MiniMe. Zehn Lektionen in Unterwerfung - Volksbühne Berlin
Drama einer Kindsdressur
30. Januar 2022. Wer schön sein will, muss leiden. Das weiß die Mutter, ihr Kind muss es erst lernen. Oder eingetrichtert bekommen. Das gefeierte Film- und Theaterduo Kata Wéber und Kornél Mundruczó gibt in seinem ersten Volksbühnen-Abend "MiniMe" zehn bittere Lektionen in Unterwerfung und Unterordnung.
Von Sarah Kailuweit
30. Januar 2022. Zuerst wird der Einblick verwehrt. Eine unverputzte Betonhauswand verschließt die Bühne. Davor ein ebenso grauer Pool, auf dem selbst der pinke Aufblasflamingo verblasst – willkommen in der Vorstadthölle. Nur eine Kamera lässt hinter die Barrikade blicken. Dort: ein Wohnraum, eine Mutter, eine Tochter. Sie streiten über Hausaufgaben, lachen, und Mini erklärt ihrer Mutter Selfie-Ästhetiken: "Ist sie sauer auf jemanden?" – "Nein, das ist ihr Style." – "Ist sie etwa krank?" – "Nein, das ist ihr Style." Dieser Abend ist eine Familiengeschichte voller Abgründe.
In zehn immer länger werdenden Episoden schält sich in der Regie von Kornél Mundruczó ein Drama aus Sehnsucht und Machtmissbrauch heraus. Leistungsdruck wabert durchs Familienheim, die Mutter will ihr Kind für einen Schönheitswettbewerb präparieren, weil sie selbst vor Jahren in dem Geschäft aktiv war. "MiniMe" – Ich in klein – nennt Kata Wéber ihre zehn "Lektionen" einer Kindsdressur. Die intime Kamera (Richard Klemm und Gian Suhner) verfolgt, wie Mutter und Mini für den Catwalk üben. Das ist erst lustig, wird aber schnell bitter, wenn Mini aufgefordert wird, ihren Pullover auszuziehen, ein eng anliegendes Gymnastik-Outfit zum Vorschein kommt und Mama der Zehnjährigen von hinten beständig "Lache! Lache! Lache!" ins Ohr säuselt.
Der Soundtrack des traurigen Innenlebens
Begleitet wird der Abend mit Live-Musik von Daniel Freitag. Seine Untermalung des Bühnengeschehens ist minimalistisch, teilweise störend. Wie ein Soundtrack übersetzen die Töne das Innenleben des Mädchens, obwohl Maia Rae Domagala als Mini auch ohne musikalische Untermalung eindrucksvoll transportiert, wie die toxischen Familienbande in ihr rumoren. Wenn auf der Bühne nur zögerlich miteinander gesprochen wird, behindert die Musik das Hörvermögen. Dann wieder fungiert die Musik als Katalysator für das Bühnengeschehen. Und Freitag wirkt wie ein akustischer Puppenspieler.
Trotz der Schwere des Themas wird immer wieder gelacht. Sicher auch wegen Kathrin Angerers brillanter Verkörperung der Mutter, die in Plüsch-Stilettos und Seidenpyjama ihre Tochter liebt und straft, hasst und belohnt.
Schutzraum unter Hochdruck
In Kata Wébers Text ist die Grenze zwischen gewöhnlicher Familiendynamik und emotionaler Erpressung dünn. Die zwanghafte Konkurrenz- und Optimierungsgesellschaft trieft aus jeder Ecke des teuer eingerichteten Wohnzimmers. Wo eigentlich Schutzraum sein sollte, manifestiert sich eine Dopplung des Drucks. Wie gerechtfertigt ist die Sexualisierung der Zehnjährigen durch einstudierte Tanzeinlagen mit Hüftwackeln, wenn Mini nie explizit sagt, dass sie das nicht will? Wird es erst übergriffig, wenn Mini auf dem Esstisch liegt und ihre Mutter mit Heißwachs die kaum vorhandenen Beinhaare ausreißt? Besonders gewaltvoll sind die verbalen Angriffe, die immer wieder ohne Vorwarnung geschossen werden und das emotionale Gewicht unter dem Mini, vor allem durch die wechselwarme Liebe ihrer Mutter, pausenlos steht. Kathrin Angerer gibt sich dabei verbohrt naiv und ist gerade deswegen charismatisch.
Weitergabe von Traumata
Der Abend schiebt sich unaufhaltsam unter die Haut, die Gewaltspirale beschleunigt sich mit dem Auftreten des Vaters (Daniel Sträßer). Schließlich bricht das Kind, zerreißt. Gleichzeitig wird im Zusammenspiel zwischen Kathrin Angerer und Daniel Sträßer auch der Druck auf die Eltern sichtbar, die ihrem Kind ein besseres Leben schenken wollen als das eigene. Wenn sich nach der Hälfte der Szenen die Betonwand hebt und den Blick ungehindert ins Innere des Hauses zulässt, ist das wenigstens kurzzeitig erlösend – die emotionale Wucht im Raum hätte sie sonst früher oder später gesprengt.
Kornél Mundruczó schafft mit seinem Theaterdebüt in Berlin ein Energiefeld zu spannen, das gesellschaftliche Fragen auf der kleinsten gemeinschaftlichen Einheit verkörpert. Dabei hat die Inszenierung in ihren hyperrealistischen Zugriff keine Angst vor Nähe, sondern beleuchtet Selbstsucht, Kapitalismus und Weitergabe von Traumata unmittelbar. Besonders eindrucksvoll ist das wiederkehrende Auf und Ab zwischen Liebe und Macht, das Wundern ob gerade gespaßt oder aggressiv gehandelt wird. Die Bühne pulsiert trotz der geleckten Einrichtung und der grauen Wände. Am Ende bleibt die Frage: Wem gehören eigentlich unsere Kinder?
MiniMe. Zehn Lektionen in Unterwerfung
von Kata Wéber
Übersetzung von Orsolya Kalász und Bálint von Berg
Regie: Kornél Mundruczó, Bühne: Mona-Marie Hartmann, Stéphane Laimé, Kostüme: Flóra Kruppa, Musik: Daniel Freitag, Live-Musik: Daniel Freitag, Live-Kamera: Richard Klemm, Gian Suhner, Licht: Kevin Sock, Dramaturgie: Soma Boronkay, Jutta Wangemann.
Mit: Kathrin Angerer, Maia Rae Domagala, Daniel Sträßer.
Premiere am 29. Januar 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.volksbuehne.berlin
Kritikenrundschau
Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (online 30.1.2022) sah eine "tapfer und beeindruckend" aufspielende Maia Rae Domagala und Kathrin Angerer in der Rolle der Mutter als "Foltermeisterin der Kunststoffschönheit". Gegen den Abend im Ganzen aber erhebt er Einwände: "In einem fleißig vor sich hin blubberndem Betrieb wie dem Deutschen Theater oder dem Berliner Ensemble fällt so etwas weniger auf. Hier aber fragt man sich: Was hat ein solches intimes, ein bisschen aus dem Ruder laufendes Kabinettstück auf dieser großen Bühne zu suchen, die ihre eigene Ausdrucks- und Wurfkraft verlangt, die für Zirkus, Ekstase und Rampensäue gemacht ist? Und wieso soll sich das Volksbühnenpublikum mit sattsam bekannten psychologischen Klischees abgeben (...)?" Für den Kritiker ist es eine "Allerweltsarbeit".
Barbara Behrendt von RBB Kultur (31.1.2022) findet, bei Kathrin Angerer klinge jeder Satz so ironisch gebrochen, als spräche sie einen Pollesch-Text. Alles werde ihr zur Komödie, weil sie ihre Figur schlicht nicht ernst nähme. Das sei verständlich. Die Geschichte hätte ins Mark treffen können, wenn die Erwachsenen nicht solche Karikaturen wären: "Der hemdsärmelige Jäger und das Modepüppchen mit Profilneurose." Der Abend entwickle sich zur skurrilen Horror-Groteske. "Ästhetisch ist das formvollendet, inhaltlich geht es mitunter bitterkomisch zu, oft allerdings auch ziemlich flach und vorhersehbar."
"Mundruczó und Wéber wuchern hier (...) vor allem mit dem Ausmaß der Gewalt, stellen sie möglichst direkt und offen zur Schau. Das hat dramaturgische Konsequenzen: Die Figuren entwickeln sich kaum, sie sind am Schluss noch, was sie bereits zu Beginn von sich preisgaben. Lediglich die Intensität der Grausamkeit nimmt zu, womit sich das Stück selbst um seine Komplexität bringt", schreibt Michael Wolf auf nd-aktuell.de (30.1.2022). "Oberflächlich wirken Text und Spiel mitunter, als liege das vornehmliche Ziel im Schockmoment selbst, im Effekt. Der 90-minütige Abend folgt mehr den Regeln des Horror-Genres als denen des Familiendramas."
"Im Kern ist die Geschichte plakativ und pathetisch. Grenzverletzung und aufs Kind geworfene Selbstverwirklichungssucht – schlimm, schlimm. Zur stummfilmhaften Live-Musik von Daniel Freitag nimmt das Ganze dann mal die Form der Satire, mal der Soap, mal des Dramas an. Und hängt irgendwie tragisch in der Luft", schreibt Patrick Wildermann im Tagesspiegel (Online: 30.1.2022).
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(Anm. Redaktion Eine kampagnenhafte Volte wurde aus diesem Kommentar entfernt.)
Man sollte Frank Castorf dort inszenieren lassen und Sebastian Hartmann.
Dieser Abend "MiniMe" ist einfach nur schrecklich. Ich bin zum ersten Mal nach zehn Jahren im Theater rausgegangen.
Herr Mundruczo und Herr Pollesch, hören Sie endlich auf, Tiere als Objekte zu benutzen!