Die Kunst der Parlamentspoetin

2. Februar 2022. So viel Aufmerksamkeit wie in der Debatte um eine Parlamentspoetin erfährt die Kunst selten. Nun fordern Politiker:innen, sie soll ihre Arbeit vermitteln, soziale Gräben zuschütten und die Mächtigen vor sich hertreiben. Dabei ignorieren all diese Wünsche das Entscheidende an der Kunst.

Von Michael Wolf

2. Februar 2022. Nicht nur das Feuilleton, auch die Hauptstadtpolitik streitet derzeit über Poesie. Angestoßen wurde die Diskussion um Sinn oder Unsinn einer Parlamentspoetin von einem Text, den die Autor/innen Mithu Sanyal, Dmitrij Kapitelman und Simone Buchholz in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten. Er fängt mit einer Aufzählung der großen Herausforderungen unserer Zeit an: "Wie bauen wir Brücken, wie heilen wir die Risse in unserer Gesellschaft, wie lassen wir alle, die in Deutschland leben, an der Gestaltung unserer Demokratie teilhaben, wie brechen wir unbrauchbar gewordene Strukturen auf, weil sie nur einem geringen Teil der Bevölkerung nutzen, allen anderen aber schaden, und wie machen wir – daraus folgend – nicht nur die Mitte Europas, sondern am besten den ganzen Kontinent zu einem friedlicheren, gerechteren, klimarettenden Ort?"

Die Parlamentspoetin scheint für die Verfasser/innen die Antwort auf all diese Fragen zu sein, denn, wie es am Schluss des Textes heißt: "Es gibt Dinge, über die wir nicht in der Sprache von Statistiken, Analysen und Fraktionsmehrheiten reden können: etwas wie Versöhnung und Heilung, wie Verbindung. Doch sind das genau die Punkte, die wir bearbeiten müssen, wenn wir als Gesellschaft lebensfähig bleiben wollen." NAC Illu Kolumne Wolf 2x2

Davon abgesehen, dass ich meine Zweifel habe, ob eine einzige Parlamentspoetin nicht mit den vielfältigen Aufgaben überfordert wäre, frage ich mich, welche Vorstellung von Poesie, von Kunst, hier waltet? Sind der soziale Zusammenhalt, die Vermittlung von Frieden oder die Rettung des Klimas denn deren Aufgaben? Katrin Göring-Eckardt von den Grünen versuchte mit einem Tweet, die Verhältnisse zu ordnen: "Poesie kann Politik nicht ersetzen, sondern übersetzen. Übersehenes sichtbar und Technisches sagbar machen."

Tolle Bühne?

Offen bliebe, was Kunst nun noch der der PR voraushätte, bemerkten Kritiker und verteidigten die rebellische Kunst gegen die drohende Übernahme durch die Politik. "Man muss doch nicht gegen Autoritäten arbeiten, um Sinn zu finden“, entgegnet Hamburgs Kultursenator und Bühnenvereinspräsident Carsten Brosda. Er sucht stattdessen die Gemeinsamkeit von Politik und Kunst, findet sie aber enttäuschenderweise nur in der Binse, dass beide nach Öffentlichkeit streben. Das sollten sie nun, nach Brosdas Wunsch, gemeinsam tun, sich aufeinander zubewegend. "Was wäre die Alternative dazu? Die Politik könnte sich ins Technokratische zurückziehen, die Kunst ihre Ästhetiken aus Angst vor Nähe und Vereinnahmung abschirmen. Dann blieben beide zwar bei sich, ihre Relevanz aber würde erodieren."

Man kann dieses Argument für eine Parlamentspoetin so verstehen, dass der Bundestag doch eine tolle Bühne wäre, das ideale Schaufenster für eine Kunst, deren Wert letztlich von der ihr geschenkten Aufmerksamkeit abhängt. Aber inwiefern unterschiede sie sich, so betrachtet, von einer Greenpeace-Aktion, einem Leitartikel oder einem Video des Youtubers Rezo?

Stachel im Fleisch

Auch FDP-Politiker Wolfgang Kubicki schaltete sich in die Debatte ein, er unterstellte den Befürwortern der Idee, Kunst schlicht falsch verstanden zu haben. "Künstler sollen eigentlich Stachel im Fleisch der Herrschenden sein, nicht deren Angestellte", belehrte er sie, und merkte vermutlich nicht einmal, dass auch er die Kunst damit in seine Dienste nahm. Denn warum sollten Künstler Stachel sein? Und warum sollte Kunst überhaupt eine Aufgabe haben? Ihre ungemeine Attraktivität liegt doch darin, dass sie keinen Nutzen erfüllt, dass man sie nicht einfach gebrauchen kann. Die Funktionslosigkeit ist der Skandal und das Schöne an dem, was wir behelfsmäßig Kunst nennen. Dafür ist der Bundestag nicht gedacht, und das ist keine schlechte Nachricht. Für die Abwesenheit von Zwecken gibt es geeignetere Orte.

 

Michael Wolf hat Medienwissenschaft und Schreiben in Potsdam, Hildesheim und Wien studiert. Er ist freier Literatur- und Theaterkritiker und gehört seit 2016 der Redaktion von nachtkritik.de an. 

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Kommentare  
Kolumne Wolf: Kunst als Wanderin
Manno, schöner Text wie so oft von Herrn Wolf - scheiße nur, dass, wenn man sagt, es gäbe "geeignetere Orte für die Abwesenheit von Zwecken", man damit zu wissen vorgibt, man kenne solche konkreten Orte - Und dass man dann unbewusst bereits der Anwesenheit der Abwesenheit von Zwecken DIENT, sie also mit Nutzen be-zweckt...
Der Ort für Abwesenheit von Zwecken wird immer ein vorläufiger und geheimer sein; ist er ausgemacht, ist er schon nicht mehr ein Ort der Anwesenheit von Kunst -
Die Kunst ist vermutlich eine merkwürdige Wanderin, die in der Öffentlichkeit das Erkanntwerden und Beschriebenwerden aus reinem Selbsterhaltungstrieb scheut.- Wäre dem so, dürfte man davon ausgehen, dass sie dort, wo sie verortet wird, bereits zum Zeitpunkt der Erörterung ihrer Zweck-Freiheit nicht mehr vorhanden ist...
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