[Blank] - Staatstheater Karlsruhe
Mitgefühl ist ein Geschäft
2. März 2022. In ihrem neuen Stück "[Blank]" skizziert Alice Birch in 100 frei arrangierbaren Szenen die Auswirkungen eines fehllaufenden Sozialstaats. Für die deutschsprachige Erstaufführung wählt Karlsruhes Schauspieldirektorin Anna Bergmann drei Dutzend Szenen aus, um von einem Kreislauf der Gewalt zu erzählen.
Von Steffen Becker
2. März 2022. "Baby" ist anders. Das drückt sich nicht nur darin aus, dass sie verkündet, gerade auf eine schlafende junge Frau gepisst zu haben. Nämlich auf die Tochter der Gastgeber einer Party, auf der sie als neue Lebensgefährtin einer Anwältin vorgestellt wird, die einer Wohlstandsclique angehört. Sondern auch, dass sie nicht nackt ist, im Gegensatz zur Schickeria an der langen gedeckten Tafel vor goldenen Vorhängen. Außerdem hat sie eine gewalttätige Mutter und fragt nach den sozialen Folgen des Koks-Konsums der Tischgesellschaft.
Spiralen der Gewalt
Als Frau, die ihrer Herkunft in sozialer Vernachlässigung entkommen ist, will Frida Österbergs "Baby" natürlich nur im übertragenen Sinne ihre Gegenüber "anpissen". Auf der Bühne klagt sie eine aufgeklärte, aber trotzdem ignorante Wohlstandsgesellschaft an. "Babys" Monolog ist melodramatisch, nicht nur weil Österberg eigentlich Opernsängerin ist. Sondern auch, weil dieser (zweite) Teil von "[Blank]" als Farce gedacht ist.
Dadurch aber hat es dramaturgisch fast gar nichts mit dem Geschehen vor der Pause zu tun. "[Blank]" zeigt in aller Härte, was die Tafelgesellschaft (und mutmaßlich auch das gutbürgerliche Theaterpublikum) nicht an sich heranlässt. Die britische Autorin Alice Birch bietet Regisseur*innen 100 Szenen an, die an Spiralen von Gewalt drehen - erlebter, ausgeübter, vererbter, körperlicher, struktureller Gewalt. Gewalt, der man nicht entkommt, wenn man nichts hat.
Ausgehungert nach Wärme
Regisseurin Anna Bergmann nimmt sich daraus in ihrer deutschsprachigen Erstaufführung drei Dutzend Puzzleteile und setzt sie neu zu einem Beziehungsgeflecht zusammen. Aus den namenlosen Protagonisten des Texts werden Lissi, Emma, Marla, deren Vater Emma stalked. Alle leben sie in einem Umfeld ohne Lichtblicke, abgesehen von einem Magnolienbaum, der aber auch mit einem düsteren Geheimnis verbunden ist.
Den Kreislauf der Gewalt versinnbildlicht das Bühnenbild von Volker Hintermeier durch eine Drehkonstruktion. Eine Mietskaserne im Rohbau, provisorisch wirkende Geländer – Sinnbild für einen Sozialstaat, der für seine Bedürftigen ein Minimum bereithält, aber keine Perspektive. Der Sozialarbeiter kommt nicht hinterher, die Ärztin frisiert die Akten, die Polizisten kotzen ab.
Allerdings wirken diese Perspektiven für das, wovon "[Blank]" eigentlich erzählen will, in der Karlsruher Auswahl zu dominant. Man erfährt viel über den Blick überforderter Helfer*innen auf das Prekariat, wenig über deren Binnensicht. Dabei liegen darin die stärksten Momente. Antonia Mohr spielt in der Praxis der Ärztin eine unter die Haut gehende Szene. Sie, ein Immer-Schon-Opfer, schleudert der Ärztin wütend entgegen, wie geborgen sie sich während der Behandlung von Prügelwunden gefühlt hat, offenbart, wie ausgehungert wie sie nach Wärme und Zuwendung ist – nur um dann von einer Rechnung für den Arztbrief wieder aus der Bahn geworfen zu werden. Auch Mitgefühl ist hier nur ein Geschäft.
Reflektierte Sprache, falsches Milieu?
Leider bleiben diese Szenen am Rande der Karlsruher "[Blank]"-Inszenierung. Auch der Aspekt, dass sich Gewalt einbrennt und an die Folgegeneration vererbt, kommt relativ kurz. Obwohl ihre Beziehung zueinander das verbindende Element der Szenensammlung sind, streut Regisseurin Bergmann Interaktionen der jungen Frauen nur spärlich ein in ihre "[Blank]"-Version. Am meisten Raum bekommt noch Wassilissa Lists "Lissi". Sie verabscheut ihre Mutter, die sich nie für sie interessiert hat – und wird nach einem Missbrauch durch den Stiefvater mit 17 schwanger.
An ihrer Figur zeigt sich allerdings ein grundsätzliches Problem des Textes. Er spricht nicht die Sprache der dargestellten Personen. Lissi klagt in einem langen Monolog über Mutterschaft, dass sie sich dafür nicht gerüstet fühlt. Auch sonst lässt Alice Birch ihre Figuren Wörter und Redewendungen verwenden, die zur "Chav"-Kultur ihrer Heimat Großbritannien nicht passen. "[Blank]" ist durchzogen von einem reflektierten akademischen Duktus. Das macht das Stück ein bisschen zu einem Sozialporno: Man weiß, dass das Gezeigte nicht echt ist. Aber die beflügelte Fantasie unterhält halt besser.
[Blank] (DEA)
von Alice Birch
Deutsch von Corinna Brocher
Regie: Anna Bergmann, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Lane Schäfer, Musik: Hannes Gwisdek, Video: Sebastian Langner.
Mit: Bayan Layla, Jannek Petri, Bea Brocks, Ute Baggeröhr, André Wagner, Wassilissa List, Jannik Süselbeck, Antonia Mohr, Timo Tank, Nils Eric Müller, Hadeer Hando, Heisam Abbas, Lucie Emons, Frida Österberg, Sarah Sandeh, Max Koch.
Premiere am 5. Februar 2022. (wegen eines Orkans konnte der Kritiker die Premiere nicht besprechen und hat daher die nächstmögliche Vorstellung besucht).
Dauer: 3 Stunden 30 Minuten, eine Pause
www.staatstheater.karlsruhe.de
Kritikenrundschau
Von einem beeindruckenden Theaterabend mit toller Ensembleleistung spricht Marie-Dominique Wetzel auf SWR2 (7.2.22). Der erste Teil des Abend sei heftig. Anna Bergmann hat aus ihrer Sicht "starke Bilder gefunden und schafft durch ihren konzentrierten Zugriff auf den Text einen beeindruckenden Sog. Doch nach der Pause gibt es eine Art heiteres Nachspiel. So wie das Satyrspiel in der antiken Tragödie. Völlig andere Personen, anderes Setting. Ein launiges Abendessen voller Klamauk unter gutsituierten Freunden."
Anna Bergmann inszeniert dem Eindruck von Christian Grampert von der Badischen Zeitung (9. 2.22). zufolge als hätte sie "einen Baseballschläger in der Hand". Birchs Stücke kämen aus einer englischen psychorealistischen Tradition, die von Harold Pinter bis Stephen Poliakoff reiche. Aber während da noch Charaktere untersucht würden, ist das Schreiben von Brich aus Sicht dieses Kritikers "das einer Sozialarbeiterin, die uns die böse Realität immer nochmal vor die Füße kippt." Sie bediene ein Genre, "das man heute wohlwollend Sozialporno nennt". Die Regisseurin versuche nun verzweifelt, diese Begrenztheit der Vorlage mit vielen Mitteln aufzubrechen. Ihre Inszenierung bleibe jedoch ein Rohbau, "FKK-Theater", das leider ebenso oberflächlich wie Birchs Sozialschilderungen sei.
"Ein großer, aufwendiger Zweiteiler, würdig einer deutschsprachigen Erstaufführung", so Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (6.2.2022).Zu erleben sei ein "auch im ganz basalen Sinn spannender, nämlich krimiesker Theaterabend," gibt die Kritikerin zu Protokoll. "Sie müssen in Karlsruhe echt lange gepuzzelt haben, und selbst wenn sie einige Puzzleteile etwas biegen mussten, ist das Ergebnis weitgehend ungezwungen."
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Lieber Erich Wunder,
auf Grund Sturmtiefs "Zeynep", das am Tag der Premiere für Verheerungen sorgte, konnte der Kritiker die Premiere nicht besprechen. Da wir aber nicht das Wetter darüber entscheiden lassen wollten, was @nachtkritik.de besprochen wird, haben wir entschieden, die Besprechung nachzuholen.
Freundliche Grüsse aus der Redaktion, Esther Slevogt
Recht unübersichtlich sind die Figuren und ihr Verhältnis zueinander. Diese Figuren fungieren aber ohnehin vor allem als Thesenträger. Redundant wirkt diese schnelle Abfolge von Miniaturen über Elend und Brutalität, da die Kernaussage von Birch/Bergmann schnell klar ist. Die Spieler*innen drehen das Bühnenmonstrum dennoch nach jeder Szene unermüdlich weiter.
Nach der Pause ändert sich der Ton der Inszenierung komplett: das Ensemble speist an einer üppigen Tafel. Fast alle sind nackt, nur die Sopranistin Frida Östberg trägt elegante Abendgarderobe. Ihre Aufgabe ist es, der wohlstandsverwahrlosten Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Sehr plakativ ist also auch dieser zweite Teil der Inszenierung geraten, den die einen als Farce, die anderen im Stil der antiken Theatertradition als Satyrspiel bezeichnen.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2022/05/29/blank-anna-bergmann-badisches-staatstheater-karlsruhe-kritik/