Subjekte des Mangels

26. Februar 2022. "Wanja in der Gaußstraße" nennt Hakan Savaş Mican seine Neufassung des Tschechow-Dramas über den unglücklich liebenden Gutsverwalter Wanja und alle anderen Unglücksmenschen um ihn her. Und er spielt sie ebenda in der Gaußstraße des Hamburger Thalia Theaters mit etwas Meta-Ebene, viel Gefühl und Musik von Daniel Kahn.

Von Katrin Ullmann

Die Tschechow-Aktualisierung "Wanja in der Gaußstraße" in der Regie von Hakan Savaş Mican in Hamburg © Krafft Angerer

26. Februar 2022. Vor 27 Jahren habe sie die Jelena gespielt. Jene "27 Jahre alte" Frau des "Professors im Ruhestand". Jetzt spielt sie die Mutter. Das Kleid besitze sie noch, ruft Sandra Flubacher ihrer Kollegin Anna Blomeier lachend zu (die an diesem Abend Jelena gibt). Und ungefähr auf halber Strecke des Abends zieht Flubacher das Kleid über.

Hinten in der Garderobe, in der während der Inszenierung immer wieder munter gefilmt wird (Live-Video: Ruben Christiansen, Julian Hübner), zieht sie es an und geht darin auf die Bühne. Flubacher tut es so stolz und ruhig und so nebenbei, das man sie dabei kaum bemerkt. Und vielleicht ist das Kleid ja auch gar nicht das Originalkostüm von damals – aus der Jürgen-Flimm-Inszenierung von 1995. Aber als Zitat funktioniert es allemal. Als Spiel im Spiel. Als leiser, kluger Verweis auf Zeiten, die sich ändern, auf Menschen, die älter werden und auf Stücke, die bleiben. Eines davon ist Anton Tschechows "Onkel Wanja".

Zwischen Thermoskannen und Wodka

Hakan Savaş Mican hat es – warum auch immer – in "Wanja in der Gaußstraße" umbenannt und in eben jener kleinen Spielstätte des Thalia Theaters auf die ebenfalls von ihm konzipierte Bühne gebracht. Diese ist weitgehend leer. Ein bisschen unmotiviert stehen darauf ein paar Stellwände, Stühle und ein Tisch mit Thermoskannen voller Tee und Flaschen voller Wodka, ein sinnfreies flaches Quermöbel zum Herumschieben sowie ein Klavier für den Pianisten Daniel Kahn, der auch Gitarre spielt und singt und außerdem den verarmten Dauergast Telegin gibt. Kahn sorgt in den richtigen Momenten für die richtige, richtig traurig schöne Atmosphäre, gegen die man sich nicht wehren kann.

wanja gaussstrasse 4 800 c krafft angerer uEinsame Menschen vor Kameralinsen: Das Thalia-Ensemble spielt auf einer von Hakan Savaş Mican selbst entworfenen Bühne © Krafft Angerer

Und so ist man – sobald die Darsteller*innen, sich von den Garderobengängen und Snackautomaten auf die Bühne gequatscht haben – bald mittendrin in einer Inszenierung, die anfangs noch ein paar Meta-Ebenen und viel Performatives behauptete, dann aber klassisch-psychologisch Tschechow erzählt. Gegen dessen Unglücksmenschen man sich ebenfalls nicht wehren kann. In Micans Inszenierung glaubt man ihnen zwar weder die Langeweile noch die Gicht, weder den Selbstekel, das Ersticken (und schon gar nicht das Alter). Doch die durch das Stück schwelende herzzerreißende Verzweiflung nicht erwiderter Liebe brennt sich selbst durch diese seltsam harm- und richtungslose Inszenierung.

Objekte der Begierde

Da fiebert Meryem Öz als Sonja ihre Liebe zu dem Arzt Astrow (wunderbar verschroben: Felix Knopp) ganz still und doch mitten durch das Salzgurkengeknabber hindurch, da robbt sich ebenjener Arzt schlüpfrig schmunzelnd und mit unterirdischen Raubtiervergleichen an die unschlüssige Jelena (Anna Blomeier) heran. Dies entdeckend zerreißt es wiederum Wanja (Stefan Stern) wie in Zeitlupe das Herz.

Dann wird (wieder) traurig schön gesungen, wird ein blassgrüner Herrenpullover zum Objekt der Begierde, wird Wodka getrunken, "alles ist Hongkong" gelallt, wird in die Luft geschossen und kurz mit Lacans "Subjekt des Mangels" hantiert.

Weitgehend störungsfrei

Sieht man von den eher bemühten Monologen, bei denen die jeweiligen Spieler*innen stets gefilmt und überdimensional auf die Rückwand projiziert werden und sich Text und Inhalt dann statt in die Tiefe in die Fläche ausbreiten, einmal ab, funktioniert der Abend. Er funktioniert weitgehend störungsfrei, gerät manchmal illustrativ, ist oft nahbar, komisch und rührend und ist aber auch ein Abend ohne sichtbaren Fokus oder neuen Erkenntnisgewinn. Er lässt sich einfach so weg knuspern, dieser "Wanja aus der Gaußstraße". Wie eine Tüte mild gewürzter Chips. Ganz ohne Sodbrennen.

 

Wanja in der Gaußstraße
nach Anton Tschechow,
Deutsch von Angela Schanelec, nach einer Übersetzung von Arina Nestleva
Regie und Bühne: Hakan Savaş Mican, Kostüme: Miriam Marto, Mitarbeit Bühne: Marion Schindler, Dramaturgie: Susanne Meister, Musik: Daniel Kahn, Video: Mikko Gaestel, Live-Video: Ruben Christiansen, Julian Hübner.
Mit: Oliver Mallison, Anna Blomeier, Meryem Öz, Sandra Flubacher, Stefan Stern, Felix Knopp, Daniel Kahn.
Premiere am 25. Februar 2022
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (27.2.2022) sieht den Abend vor der Folie des Ukraine-Kriegs. "Obwohl die Inszenierung von Hakan Savaş Mican sich ansonsten sehr darum bemüht, ein typisch tschechowscher Verzweiflungsabend zu sein, (…) lassen sich durch die Putinlinse viele Verhaltensweisen wiederfinden, die russische Gewaltpolitik vielleicht interpretieren helfen.“ In Tschechows feinem Gesellschaftsbild lasse sich in beinahe jeder Figur eine Referenz erahnen, die etwas über Resignation und latente Gewalt erzähle. "All das muss man nicht krass aktualisieren, um generell gültige Strukturen von Egoismus, Selbstbetrug und Wutlösungen zu erkennen, die auch in Putins Politik wirken."

"Der Abend beginnt als leicht gesponnenes und witziges Ensemble-Stück, ist atmosphärisch dicht, endet aber schwerfüßig“, so Peter Helling vom NDR (26.2.2022). "Dass alle Figuren einsam sind, haben wir hier schnell begriffen. Die gefilmten Nahaufnahmen der Gesichter auf der Rückwand suggerieren eine ständige Innenschau. Trotzdem entsteht keine wirkliche zweite Ebene: Der Abend verliert an Witz, an Tempo, wird zum etwas larmoyanten Psychodrama. Schade.“ Immerhin: Meryem Öz sei "einfach fantastisch".

Kommentar schreiben