Erbarme dich

13. Februar 2022. Heiner Müllers "Quartett" über zwei miteinander und anderer Leute Verführung spielende Adlige wird oft inszeniert. In Tübingen gibt es nun aber ein besonderes Regiedebüt: Brigitte Maria Mayer, Müllers Witwe und von Haus aus Fotografin und Kamerafrau, inszeniert das Stück voller religiöser Anleihen.

Von Thomas Rothschild

"Quartett" von Heiner Müller am Landestheater Tübingen © Martin Sigmund LTT

13. Februar 2022. Ein großer Wurf für die kleine Spielfläche der Werkstatt im Tübinger Landestheater: Gustav Mayer hat sich einen (scheinbar) schweren Steinblock vor Lichtwänden mit wechselnden Farben ausgedacht, der an einen in der Mitte gekerbten überdimensionalen Amboss erinnert und mit seiner Symmetrie das Gegenüber und Gegeneinander zweier ebenbürtiger Antagonisten vorwegnimmt. Darüber hängt eine dürre Figur, die aussieht wie der Gekreuzigte ohne Kreuz. Blut fließt aus einer Herzwunde. Aus den Boxen ertönt Johann Sebastian Bachs "Erbarme dich" aus der Matthäuspassion und das Vaterunser. Die Figur lässt den Stein als Altar erscheinen. Eine Frau, eben noch bäuchlings betend, schlägt der Figur mit einem Stock die Beine ab.

Heiner Müller lokalisiert sein "Quartett" von 1980 in einem "Zeitraum: Salon vor der Französischen Revolution / Bunker nach dem dritten Weltkrieg". Er verleiht ihm gerade dadurch eine Zeitlosigkeit und zugleich eine dystopische Düsternis, die der Romanvorlage von Laclos fehlt. Schon die hat es in sich. Von den Weltkriegen freilich, geschweige denn einem dritten, der uns in diesen Tagen gar nicht so undenkbar scheint, weiß sie noch nichts. Dafür zielt sie, anders als Heiner Müllers Transformation, ausdrücklich auf die Aristokratie, die nach dem dritten Weltkrieg wohl eine geringe Rolle spielt.

Die Kunst der Verführung im Geschlechtertausch

Zynisch sind die Protagonisten von Choderlos de Laclos' "Les Liaisons dangereuses" (aber nicht der Roman selbst und seine an diesen Protagonisten geübte implizite Kritik) und von dem auf diesem Briefroman beruhenden kurzen Stück.

Heiner Müllers Bearbeitung hat sich einen festen Platz im Repertoire erobert. Mit der Selbstreflexion des Mediums – die Marquise de Merteuil wird, Theater auf dem Theater, zum Vicomte de Valmont, Valmont selbst zur Madame Tourvel – enthält "Quartett" ein grundlegendes Merkmal der Moderne, mit dem Geschlechtertausch befindet es sich, 40 Jahre nach der Uraufführung und 26 Jahre nach dem Tod des Autors, auf der Höhe der Zeit. Verhandelt wird die Kunst der Verführung. Und was wäre Theater anderes, als Kunst und Verführung?

Die Regie nimmt Müllers Anregung beim Wort

Weiter können Dialoge vom Schlag-auf-Schlag des von vielen bewunderten Netflix-Naturalismus kaum sein als die ellenlangen Wortwechsel Heiner Müllers. Für sie bedarf es einer Sprechtechnik, die im Ausverkauf des Theaters an die Fernsehästhetik und des Redestils an die Kunstlosigkeit auszusterben droht. Was Müller über Elfriede Jelinek gesagt hat, gilt heute mehr denn je auch für ihn selbst: "Was mich interessiert an den Texten von Elfriede Jelinek, ist der Widerstand, den sie leisten gegen das Theater, so wie es ist."

Quartett 2 Martin Sigmund LTT u Gefährliche Liebschaft: Susanne Weckerle und Stephan Weber © Martin Sigmund / LTT

Die Tübinger Akteure – Susanne Weckerle und Stephan Weber – beherrschen die erforderliche Sprechtechnik. Allerdings hält sie die Regie zu einem nahezu unveränderten langsamen Tempo an. Bewegung kommt in der Sprechmelodie nicht auf, trotz einem brenzligen Anklang von Klamauk in den Rollentausch-Szenen. Ob man an eine Litanei denken sollte? Der Gedanke scheint nicht abwegig. Bei Heiner Müller sagt Valmont an einer Stelle: "Lassen Sie mich Ihr Priester sein." Die Regie nimmt die Anregung beim Wort und baut die Szene als sexuellen Missbrauch durch einen Kirchenmann aus, der an Drastik nichts zu wünschen übrig lässt. Der Bezug zur Gegenwart ist offensichtlich.

Blasphemische Schnörkel

Renommierte Regisseur*innen von Robert Wilson bis Barbara Frey, vom Filmemacher Michael Haneke und dem dieser Tage verstorbenen Hans Neuenfels bis zum Autor selbst haben sich des "Quartetts" angenommen. Für Brigitte Maria Mayer ist es das Debüt als Theaterregisseurin. Von Haus aus sind Foto und Film ihr Metier. Aber sie hat eine Bindung besonderer Art an das Stück: Sie war Heiner Müllers letzte Ehefrau, und sie hat Müllers Theaterarbeit mit der Kamera begleitet.

Quartett 3 Martin Sigmund LTT u Wer verführt hier wen? Susanne Weckerle und Stephan Weber © Martin Sigmund / LTT

Ganz ohne Video geht es auch hier nicht, aber die Projektionen werden sparsam eingesetzt. Sie erfüllen eine assoziative Funktion, drängen sich aber nicht auf. Das gilt auch für die Musik – die Klavierbegleitung zu Schuberts "Erlkönig", einem, wie wir wissen, begnadeten Verführer, und andeutungsweise "Isoldes Liebestod".

Das Publikum war erkennbar angetan von Stück und Aufführung mit einem unerwarteten fragmentarischen Anhang, betitelt "Tod einer Hure". Und was die blasphemischen Schnörkel angeht, die anderswo Ärger bewirken könnten: Tübingen ist schließlich die Stadt von Ernst Bloch, Jürgen Moltmann und Hans Küng. Ein bisschen Aufklärung darf man hier schon voraussetzen.

 

Quartett
von Heiner Müller
Regie: Brigitte Maria Mayer, Bühnenplastik: Gustav Mayer, Kostüme: Christopher Paepke, Video: Kivik Kuvik, Dramaturgie: Adrian Herrmann.
Mit: Stephan Weber, Susanne Weckerle.
Premiere am 12. Februar 2022
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.landestheater-tuebingen.de

Kritikenrundschau

Der Text erscheine in seiner ganzen Morbidität frischer und aktueller denn je, wie das späte Regie-Debüt der Müller-Witwe am LTT aufzeige, schreibt Wilhelm Triebold in der Südwest-Presse (14.02.2022). "Es mag in dieser allerersten Theaterinszenierung, die sich Brigitte Maria Mayer zutraut, manches noch nicht stimmig sein an Rhythmus, Tempo, Schauspielerführung. Doch die Richtung stimmt. Müllers ganz und gar nicht musealen Merksätze sind wie geronnener Büchner. Und gehören auf die Bühne."

Brigitte Maria Mayer habe Müllers "Quartett" mit religiöser Symbolik aufgeladen, schreibt Thomas Morawitzky in der Deutschen Bühne (online 13.02.2022). In der "süffisanten Lässigkeit, mit der Stephan Weber als Valmont seine böse Gier überspielt", mag man Jeffrey Epstein wiedererkennen, gibt der Kritiker zu bedenken: Über Bezüge zum Skandal um Epstein habe Mayer In einem Interview mit dem Dramaturgen Adrian Herrmann gesprochen. Susanne Weckerle gebe der Marquise de Merteuil indes "eine harte, fordernde Leidenschaft, die selbst erlittene Verletzungen ahnen lässt". Die Darstellenden brillierten "ausdrucksstark, facettenreich in dieser Inszenierung".

Was Brigitte Maria Mayer "an Interpretation und Aussagekraft in ihre Inszenierung" lege, sei den Theaterbesuch definitiv wert, meint Christoph Holbein im Schwarzwälder Boten (16.02.2022). "Mit wirkgewaltigen und manchmal brutalen Bildern, die immer wieder aufwühlen, verstören und erschrecken", mache die Regisseurin "die Zerstörung und moralische Vernichtung, die Autor Heiner Müller mit seiner bestialischen Rhetorik bis in die Finessen des Satzbaus zelebriert, plakativ deutlich", urteilt der Kritiker. Die Schauspieler:innen Susanne Weckerle und Stephan Weber agierten "sprachlich, körperlich, gestisch und mimisch ausgereift" und übersetzten "den Zynismus und die Boshaftigkeit in greifbare, treffend gesetzte, manchmal sogar komödiantische Szenen."

 

 

 

Kommentare  
Quartett, Tübingen: Kompliment
Eine sehr gut geschriebene und kenntnisreiche Kritik. Das macht Freude!
Und ich frage mich: Wie komme ich preiswert und zügig nach Tübingen?
Freundliche Grüße
Peter Ibrik
Berlin-Pankow
Quartett, Tübingen: Hobby
@ Ibrik: Was an dieser Kritik ist "sehr gut" geschrieben?? Nur ein winziger Teil widmet sich wirklich der Inszenierung. Der Rest ist Hobby.
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