Im Schmiegegriff der Verlusterfahrung

13. Februar 2022. Jonathan Safran Foers Bestseller-Roman "Extrem laut und unglaublich nah" verbindet das Trauma der New Yorker Terrorangriffe 9/11 mit Erinnerungen an die Bombardierung Dresdens. Nach Hollywood hat es der Stoff bereits geschafft. Fürs Bielefelder Theater geht Cilli Drexel ihn nicht filmisch, dafür entschieden episch an.

Von Kai Bremer

"Extrem laut und unglaublich nah" nach dem Roman von Jonathan Safran Foer am Theater Bielefeld© Philipp Ottendörfer

13. Februar 2022. Jonathan Safran Foers Roman "Extrem laut und unglaublich nah" ist längst auch ein Bestseller auf dem Theater (zu sehen etwa in Hannover und Dinslaken). Vordergründig handelt der Roman davon, dass der neunjährige Oskar Schell einen Schlüssel in der Ankleide seines Vaters, der am 11. September 2001 beim Einsturz des ersten Turms des World Trade Centers in New York umkam, findet und wissen will, was es damit auf sich hat. Die Suche nach der Antwort darauf verknüpft Foer mit der Geschichte von Oskars Großeltern, die die Bombardierung Dresdens erlebt haben.

Letztlich erzählt der Roman also vom Ineinander von Verlust und Trauma, das dadurch gebrochen wird, dass Oskar – aus dessen Perspektive vor allem erzählt wird – autistische Züge trägt. Aber nicht nur dadurch verlangt Foers Roman danach, sich immer wieder selbst ein Bild vom Geschilderten zu machen. Neben den Berichten von Oskar finden sich im Roman Briefe, Notizen, Skizzen und Bilder. Die eigentliche Herausforderung für die Inszenierung von "Extrem laut und unglaublich nah" ist deswegen, für diese Ausdrucksvielfalt eine eigene Sprache zu finden und nicht einfach die Handlung nachzuerzählen – so wie es die Verfilmung mit Sandra Bullock und Tom Hanks getan hat, die in erster Linie auf die Wirkung der Stars setzt.

Absage an den Blockbuster

Dass Cilli Drexels Inszenierung auf der großen Bühne des Bielefelder Stadttheaters einen anderen Weg wählt, ist schon klar, wenn die Aufführung beginnt. Die Bühne (Maren Greinke) wird von einem gewaltigen runden Holzpodest, das schräg auf der Drehbühne steht, dominiert. Vom Schnürboden können verschiedene Möbel variabel herabgesenkt werden, die unterschiedliche Handlungsorte symbolisieren. Das erinnert ein wenig an die Ästhetik von Lars von Triers "Dogville".

Extrem laut 01 Philipp Ottendoerfer u Das Bielefelder Ensemble auf der Bühne von Maren Greinke © Philipp Ottendoerfer

Außerdem sprechen die Figuren – allen voran Tom Scherers Oskar – meist weniger miteinander denn Richtung Publikum. Wenn er von seinem Vater oder anderen Erlebnissen erzählt, bewegt sich seine Mimik kaum und sein Körper ist gespannt. Seine physische Starrheit steht im Kontrast zu seinen Ideen, dem reichen Wissen des Neunjährigen und seiner großen mathematischen Intelligenz. Die damit einhergehende Spannung bricht in einzelnen Gewaltphantasien durch, die deutlich machen, wie zerrissen Oskar durch den Verlust seines Vaters ist. Die Darstellungsweise der Inszenierung wirkt damit von Beginn an wie eine regelrechte Absage an den Realismus (und auch den Kitsch) des Blockbusters.

Nach der Bombardierung Dresdens

Gleichzeitig stärkt Drexel die zweite Handlungsebene – die Geschichte der Eltern von Oskars Dad, von seiner Großmutter (Doreen Nixdorf) und seinem Großvater (Thomas Wehling). Der hatte seine große Liebe Anna, die Schwester von Oskars Großmutter, während der Bombardierung Dresdens verloren. Daraufhin hat er das Sprechen eingestellt und begonnen, nur noch schriftlich mit seinen Mitmenschen zu kommunizieren, auch mit seiner späteren Ehefrau, Oskars Großmutter.

Geisterhafte Tänze

Anna (Anya Masson) aber ist nicht etwa Geschichte, sondern während der gesamten Inszenierung präsent. Sie tanzt zu meist harmonischen Klavierklängen, auch zu härteren Rockriffs (Musik: Johannes Winde) Figuren, die am klassischen Ausdruckstanz geschult sind. Wiederholt werden daraus artifizielle Versuche, sich an Wehlings Großvater anzuschmiegen, ja zu klammern. Sie ist die Erinnerung, die er nicht loswird. Aber nicht nur deswegen beeindrucken die intensiven Tanzszenen. Sie kommentieren auch die Lücke, die der Tod von Oskars Vater hinterlässt.

Extrem laut 05 Philipp Ottendoerfer u Zwischen den Blättern der Erinnerung: Tom Scherer und Alexander Stürmer © Philipp Ottendörfer

Anders als im Film, der von den Rückblicken auf das Verhältnis von Vater und Sohn entschieden getragen wird, ist der Vater in der Bielefelder Inszenierung allein akustisch durch die fünf Nachrichten aus dem Off anwesend, die er auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hat, nachdem das erste Flugzeug in den Turm geflogen ist und bevor dieser kollabiert.

Gerade indem Drexel zeigt, wie sehr das ganze Leben des Großvaters von der Erinnerung an den Verlust geprägt wird, kommt so eine Ahnung davon auf, wie sehr das ebenso für Oskars Leben gelten wird – auch wenn er schließlich eine Antwort auf die Frage findet, was es mit dem Schlüssel auf sich hat, den er in der Ankleide seines Vaters findet.

 

Extrem laut und unglaublich nah
nach Jonathan Safran Foer
Bühnenfassung von Katrin Enders nach der Übersetzung von Henning Ahrens
Regie: Cilli Drexel, Bühne und Video: Maren Greinke Kostüme: Janine Werthmann, Musik: Johannes Winde, Dramaturgie: Katrin Enders.
Mit: Brit Dehler, Stefan Imholz, Anya Masson, Doreen Nixdorf, Carmen Priego (für Christina Huckle), Tom Scherer, Alexander Stürmer, Thomas Wehling; Stimme von Oskars Dad: Georg Böhm.
Premiere am 12. Februar 2022
Dauer: 2 Stunde 30 Minuten, eine Pause

www.theater-bielefeld.de

Kritikenrundschau

Als "technisch beeindruckendes Popcorn-Schauspiel mit Anspruch" beschreibt Rainer Schmidt den Abend in der Neuen Westfälischen (14.02.2022). Cilli Drexels Inszenierung nehme den Kampf mit der "komplexen Erzählstruktur" von Jonathan Safran Foers Romanvorlage auf und bediene sich dabei "vieler technischer Kniffe, deren Wirksamkeit nicht immer schlüssig, aber geeignet ist, das Geschehen zu rhythmisieren und einem modernen Märchen anzunähern".

"Diese Inszenierung macht es den Zuschauern nicht leicht", eröffnet Burgit Hörttrich ihre Kritik im Westfalen-Blatt (14.02.2022) und fährt anerkennend fort: "Soll sie auch nicht" – schließlich gehe es um einen Jungen, der bei den Anschlägen vom 11. September seinen Vater verloren habe, verwoben mit der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg und einer Emigrationsgeschichte. Unter der Regie Cilli Drexels sah die Kritikerin eine "bemerkenswerte Ensembleleistung" von acht Spielenden in 15 Rollen. Die für Bühne und Video zuständige Maren Greinke verdiene ein "Extralob".

 

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