Du bist der Doppelgänger!

27. Februar 2022. "Die Realität soll mich in Ruhe lassen": Die Digitaltheater-Experten Roman Senkl und Nils Corte haben am Staatstheater Nürnberg eine gigantische Webserie entworfen, die die Spur eines ominösen Game-Designers bis in C64-Zeiten zurückverfolgt. Nun fand das Großprojekt zu seinem Finale.

Von Andreas Thamm

"PAN'S LAB" © Staatstheater Nürnberg

27. Februar 2022. Und dann ist auf einmal Anna da. Das verstehen zumindest Gäste des Nürnberger Staatstheaters, die Anna Klimovitskaya von der Bühne kennen. Die zusehenden Gäste von anderswo werden über den Chat darüber aufgeklärt, was sie wohl ohnehin schon vermuteten, zumindest wenn sie denn schon länger dabei sind, bei dieser Theater-Streaming-Serie "PAN'S LAB": Die lange verschollene Hauptdarstellerin eröffnet mit Regisseur Roman Senkl den letzten Stream, das Staffelfinale, die digitale Premiere.
Das Fernbleiben von Anna vom Theater und dem Projekt "PAN'S LAB", ihre Nicht-Erreichbarkeit ist in den zurückliegenden Streams immer wieder problematisiert worden. Das heißt: Die da sitzende Anna auf dem Sofa ist für diejenigen, die dieses Sofa so häufig gesehen haben, aber nie Anna, eine Wendung in diesem Erzählstrang. Sie sehen bereits jetzt, ab Minute eins, ein anderes Stück als diejenigen, die nur für die Premiere den Twitch-Link geklickt haben. Das ganze Setup erhält recht bald einen zusätzlichen Haken als klar wird, diese beiden, Anna und Roman stellen sich vor, sich und das Projekt, sie heißen das Publikums des ersten Streams von minus.eins aus dem Staatstheater Nürnberg willkommen. Hier stimmt doch irgendwas nicht! 

"Die Realität soll mich in Ruhe lassen."
Das Theaterkollektiv minus.eins setzt sich schon seit Längerem mit den Möglichkeiten der Digitalen Dramaturgie und den neuen Formen eines Theaters im Internet auseinander, das das Medium auch ernst nimmt und nicht bloß als Vehikel einsetzt. "PAN'S LAB" ist zunächst die Geschichte einer Stückentwicklung. Das junge, innovative Kollektiv ist zehnköpfig zu Gast im Staatstheater, um sich mit maximaler Konsequenz der Kunst und der Erforschung ihres Sujets zu widmen. Dazu gehört, sich einzusperren, eine Theater-WG zu bilden und aus dem Theater, von der Probebühne, aus der Kantine, via Twitch mit dem Publikum in Kontakt zu treten, fast täglich. Der Gegenstand dieser Forschung soll Paul Anton Neurath sein – aha, aha, P.A.N. – ein Theatermacher und Gamedesigner, der seiner Zeit maximal voraus war und schon in den 60er-Jahren ein zweites virtuelles Leben imaginierte, in das er sich habe flüchten wollen: "Die Realität soll mich in Ruhe lassen." Auch am Nürnberger Theater habe diese, letztlich leider fiktive Figur gewirkt, und deshalb muss diese Arbeit hier stattfinden – hier und eben in dieser anderen, aber vielleicht, ginge es nach Neurath, eigentlichen Realität.

Lost in C64
50 Tage lang hat die WG nach draußen gestreamt, die einzelnen Streams sind teilweise fast zwei Stunden lang, jetzt konserviert auf der Plattform. Man kann da einen Fuß hineinhalten wie in einen erzählenden Strom, durch die Wochenrückblicke und die Highlights skippen und bekommt schon einen ganzen guten Eindruck. Da taucht am Anfang ein antiker Computer auf, C64, Dramaturg Fabian Schmidtlein zieht ihn aus einer Kiste und der technische Leiter Nils Corte rekonstruiert darauf ein altes 2D-Game, eine rätselhafte Neurath-Hinterlassenschaft: "Es sieht so aus, als würden teilweise Code-Stücke fehlen."
Danach gerät die Gruppe aber schnell an gefühlte Sackgassen. Dieser Neurath lasse sich nicht greifen, klagen Roman und Fabian, die Hauptverantwortlichen für das Stück, das vom Staatstheater ja erwartet wird. Auch die Institution an sich tritt auf, wobei Jan-Philipp Gloger quasi sich selbst spielt, den Schauspiel-Intendanten Sven-Ulrich Bettinger, der von leisen Befürchtungen getrieben, das Gespräch mit seinen Gästen sucht, das natürlich heimlich mitgefilmt wird: "Ganz genau verstanden habe ich es noch nicht, aber das ist ja nicht schlimm. Wir sind ja auch ein Ermöglichungsort!" Er würde halt gerne mal einen Durchlauf sehen.

PansLab1 ScreenshotStaatstheaterNürnberg uWer kennt diese Leute? © Staatstheater Nürnberg (Screenshot)

Und fast unmerklich flicht minus.eins schon in die frühesten Videos die Zeichnung der eigenen Figuren, die entscheidend wird, für die nur scheinbar organisch wachsende Narration. Am deutlichsten wird das an Schauspieler Aydin Aydin, den die Auseinandersetzung mit dem philosophierenden Game-Designer zu eigenen Reflektionen über Wahrheit und Lüge veranlasst: "Leute, seid vorsichtig, kauft nicht alles für bare Münze … Münze, auch die nächste Lüge, Geld." Ist das noch der Schauspieler am Rande einer besonderen, experimentellen Arbeitssituation oder bereits die Rolle, die er in diesem Experiment verkörpern soll? Seine Kollegin Irina Kurbanova landet derweil selbst in dem C64-Neurath-Game, wo sie nach ihrer Großmutter sucht, die seltsamerweise im selben Ort geboren ist wie Anna Klimovitskaya, die Hauptdarstellerin, auf die ja eigentlich alle warten.

Wer ist hier der Troll?
Im Laufe dieser fünf Wochen Streaming, Labern, Spielen driftet Aydin, genannt Denno, immer mehr von der Gruppe ab, nicht nur, aber auch weil es auf einmal einen Doppelgänger von ihm zu geben scheint, der die eherne Regel der Gruppe bricht und das Theatergebäude verlässt! Das Projekt scheint auf der Kippe zu stehen, was ja qua Versuchsanordnung auch zum Prozess gehört, aber natürlich auch damit zusammenhängen könnte, dass man sich hier auf ein verbotenes Terrain vorgewagt hat, wie der dienstälteste Schauspieler am Nürnberger Theater, Michael Hochstrasser, der Gruppe gegenüber andeutet: "Es verschwinden Leute!"
Das Gegenteil scheint im Endeffekt richtig zu sein an diesem Premierenabend, den es ja schließlich auch noch gibt. Denn auch Roman existiert auf einmal doppelt und er funkt sich selbst dazwischen: "Dieser Stream gerade eben, das waren nicht wir! Du bist nicht Roman, du bist ein Troll!" Den Zuschauenden, auch dem Stammpublikum im Chat, wird recht schnell klar, dass es sich um eine Art Zeitschleife handeln muss, bzw. vielmehr: eine alternative Realität, die durch die Beschäftigung mit Neurath und dessen Theorie vom Mind Upload aufgerufen wurde.

Das Ringen um den Stream
Auf diesem Konflikt der Ebenen basiert das Staffelfinale von "PAN'S LAB" vordringlich. Die einen wollen ihre Arbeit in der Theater-WG aufnehmen, die anderen kommen nun nicht mehr hinein und an ihren Arbeitsplatz. Irina glaubt zunächst, ersetzt worden zu sein, aus dem Stück gekickt, sie irrt ums Theatergebäude, scheitert an einer Pförtnerin, will durch ein Fenster einsteigen. Aydin befindet sich derweil auf dem Dach, wo er sich von Hubschrauber verfolgt wähnt. Und der Chat recherchiert mit, dass es diese Anna, die immer noch immer wieder dazwischenfunkt, doch eigentlich gar nicht gebe, bzw. dass sie zumindest nicht auf derselben Schule gewesen sei wie Aydin.
Im Ringen um den Stream und die wahre Wahrheit kann man allerhand philosophische Fragestellungen anreißen. Es geht um Kunst und Künstlichkeit, um die Suche nach Wahrhaftigkeit in der Simulation, die Freiheit im Spiel. Ohne zumindest ein bisschen Vorwissen wirkt das wahrscheinlich teilweise recht provisorisch zusammengeschustert und seit der Matrix nicht mehr rasend originell. Die Premiere kann und will letztlich auch gar nicht alle narrativen Enden schließen. Das wirklich geniale Moment erreicht "PAN'S LAB" aber immer wieder dann, wenn noch eine Ebene auf geht, sich noch eine Tür zum Metameta öffnet und der Kaninchenbau noch eine weitere Höhle offenbart. Auch formal ist minus.eins mit dieser, sagen wir es halt, wie es ist, Serie ein maximal radikales Stück Digitaltheater gelungen. Das Medium ist nicht bloßer Transportweg von Dramatik, wie man sie so kennt, das Netz und seine eigene Ästhetik prägt das Genre.
Die ausgedachte und vielleicht deshalb gerade erst reale Figur Paul Anton Neurath, das Zentrum der Stückentwicklung, ist am Ende nicht der inhaltlich-biografische Kern des entwickelten Stücks. Aber er taucht auf, in der Welt, die er erschaffen hat und die Irina betreten kann. Neurath ist eine göttliche Off-Stimme, die sein gegenüber ermutigen will, ein besseres Spiel der Wirklichkeit zu erspielen. "Vielleicht", sagt er Irina, "habe ich mir dich und den Mind-Upload nur ausgedacht." Wer kann es wissen?

PAN'S LAB
von minus.eins
Konzept, Regie: Roman Senkl
Creative Coding, Technische Leitung: Nils Corte
Bühne und Kostüme: Silvija Oštir, Dramaturgie: Fabian Schmidtlein, Produktionsleitung: Greta Călinescu, 3D Design: Nils Gallist, Coding: Armin Luschin, Musik: Nils Corte, Regieassistenz: Karim Gamil, Hospitanz: Annelie Emmert.
Mit: Aydin Aydin, Irina Kurbanova.
Online nachzuschauen unter www.twitch.tv/pans_lab_theaterlive

staatstheater-nuernberg.de

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