"Was uns zerbricht, lässt uns überleben"

6. Februar 2022. Sebastian Nübling inszeniert die kurzen Erzählungen der syrischen Journalistin Rasha Abbas in flackernden Schlaglichtern und drei Sprachen. Ein Abend zwischen Krise, Medienkunst, Komik und elektronischer Musik über Kriegserfahrung und Alltag, Träumen und Erinnerung.

Von Elena Philipp

© Ute Langkafel / Maifotos

6. Februar 2022. Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine Frage wie gemacht für die Person, deren Namen nichts zur Sache tut. Mal spricht sie als 20-Jährige, mal als 17- oder 30-Jährige. Nennen dürfen wir sie: Samt. Wurzellos ist sie, schlägt sich durch. Ist eher wild denn sanft und glatt. Bestaunt diejenigen, deren Wurzeln tief reichen und die darum so adrett und sauber wirken. "Sie können mich Samt nennen": Mit dem Text zu dieser fragmentarischen Figur startet Rasha Abbas in ihren Erzählband „Eine Zusammenfassung von allem, was war“. Und auch Regisseur Sebastian Nübling hat mit den Spieler:innen Karim Daoud, Lujain Mustafa sowie Kenda und Kinan Hmeidan diesen Einstieg in die 80-minütige Prosa-Adaption am Gorki gewählt.

Kurztaktige Prosa, die das Unheimliche wuchern lässt

"Was uns zerbricht, lässt uns überleben": Mit diesem Motto gewinnt Samt unerwartet die Oberhand im Roulette des Überlebens. Krieg ist ausgebrochen. In Syrien. Diese zeitgeschichtliche Tatsache liest man zwischen den Zeilen immer mit bei Rasha Abbas. In den zahlreichen Leerstellen ihrer kurztaktigen Prosa siedelt die Imagination und wuchert das Unheimliche, Absurde, Komische. Alltägliche Erfahrungen schildern Abbas’ wechselnde Ich-Erzähler:innen als sprunghaften Gedankenstrom: wie sie sich um ihren Job als Bäckerin beworben haben; Drogen nehmen und fürchten, dafür verhaftet zu werden, weil sie als Geflüchtete einen prekären sozialen Status haben. Dissoziativ wirkt das Erzählte, wenn es um die in Kriegsgebieten alltäglichen Gefahren geht: als Zivilist:in einen Checkpoint passieren und bangen, ob der Soldat übergriffig wird; aus dem halbwegs sicheren Stadtzentrum in die unter Raketenbeschuss stehende Vorstadt laufen, um dort im Pool eines Bekannten zu tauchen; unter Folter versuchen, innerlich die Würde zu bewahren.

 Zusammenfassung3üa Ute Langkafel MAIFOTO uZwischen Erinnerungen und surrealen Erzählungen © Ute Langkafel / Maifoto

Und dann gibt es bei Rasha Abbas die surrealen Szenen. Eine Wohnung samt Partygästen und abgemagertem Familienkater versinkt im Dreckwasser, nachdem die Protagonistin mit einem positiven Schwangerschaftstest das Klo verstopft hat; ein abgetrennter Kopf liegt in einem Blumentopf auf dem Fenstersims und wird von der:dem suizidalen Erzähler:in aufmerksam gewässert. Episoden, die die vier Gorki-Spieler:innen auszugsweise übernehmen. Ein Gott etwa verwechselt die Anflehungen seiner Anhänger:innen und beschert einer, die sich nach Liebe sehnt, stattdessen ungewollt ein Kind. Kenda Hmeidan, eine grandiose Komikerin, trippelt die Schwangere in einem weißen (Braut-)Kleid als zarten Zombie auf die Bühne. Nebel wabert, sie zerquetscht eine der Zitrusfrüchte, die ploppend ihrem mächtigen Bauch entfallen. Später mokiert sie sich mit schriller Stimme über "Kiiiids!" und beschimpft als geifernde Aggro-Lady das "Monster" in ihrem Bauch. Über ihre Flüche lachen die des Arabischen mächtigen Zuschauer:innen, und auch in der englischen Übertitelung scheint die dem Text hinzu improvisierte Comedy-Persona von Hmeidan auf.

Dreisprachige Inszenierung

Als grelle Schlaglichter mit Ausrufezeichen präsentieren Nübling & Ensemble Abbas' sprunghafte Prosa, die von der Macht der Phantasie, von Gewalt und Traumata, Überlebenswillen und Schuldgefühlen kündet. In Schwarzlicht, wabernden Nebel und wummernde Clubbeats getaucht sind die vergleichsweise ausführlich aufgegriffenen Episoden um die Figur Samt. Auf zwei Stellwände und die Bühnenrückwand wird der Text projiziert, in den drei Inszenierungssprachen Deutsch, Englisch und Arabisch, bis die Körper der Performenden von leuchtenden Schriftzeichen bedeckt sind. Auf Atmosphäre und Aktion setzt die Adaption, die die Spieler:innen immer wieder scherzhaft als "eine Zusammenfassung der Zusammenfassung von allem, was war" bezeichnen. Bemerkenswert ist Kinan Hmeidans "face version": Mit in rasender Folge wechselnden Gesichtsausdrücken von Erheiterung, Erstaunen und Entzücken bis Entsetzen performt der Gorki-Schauspieler seine Leseeindrücke – im Scheinwerfer-Spot ist er bald selbst nur noch ein die Augen aufreißender, sabbernder, vom Körper getrennter Kopf.

Eine Zusammenfassung von allem, was warERZÄHLUNGEN VON RASHA ABBASVONRasha AbbasREGIESebastian Nübling & ENSEMBLEBÜHNESebastian Nübling, Evi BauerKOSTÜMEJoshua ReßLICHTChristian GierdenVIDEOQusay AwadMUSIKJessika KhazrikDRAMATURGIEValerie GöhringKÜNSTLERISCHE MITARBEIT & ÜBERSETZUNGSandra HetzlSprunghafte Prosa im wabernden Nebel © Ute Langkafel / Maifoto

Insgesamt betont die Gorki-Inszenierung die Komik von Abbas' Kurzgeschichten. In den Hintergrund treten die Kriegsgräuel. In einer Szene, in der das Ensemble verschiedene Haltungen für die Figur der Samt ausprobiert, deutet Kenda Hmeidan eine Folterszene an, verwischt die Pose aber sogleich mit einem neckischen Lächeln ins Publikum. Mit am bedrückendsten wirkt, wenn Lujain Mustafa immer wieder wie ohnmächtig zusammensackt, während eine Stimme aus einem gespenstisch läutenden Telefon die Episode vom Dreckwasser schildert. Wobei diese körperliche Reaktion fast zu dramatisch wirkt, wenn man sich brutalere Momente aus Abbas' Erzählband dazu denkt.

Komik und Krieg

Wie abgründig wirkt das Dargebotene, wenn man Rasha Abbas' Text zuvor nicht gelesen hat? Das ist kaum zu sagen, denn die beim Lesen ausgelösten Affekte, die Kinan Hmeidan in seiner "face version" herausdestilliert, schwingen beim Sehen immer mit. Vielleicht haben es sich Sebastian Nübling und sein gewandtes Ensemble an mancher Stelle zu einfach gemacht. Setzen sie zu sehr auf Unterhaltung? Oder ist diese Begegnung mit Abbas' Texten genau richtig temperiert? Eine Stärke der Inszenierung ist, sich selbst als perspektiviert zu verstehen. Explizit laden die Spieler:innen am Beginn dazu ein, das Gesehene assoziativ aufzuladen. "Imagine" hauchen sie in ihre Mikrophone, als sie, in der ersten Reihe sitzend, wie alle anderen die noch leere Bühne betrachten. Was sehen wir – und wenn ja, wie viele(s)?

 

Eine Zusammenfassung von allem, was war
von Rasha Abbas
Regie: Sebastian Nübling & Ensemble, Livemusik und Sound: Jessika Khazrik, Bühne: Evi Bauer und Sebastian Nübling, Kostüme: Joshua Reß, Video: Qusay Awad, Licht: Christian Gierden, Dramaturgie: Valerie Göhring, Künstlerische Mitarbeit und Übersetzung: Sandra Hetzl.
Mit: Karim Daoud, Kenda Hmeidan, Kinan Hmeidan, Lujain Mustafa.
Premiere am 5. Februar 2022
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Es sei ein anspruchsvolles Projekt, das sich Regisseur Sebastian Nübling und das vierköpfige Schauspielensemble vorgenommen haben, schreibt Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel (06.02.2022). Umso einleuchtender gestalte sich ihr Konzept: "Sie verdichten den Prosaband zum 80-minütigen Bühnenabend und tun das einzig Mögliche: nämlich, offensiv mit der besagten Unmöglichkeit zu spielen, ihn auf einen klar umrissenen Punkt zu bringen." Dabei ziele Nübling mit seinem Team mehr aufs Atmosphärische als auf die inhaltlichen Details der Geschichten.

"Ein alptraumhaftes, tranceartiges, bildsattes Gespinst" hätten Sebastian Nübling und das Ensemble aus Abbas’ Erzählungen destilliert, bemerkt Ute Büsing bei rbb Inforadio (7.2.2022). Auf einige "Leid-Motive" seien die schlaglichtartigen Erzählungen eingedampft. Das Publikum habe "die nicht leichte Aufgabe, die getanzten Alpträume zu dechiffrieren". Dabei lege die von der Spielerin Kenda Hmeidan angeregte Inszenierung nahe, "dass es nur der unbedingte eiserne Wille zur Bewegung ist, der einen Ausweg markiert“. Gelungen sei "eine verwirrende multiperspektivische und multilinguale Theatererfahrung, die lange nachwirkt und für Gesprächsstoff sorgt".

"Worte und Gesten bohren sich ins Fleisch. Etwas von einem schmerzhaft zuckenden Muskel liegt in dem Spiel der vier", schreibt Katrin Bettina Müller von der taz (8.2.2022). "In den Geschichten gibt es viel Ahnung von Krieg, von Gewalt, von Zerstörung, von Flucht, vom Fremdfühlen. Aber vor allem davon, wie solche Erfahrungen sich ablagern im Empfinden, Fühlen, Wahrnehmen. Das Heftige, Zugespitzte, Explosive, das auch mit gruseligem Witz Überzeichnete wird zu einem Modus, überhaupt Worte zu finden für das Traumatische."

Kommentare  
Eine Zusammenfassung, Berlin: Schrecken ins Skurrile
Obwohl sich der Schmerz des Bürgerkriegs und das Gefühl der Entwurzelung beim Neuanfang in der Fremde durch die Kurzgeschichten ziehen, ist der Ton der Miniaturen oft eher komisch als tragisch. Einige Figuren aus dem Bändchen, das im Microtext Verlag erschienen ist, haben Hausregisseur Sebastian Nübling und sein Ensemble herausgegriffen. Nur selten sind die hier ausgewählten, assoziativ aneinandergereihten Passagen klar im Nahen Osten verortet: Dies ist zum Beispiel bei einem „Syria, Syria“-Klageruf der Fall oder in einer vom Palästinenser Karim Daoud präzise gespielten Miniatur über das übergriffige Verhalten eines ebenso fiesen wie schönen Polizisten an einem Checkpoint zwischen Beirut und Damaskus auf dem Weg zu seinem Geliebten.

Oft spielen die Fragmente aber auch im Nachtleben á la Berghain, wummernde Technobeats von Jessica Khazrik ziehen sich durch den Abend, oder sind in einer ortlosen Fantasy-Welt wie aus einem Video-Game angesiedelt, die Qusay Awad gestaltete, der ebenfalls aus Syrien stammt und nach einem Architekturstudium u.a. als 3D-Designer und DJ tätig ist. Die drei Gorki-Ensemble-Spieler*innen bekamen Lujain Mustafa zur Seite gestellt, die ihre Ausbildung an der Ballettschule Damaskus begann, nach ihrer Flucht 2015 an der Essener Folkwangschule abschloss und zuletzt u.a. mit Nicola Hümpel von „Nico and the Navigators“ zusammenarbeitete.

Charakteristisch für die Abbas-Texte ist, dass sie den Schrecken ins Skurrile kippen lässt: ein abgeschlagener Kopf auf einem Blumentopf kam als Leitmotiv mehrfach vor. Von den knapp 75 Minuten bleibt der Eindruck einer Fingerübung, in der Video und Tanz eine zentrale Rolle spielen und in der das Gorki Theater die Texte einer noch recht unbekannten syrischen Autorin und Journalistin vorstellt, die einen ungewöhnlichen Blick auf die Themen Flucht und Vertreibung wählt.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/02/05/eine-zusammenfassung-von-allem-was-war-gorki-theater-kritik/
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