laurent Theurillat, Florian Wolf.
Premiere am 28. Januar 2022
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch


Kritikenrundschau

Im hybrid schillernden Ambiente tragen Karabulut und ihr Team dick auf, so Michael Baas in der Badischen Zeitung (31.1.2022). "Die Inszenierung reiht Schrillness mit der Dramaturgie einer Modeschau aneinander – vom weit ausgeschnittenen Tiger-Look und karnevaleskem Federkopfschmuck, über Reifrock-Korsetts, breitkrempige Hüte, Federboas." Die Regisseurin schreibe bei ihrer Basler Premiere ein weiteres Kapitel des poppig-multikulturellen Gendertheaters, "das sich mit Anleihen im Jugendslang ('Alter', 'Lover', 'du Knecht') und pubertärer Obszönität betont zeitgeistig gibt und Diversität fraglos als ästhetischen Mehrwert begreift". Die Figuren seien tatsächlich bodenlos, "süchtig nach Entgrenzungserlebnissen, wie sie Alexej vom Roulette-Tisch beschreibt. So werden Subjekte zu Objekten, die auf der Jagd nach Selbstvergewisserung zwischen Extremen oszillieren."

 

 

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