Am Ende kein Licht

23. Februar 2022. Eine Frau stirbt überraschend und versucht aus dem Jenseits heraus, ihre dysfunktionale Familie zusammenzuhalten – das ist der Plot in Simon Stephens neuem Stück "Am Ende Licht". Kürzlich erlebte es in Stuttgart seine deutsche Erstaufführung. In Freiburg treibt es Intendant Peter Carp ins Düstere.

Von Reingart Sauppe

"Am Ende Licht" am Theater Freiburg © Britt Schilling

23. Februar 2022. Als Christine an einem Februarnachmittag im Supermarkt an einer Hirnblutung stirbt, bekommt das keiner mit. "Niemand sieht mich", "keiner bemerkt mich" stellt die soeben aus dem Leben Gerissene ruhig und nüchtern fest und beschreibt damit nicht nur ihren Tod, sondern auch ihr Leben davor. Wer sonst also sollte die Geschichte ihres plötzlichen Ablebens erzählen? Im leuchtendblauen Mantel steht die verlassene Ehefrau und Mutter dreier erwachsener Kinder auf der tiefschwarzen Bühne und gibt in einem konzentrierten Monolog ihren letzten Tag minutiös zu Protokoll: Wie sie den Supermarkt aufsucht, um nach neun Monaten Abstinenz eine Flasche Wodka zu kaufen und im Gang zwischen den Regalen das Bewusstsein verliert.

Streng realistisch

Noch über den endgültigen Kontrollverlust im Sterben hinaus ist diese traurige Untote mit jeder Faser ihres Körpers um Kontrolle bemüht. Sie sieht sich von außen zu, bilanziert nüchtern und distanziert ihr Scheitern als alkoholkranke Mutter und erträgt trotzdem den Gedanken nicht, ihre Familie allein zu lassen. Anja Schweitzers kühler und dennoch ergreifender Mutter-Monolog zeigt eine zutiefst Einsame, die sich ihre Gefühle unter größter Anstrengung abtrainiert hat: ein packender Einstieg in Simon Stephens sozialkritisches Familiendrama, das von den gesellschaftlichen und privaten Rissen einer prekären nordenglischen Mittelschichtsfamilie handelt.

AmEndeLichtb 805c BrittSchilling uEine Familie voller Konfliktlinien: Raban Bieling, Thieß Brammer, Angela Falkenhan, Michael Witte, Laura Palacios © Britt Schilling

Die Inszenierung des Freiburger Intendanten und Regisseurs Peter Carp wirkt dabei über weite Strecken so düster und trostlos, dass selbst "am Ende" kaum Licht auf diese dysfunktionale Familie fällt. Der lakonisch-britische Humor des Erfolgsautors Simon Stephens bleibt in dieser streng realistischen Inszenierung von "Am Ende Licht" auf der Strecke. Dabei hat das Stück durchaus humorvolle Qualitäten: Etwa, dass Mutter Christine ihrer Familie hinterhertelefoniert, um diese höchstpersönlich von ihrem Tod zu informieren oder dass sie als Geist im Leben ihrer Lieben auftaucht, um ihnen letzte Ratschläge mit auf den Weg zu geben. Doch Peter Carp gönnt dem Zuschauer zwischen kalten, abweisenden Wänden keine Entlastungspause vom Leid und Elend der am und im Leben verzweifelnd Scheiternden.

Dramen des Lebens

Die kurzen, teilweise gleichzeitig spielenden Szenen kreisen um die Ängste vor Nähe und Verlassenwerden und um die existentiellen Krisen von Ehemann Bernard und den drei erwachsenen Kindern Jess, Steven und Ashe. Während der One-Night-Stand-Partner von Tochter Jess am Morgen danach vom Selbstmord seiner Mutter erzählt, erklärt Sohn Steven gerade seinem Freund, dass er noch einen Tiramisu zum Nachtisch essen möchte. Dramen des Lebens gehen im banalen Alltagsgeschehen unter, eine Grundstimmung von niederschmettender Bedeutungs- und Beziehungslosigkeit zieht sich durch die erste Hälfte des Abends.

Vater Bernard geht fremd und hat dabei trotzdem keinen Spaß. Tochter Jess hält nur mühsam die Balance zwischen Kontrolle und Absturz. Sohn Steven wird von Versagensängsten geplagt und Tochter Ashe, suizidgefährdet, ist von ihrer Rolle als alleinerziehender Mutter überfordert. Fast schon klischeehaft wirken die Probleme dieser absturzgefährdeten Mittelschichtsfamilie. Warum Mutter Christine zwischendurch unvermittelt in kleinen Nebenrollen auftaucht, ohne von der Familie erkannt zu werden, erschließt sich nicht.

"Bist du tot?" – "Ich glaube schon"

Allein der psychologisch stimmigen vielschichtigen Figurenführung und dem engagierten Schauspielensemble, aus dem Gioia Osthoff als brüchig-bipolare Ashe herausragt, gelingt es, dass der erste Teil des Abends nicht im Sozialdramakitsch endet. "Ich brauche keine Worte, ich brauche 20 Pfund" schleudert Ashe ihrem Junkie-Freund Joe entgegen, als der beteuert, nach einer Entziehungskur clean zu sein und sich um die junge Familie kümmern zu wollen. Beide wirken in ihrem Kampf ums Überleben so authentisch und überzeugend, dass der unversöhnliche Streit etwas Tragisches bekommt.

AmEndeLichtb 805 BrittSchilling uJanna Horstmann, Martin Hohner vor Familienfotos © Britt Schilling

Glücklicherweise erlöst uns der zweite Teil des Abends dann doch noch aus der steten Wiederholung dieses Konglomerats aus Verzweiflung und Beziehungslosigkeit. Mutter Christine taucht bei ihrer Tochter Ash auf und nach einem kurzen Moment der Irritation - "Bist du tot?", fragt ernsthaft die Tochter, "Ich glaube schon", erwidert die Mutter - kommt es zu einer berührenden Aussprache zwischen den beiden. Unausgesprochenes wird endlich auf den Tisch gepackt, der Tod bringt Mutter und Tochter glaubwürdig einander nahe. Ash bricht zunächst im Schmerz zusammen, doch dann reflektiert sie die Gründe für ihren Suizidversuch. Die mütterliche Empathie bewirkt schließlich, dass sie sich ihrer eigenen Rolle als Mutter eines kleinen Sohnes wieder annähert.

Von einer echten Wandlung kann keine Rede sein

Auch bei den anderen Familienmitgliedern spült Christines Ableben verdrängten Schmerz nach oben, die Familie kommt immerhin zusammen anlässlich ihrer Beerdigung. Doch von einer echten Wandlung kann wohl kaum die Rede sein. Jess hängt ein paar alte Familienfotos auf und dann wird nicht nur die Mutter, sondern auch die Trauer wieder schnell in geschäftiger Betriebsamkeit begraben.

Am Ende tritt Ash das traurige Erbe ihrer Mutter an. Im gleichen blauen Mantel tritt sie ins Scheinwerferlicht, will eine Trauerrede halten. Da geht schon das Licht aus. Am Ende Licht? Wohl kaum.

Am Ende Licht
von Simon Stephens
Deutsch von Barbara Christ
Regie: Peter Carp, Bühne: Kaspar Zwimpfer, Kostüme: Gabriele Rupprecht, Musik und Sounddesign: Malte Preuss, Dramaturgie: Laura Ellersdorfer.
Mit: Anja Schweitzer, Michael Witte, Janna Horstmann, Gioia Osthoff, Raban Bieling, Martin Hohner, Thieß Brammer, Angela Falkenhan, Laura Angelina Palacios, Tim Al-Windawe.
Premiere am 22. Februar 2022
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

theater.freiburg.de


Kritikenrundschau

Der Fokus des Abends liege auf dem passgenauen Wort, dem präzisen Spiel und dem korrekten Timing, schreibt Heidi Ossenberg in der Badischen Zeitung (24.2.2022). Der Anfang gehöre Anja Schweitzer in der Rolle der Alkoholikerin Christine, die in dem Moment an einer Hirnblutung stirbt, als sie in einem Supermarktregal nach einer Wodkaflasche greift. "Dem Statischen des fein komponierten Stücks setzt Carp wenig Bewegung oder gestaltende Effekte entgegen", die zehn Schauspielerinnen und Schauspieler stehen, sitzen oder schreiten zumeist.

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