Vier Herzen im gleichen Beat

27. Februar 2022. Fast fünf Stunden Liebe, Freundschaft und Krieg: Regisseurin Jette Steckel bringt Nino Haratischwilis neue Georgien-Saga auf die Bühne – nur einen Tag, nachdem der 830 Seiten starke Roman erschienen ist. Es brilliert ein spielstarkes Ensemble mitsamt einer Fritzi Haberlandt, die als Gast zurück am Thalia Theater ist.

Von Anke Dürr

"Das mangelnde Licht" am Thalia Theater Hamburg © Armin Smailovic

27. Februar 2022. Es ist die Geschichte einer wunderbaren Freundschaft: Vier Mädchen wachsen in den 1980er-Jahren zusammen in Georgiens Hauptstadt Tiflis auf. Symbolträchtig stürzen sie sich gleich zu Beginn gemeinsam, Hand in Hand, eine Klippe hinunter, hinein in eine ungewisse Zukunft.

Das Recht des Stärkeren

25 Jahre später treffen sich drei von ihnen wieder, bei einer Ausstellung mit Fotos aus jener Zeit. Sie stammen von Dina, die Fotografin geworden ist. Doch ausgerechnet Dina, die furchtloseste der vier, ist nicht mehr unter ihnen, und auch die anderen sind mehr oder weniger seelisch beschädigt. Wie es dazu gekommen ist, davon handelt "Das mangelnde Licht", der neue 830-Seiten-Roman von Nino Haratischwili, dessen Bühnenfassung die Regisseurin Jette Steckel jetzt nur einen Tag nach Erscheinen des Buchs im Hamburger Thalia Theater herausgebracht hat.

Haratischwili, selbst in Georgien geboren, erzählt darin vom Erwachsenwerden der vier Mädchen und vom Schicksal ihrer Familien vor dem Hintergrund der politischen Umbrüche in Georgien, einem Land, das sich 1991 von der zerfallenden Sowjetunion lossagte. Die Gewalt, die den instabilen neuen Staat prägt, greift auch ins Private über, und sie geht, das ist die Grundthese der Erzählung, vor allem von Männern aus. Sie sehen Frauen häufig als ihren Besitz an; auf der Straße gilt das Recht des Stärkeren.

MangelndesLicht2 805 Armin Smailovic uWer wen lieben darf, bestimmen die anderen: Rosa Thormeyer (links) und Fritzi Haberlandt © Armin Smailovic

Am schlimmsten trifft es Nene (Rosa Thormeyer) – ihr Onkel ist ein mächtiger Clanchef, und wen sie lieben darf, bestimmt er gemäß seinen Interessen, fast wie in Horváths Wiener Wald. Dina (Maja Schöne) beschließt immerhin selbst, ihren Körper anzubieten, als sie Geld braucht, um ihren Freund Rati aus dem Gefängnis freizukaufen – über die Frage, ob das moralisch in Ordnung ist, gerät sie in einen schlimmen Streit mit ihrer Freundin Qeto (Lisa Hagmeister), Ratis Schwester. Und dann ist da noch Ira (Fritzi Haberlandt, als Gast zurück am Thalia Theater!), die unglücklich in Nene verliebt ist und alle Gefühle hinter ihrer Klugheit und strengen Rationalität verbarrikadiert.

Dramatisch und vertraut

Es gibt, man merkt es schon an dem bis hierhin Berichteten, eine Menge zu erzählen an diesem mehr als viereinhalb Stunden langen Abend – und das ganze Team, das diese ausufernde Geschichte voller dramatischer Begebenheiten auf die Bühne gestemmt hat, von der Requisiteurin bis zu den Protagonistinnen, ist dafür zu bewundern, mit welcher Präzision und unermüdlichen Energie sie Szene um Szene streng chronologisch abarbeiten. Jette Steckel kennt die Autorin schon seit Studientagen und hat unter anderem 2017 ihren Welterfolg "Das achte Leben (Für Brilka)" souverän auf die Bühne gebracht. Diese Vertrautheit sieht man der Inszenierung an.

Doch ein wenig mehr Brutalität gegenüber der literarischen Vorlage hätte dem Abend vermutlich gutgetan. Florian Lösche hat für "Das mangelnde Licht" wieder eine seiner klug durchdachten Konstruktionen auf die Drehbühne gestellt; variable Wände, die sich in Sekundenschnelle zu immer neuen Zimmern, Hallen und Gassen zusammenschieben und -drehen lassen. Sie sind tapeziert mit riesigen abstrakten Pixelbildern – was auf die Fotos aus der Ausstellung verweist und zudem den Bildern, die obendrauf projiziert werden, eine Unschärfe wie in der Erinnerung gibt. Hübsch bunt ist es außerdem.

MangelndesLicht1 805 Armin Smailovic uUnschärfe der Erinnerung © Armin Smailovic

Auf dieser Bühne, die fast ständig in Bewegung ist, rauscht das Ensemble durch die wichtigsten Szenen des Romans wie im Schnelldurchlauf: vom Wohnzimmer der Familie Quetos ins Jugendzimmer ihres Freundes Lewan in die orthodoxe Kirche in die Straßen von Tiflis und zurück ins Wohnzimmer. Zu fast jeder Szene wird die passende Athmo eingespielt (Hundegebell, Stimmengewirr, Grillengezirpe) oder eine Musik, die die Grundstimmung vorgibt. Und wenn Qeto erzählt, wie ihr Herz schlägt, setzt ein dumpfer Beat ein. Als hätten die Worte und das Spiel Wirkverstärker nötig – weil die Regisseurin ihnen keine Zeit lässt, für sich zu wirken.

Langweilig wird es auf diese Art nie. Das Ensemble, zehn Schauspielerinnen und Schauspieler in doppelt so vielen Rollen, schmeißt sich aufgekratzt und mit viel Verve in den Abend; die Figuren, insbesondere die männlichen, geraten dabei allerdings bisweilen arg schablonenhaft. Ole Lagerpusch spielt als Rati viel verzweifelte Wut, Sebastian Zimmler beherrscht die Posen der diversen Machos und Macker, die er verkörpert, perfekt. Die Clanangehörigen haben schlechte Tischmanieren, und Karin Neuhäuser spricht da plötzlich mit Akzent.

Aus dem Erzähl-Korsett heraus

Die interessanteste Rolle hat Maja Schöne als Fotografin Dina, die versucht, dieser Männerwelt auf Augenhöhe zu begegnen – und an ihrer eigenen Vehemenz zerbricht. Die Konflikte der Figuren bleiben erstaunlich privat, ihre Verbindung zum politischen Geschehen, das immer wieder referiert und in Dokumentaraufnahmen von damals an die Wände projiziert wird, bleibt weitgehend Behauptung. Erst nach der Pause befreit sich Jette Steckel ab und zu aus dem Korsett des chronologischen Erzählens und stellt szenisch Verbindungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart her. Die direkte Verbindung zum Krieg in der Ukraine, der sich angesichts der eingeblendeten historischen Aufnahmen aufdrängt, vermeidet die Regisseurin klugerweise. Erst beim großen Schlussapplaus entrollt das Ensemble ein Friedensbanner.

 

Das mangelnde Licht
Nach dem Roman von Nino Haratischwili, Bühnenfassung von Emilia Heinrich und Jette Steckel
Regie: Jette Steckel, Bühne: Florian Lösche, Kostüme: Sibylle Wallum, Dramaturgie: Emilia Heinrich, Video: Zaza Rusadze, Musik: Mark Badur, Choreographische Arrangements: Yohna Stegli, Konstantin Tselikov. Licht: Paulus Vogt.
Mit: Lisa Hagmeister, Maja Schöne, Rosa Thormeyer, Fritzi Haberlandt, Karin Neuhäuser, Barbara Nüsse, Ole Lagerpusch, Julian Greis, Jirka Zett, Sebastian Zimmler
Premiere am 26. Februar 2022
Dauer: 4 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.thalia-theater.de  

 

Kritikenrundschau

"Da gibt es viele wunderbare Szenen: rührende, zarte, erschütternde, brutale. 830 Romanseiten in vier Theaterstunden – da muss vieles wegfallen, aber Jette Steckel erfasst die Essenz und kann sich auf ihr Ensemble verlassen“, so Katja Weise vom NDR (27.2.2022).

Als "Stück der Stunde" bezeichnet Heide Soltau von Deutschlandfunk Kultur (26.2.2022) die Produktion. Die Spannung im Publikum sei von Anfang an fast mit den Händen zu greifen gewesen. "Ein emotionaler, aufklärerischer, aufwühlender und reicher Abend."

Regisseurin Jette Steckel kapituliere leider ein wenig vor der Fülle des Stoffes und erzähle die Geschichte ausführlich statt exemplarisch, notiert Till Briegleb von der Süddeutschen Zeitung (27.2.2022). "Ständige Wiederholungen ähnlicher Konflikte, die zudem nie ihr Milieu verlassen, produzieren deutlich zu viele Redundanzen." Und so sei es hier tatsächlich die aktuelle Kriegspolitik Putins, die das fragende Interesse beim Zuschauen mehr auf die historischen Zusammenhänge lenke. "Die geopolitische Arroganz russischer Eliten, unbedingt ein Großreich mit Vasallenstaaten sein zu wollen, wo die nationalistischen Schlachtgesänge am Ende aber nur der Selbstbereicherung und der politischen Eitelkeit weniger dienen, wirkt wie ein historischer Refrain, der ständig wiederholt werden muss."

"Nahezu alles, was den neuen Roman von Nino Haratischwili auszeichnet, seine mäandernde Erzählweise, die fragile Poesie, das aufgelöste Raum-Zeit-Gefüge, die Komplexität der Figuren und der komplizierte historische Hintergrund, wird hier fahrlässig übergangen“, schreibt Irene Bazinger in der FAZ (28.2.2022). Brav, bieder und ohne interpretatorischen Zugriff buchstabiere die Inszenierung einfach die Handlung nach. Vom Original bleibe so nur ein Skelett übrig. "Die Aufführung ersetzt die Lektüre nicht, im Gegenteil, sie ­zerstört den Roman."

"Der Abend erinnert an einen dokumentarischen Dauerlauf voller Re-enactements, produziert für phoenix in der Primetime", so Katrin Ullmann in der taz (2.3.2022). Im Materialmeer gehe der Fokus auf die Frauenfiguren unter und damit auch auf das, wofür sie eintreten: "Das Ende jedenfalls kommt ohne happy."

 

Kommentare  
Mangelndes Licht, Hamburg: großes Theater
Unbestritten ganz großes Theater und das Stück zur Zeit schlechthin. Das Bühnenbild, die Darsteller, stringente spannende Handlung.

Danke an alle und hoffentlich lassen sich die Besucher nicht von der Spieldauer abschrecken.

Wenn die Sitze im Thalia bequemer wären, würde man die fast 5 Stunden nicht merken.

Vielen Dank für diesen Abend, über den wir (am nächsten Tag) noch viel gesprochen haben.
Mangelndes Licht, Hamburg: Erzählzeit
Der Kritik ist wenig ergänzendes hinzuzufügen. Ein schöner Abend der mir eindeutig kürzer vorkam als er tatsächlich war. Lediglich die Gewichtung der Rollen der vier Freundinnen gibt ein wenig Rätsel auf. Hier hätte ich mir eine ausgewogenere Verteilung der Erzählzeit auf alle Charaktere gewünscht.
Das mangelnde Licht, Hamburg: Opulenter Theaterabend
Ein langer Abend. Bühne großartig. Schauspieler und Schauspielerinnen sowieso. Die Charaktere, vor allem die der Männer, allerdings arg klischeehaft. Ole Lagerpuschs Rati schreit sich 4.5 Stunden die Seele aus dem Leib und von allen anderen Männern ist nichts Gutes zu erwarten. Alles sentimentale und bedürftige (und dabei natürlich aggressive) Jungs. Die Frauen, die ja eigentlich im Zentrum stehen, drehen sich wie Satelliten um sie. Die eigenen Geschichten bleiben blass bis unsichtbar (Fritzi Haberlands Figur Ira hat sehr wenig Spielraum).
Ein didaktischer Schauspieler:innen Abend mit viel Musik und Farbe; außer dieser Opulenz hat er leider nicht viel zu bieten.
Das mangelnde Licht, Hamburg: Emotionaler Zugang
Die Wiederaufnahme des Stückes „Das mangelnde Licht“ von Nino Haratischwili in der Regie von Jette Steckel wurde am Sonnabend im vollbesetzten Thalia Theater mit frenetischem Applaus erneut gefeiert.
In einer Rezension des Romans heißt es: „Es ist ein Roman, der verschlungen werden will und der verschlingt. Nino Haratischwili erzählt so lebensprall und schonungslos, so mitreißend und dicht, dass, wer nachts nicht mehr liest, noch lange wachliegt.“
Kurz die Story: „Qeto, Nene und Ira treffen sich 2019 in Brüssel auf der Retrospektive ihrer toten Freundin, der Fotografin Dina Pirveli. Ihre Bilder sind Anlass für die Erinnerung zurück an Tiflis, Anfang der 90er Jahre: Vier junge Frauen berauschen sich am Leben und an ihren ersten Lieben. Sie feiern die Gnadenfrist, die ihnen die Unkenntnis über die Zukunft gewährt, darüber, was die ersten Jahre der georgischen Unabhängigkeit bringen werden: Chaos und Gewalt in den Straßen, Stromausfälle, und die Gespaltenheit einer jungen Demokratie im Bürgerkrieg - bis hin zum Krieg in der Region Abchasien. In einem Land, in dem das Leben zum Überleben wird, kann man sich vielleicht keine Moral mehr leisten. Aber man kann sich entscheiden Mensch zu bleiben. Und obwohl unverzeihlicher Verrat und tragischer Tod die Freundschaft der vier Frauen auf eine harte Probe stellt, ist keine von ihnen bereit, sich mit einem Mangel an Licht abzufinden.“
Was zeichnet diese Inszenierung aus? Mit Sicherheit das Bühnenbild von Florian Lösche. Rotierende Stellwände mit riesigen, farbigen Pixelbildern und den darauf projizierten Bildern und Videos, mit einer Unschärfe wie es sie in der Erinnerung gibt. Vor allem das fantastische Ensemble, dem dieser Abend seinen Erfolg verdankt. Vor allen die vier Freundinnen Lisa Hagmeister (Qeto Kipiani), Maja Schöne (Dina Pirveli), Rosa Thormeyer (Nene Koridze) und Fritzi Haberlandt (Irine Jordania / Anna Tatischwili), die durch die Gegensätzlichkeit der beiden zu verkörpernden Frauenrollen, die gesamte Breite ihres schauspielerischen Könnens präsentierte und begeisterte. Dann die vier Männer Jirka Zett (Saba Iaschwili / Lewan Iaschwili), Ole Lagerpusch (Rati Kipiani / Glatzkopf), Julian Greis (Guram Kipiani / Guga Koridze / Gio Dvali) und Sebastian Zimmler (Zotne Koridze / Otto Tatischwili / Rezo), die vor allem in den Rollen der ersten Lieben der Frauen, diesen in nichts nachstanden. Dann last but not least Karin Neuhäuser (Eter Kipiani / Manana Koridze) und Barbara Nüsse (Oliko / Rostom Iaschwili / Tarik), die in kleineren Rollen bewiesen, was sie aus diesen Rollen zaubern können. Es war ein Abend der Schauspielerinnen und Schauspieler.
So fand die Kritik doch Schwächen in dieser Inszenierung wie Kapitulation vor der Fülle des Stoffes, unnötige Redundanzen, brav und bieder. Ich habe in Jette Steckels Inszenierung vor allem vier junge Frauen gesehen, die davon träumen ihr Leben zu leben und die Umstände verdunkeln ihren Traum vom Leben. Toll wie diese vier Schauspielerinnen emotional das Publikum packen mit rührenden und sensiblen Szenen, sowie brutalen und erschütternden Szenen und immer wieder Leichtigkeit und Lebensfreude im ersten Teil auflodert. Es ist eine sehr private Sichtweise der vier jungen Frauen auf ihr Leben und das politische Geschehen in ihrer Heimat. Jette Steckel verfügt auch über den Humor Szenen humoresk aufzuladen und damit Bilder zu schaffen, die ihre Klischeehaftigkeit somit verlieren. Wer sich dieser emotionalen Sichtweise anschließt wird einen Abend voller Verzauberung erleben und die so entstanden Engramme wirken nach und machen deutlich wie sehr die dramatischen politischen Zustände in Georgien jungen Menschen helles Licht raubten und sie verhaftete in Leben mit mangelndem Licht. Dieser emotionale Zugang ist der Regie einer Frau zu danken – Jette Steckel.
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