Starker Mann ganz allein im Buffet

von Daniela Barth

Hamburg, 22. November 2008. Die globale Finanzkrise hat nun auch das Hamburger Schauspielhaus in Beschlag genommen. Henrik Ibsens "Ein Volksfeind" – vor über hundert Jahren geschrieben – strotzt geradezu vor Aktualität: Profitgier auf Kosten der Umwelt, Manipulierbarkeit der Medien, Opportunismus der stumpfen Masse, Wendehals-Mentalität. Nota bene: Grundlegende gesellschaftliche Entscheidungen werden immer nur unter Berücksichtigung der Finanzlage getroffen. Das ist Politik, die mit Moral nun mal nichts am Hut hat.

Dies bekommt auch Doktor Tomas Stockmann zu spüren, der Badearzt, der herausfindet, dass das heilende Nass in Wahrheit vergiftet ist. Schuld am Desaster ist die Gerberei, die seinem Schwiegervater (in der Hamburger Inszenierung: der Schwiegermutter) gehört. Deren Abwässer verseuchen das "klopfende Herz der Stadt". Die humane Konsequenz wäre der Bau einer Kläranlage – eine langwierige Angelegenheit mit katastrophalen wirtschaftlichen Folgen für die ganze Stadt, behauptet zumindest Tomas Stockmanns Gegenspieler: Bürgermeister Peter Stockmann, der Bruder des Arztes.

Strudelkopf hüpft auf Esstisch herum

Familiäre Rivalität spielt hier eine große Rolle. Man wird den Verdacht nicht los, dass Doktor Tomas – im Ibsenschen Originalton "ein Strudelkopf" – sich gegenüber seinem Bürgermeister-Bruder zu profilieren gedenkt. Damit ist vielleicht die absurde, heisere Begeisterung zu erklären, mit der er seine doch eigentlich niederschmetternde Entdeckung verkündet. Schauspieler Samuel Weiss, dessen Dr. Stockmann eben noch vor der Familie und den beiden Redakteuren Hovstad (Daniel Wahl) und Billing (Sören Wunderlich) des "Volksboten" jovial Arzt-Witze riss, hüpft wie ein Besessener auf dem Esstisch herum und krächzt jubelnd sein prekäres Wissen hinaus.

Das tut man übrigens in Regisseur Jarg Patakis Inszenierung häufiger, wenn man etwas zu verkünden hat: auf Möbel klettern. Ansonsten verkriechen sich die Protagonisten gern auch ins weiße Buffet oder auf das weiße Bücherregal (ein skandinavisches Möbelhaus lässt grüßen) oder in den weißen Kamin, die allesamt auf einem großen, runden, roten Teppich stehen.

Jarg Pataki macht den "Volksfeind" zu einer ausgewachsenen Groteske. Das schadet dem Ganzen wahrlich nicht, sondern sorgt für eine Art spannende, zeitgemäße Unterfütterung des sonst eher beschaulich dramatisierten Stoffes.

Futuristische Ziegenböcke auf Weltraumspaziergang

Was macht Pataki? Er drückt zum Beispiel die Schnell-Vorlauf-Taste: Explosionsartig entladen die Akteure ihre Emotionen, kehren in Sekundenschnelle ihr Innerstes nach Außen. So erfahren wir, dass Tomas' Ehefrau Katrine den Namen ihrer Tochter Petra eigentlich "bescheuert findet" und sie sich überhaupt um alles kümmern müsse. Oder dass der ach so sendungsbewusste Redakteur Hovstad gern eben diese Petra ficken möchte oder dass Peter ein Sadist ist, der seinen Neffen prügelt.

Dann schnell eine andere Taste gedrückt: Freeze. Das Standbild einer morbiden, verabscheuungswürdigen Gesellschaft. Eine Mauer, die einzurennen fast unmöglich erscheint. Und weiter: Play-Taste. Wir sehen uns einem fantastischen, extraterrestrischen Ambiente gegenüber, was vorher als Wohnungseinrichtung die Bühne zierte, hängt nun als riesiger Heuballen am Bühnen-Himmel. Die Aussicht auf unseren "grünen" Planeten? Und die Mehrheit, die zuerst hinter Tomas Stockmann stand "wie eine Wand" kommt nun bedrohlich in schrillen güldenen Astronauten-Kostümen daher. Wie futuristische "Ziegenböcke in einer Baumschule".

Tja, das ist der Wahnsinn. Der nunmehr den Doktor mit klammen Fingern ergreift, die schraubstockartig sein Hirn umklammern. Er versteigt sich im skurrilen Gestus in Hochmut, will die "Revolution gegen die Lüge" und die "dumme Masse ausrotten". Die Wurzel des Übels seiner Meinung nach: das demokratische Mehrheitsrecht. So lässt er sich zu dem machen, was man ihm vorwirft: zum rabiaten Volksfeind. "Das ganze Gemeinwesen muss gereinigt werden. Desinfiziert!"

Kopf gegen Wand statt Knarre

Stockmanns Verbitterung ist nachvollziehbar. Weder erscheint sein Artikel über die Wasserverseuchung im "Volksboten", noch kann er – abgesehen von Tochter Petra – die Unterstützung seiner Familie erwarten. Er wird gekündigt, fliegt aus der Wohnung – steht vor dem Nichts. Insofern ist seine Halsstarrigkeit sympathisch. Allerdings eben auch egomanisch obsessiv, was ihn leicht zum Terroristen machen könnte ...

Doch bei Regisseur Pataki rennt Stockmann als größenwahnsinniger Einzelgänger nur mit dem Kopf gegen die Wand. Sein Fazit bleibt: "Der stärkste Mann hier auf dieser Welt, das ist der, der ganz für sich allein steht." Indes schafft er es nicht einmal, seinem Sohn, der sich ihm am Ende anzunähern versucht, in die Augen zu schauen. Fürwahr eine Farce und ein patakischer Schluss.

 

Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen
Regie: Jarg Pataki, Bühne: Doris Dziersk, Kostüme: Nadine Grellinger, Musik: Ingo Günther, Dramaturgie: Michael Propfe / Nora Khuon, Licht: Annette ter Meulen.
Mit: Katja Danowski, Marlen Diekhoff, Tim Grobe, Marie Leuenberger, Jürgen Uter, Daniel Wahl, Samuel Weiss, Martin Wißner, Sören Wunderlich.

www.schauspielhaus.de

 

Wir sahen von Jarg Pataki außerdem Fragmente einer Sprache der Liebe in Zürich und Fremdwerden I-III in Freiburg.

 

Kritikenrundschau

Jarg Pataki lasse in seiner "Volksfeind"-Inszenierung am Hamburger Schauspielhaus "seine gute Schauspielerriege (...) wie Puppen aus einer eingefrorenen Stellung springen. Sie rennen an die Rampe, klettern auf Möbel und verkünden ihre Wahrheit", beschreibt Susann Oberacker in der Hamburger Morgenpost (24.11.2008) den Abend. Ihr Fazit: "Eine gelungene Inszenierung, die den Zuschauer in die Zwickmühle bringt. Denn so richtig will man sich mit keinem der beiden starrsinnigen Stockmänner identifizieren."

Pataki nutze die Finanzkrise "geschickt als Folie, um Ibsens Demokratieschelte dramaturgisch aufzupolieren", schreibt Stefan Grund in der Welt (24.11.2008). Diese Aktualisierung gelänge ihm "mit Hilfe souverän eingesetzter und bunt gemischter Regietheater-Stilmittel und durch einen mutigen Zugriff auf das ganze Werk. Im gelungen rhythmisierten Wechsel von worthaltigen und verspielten, musikunterlegten Sequenzen werden aus schlaffen Marionetten mal aktive Kulissenturner, mal Ausdruckstänzer der Zwanzigerjahre, mal psychedelische Taumler in der Plastikpuppenkiste." Mit dem "knapp 15-minütigen Bekenntnismonolog des idealistischen Wahrheitsfanatikers", zu dem Samuel Weiss den zentralen Disput zwischen Badearzt und Widersachern umarbeitet, erziele der Schauspieler "einen über den Abend fortwirkenden, bleibenden Eindruck", da breche auch in ihm "die Unmenschlichkeit mit voller Wucht aus".

Vor lauter Aktualitätsbezug könne eine "Volksfeind"-Inszenierung "schon mal im pädagogischen Sumpf untergehen", meint Werner Theurich bei Spiegel-online (23.11.2008). Ebendiesen "Absturz" vermeide Partaki. Pathos und Emotionalität der Figuren bürste er gegen den Strich und betone "mit prägnanter Personenregie die holzschnittartigen Züge der Charaktere": viel Kabarett und "Rampentheater", wobei der Regisseur die Figuren mitunter "ein wenig denunziatorisch ihrer eigenen Lächerlichkeit und Banalität" preisgebe. Während er so im ersten Teil ironische Distanz schaffe, schlage er im zweiten umso ernsthafter zu. Jetzt erst, wenn er das Bühnenmobiliar "in eine große, grasige Rasennarbe" zusammenrollt ("was für ein kräftiges Bild") und "auch der Held an düstere, endzeitliche Wege geführt wird" (von Weiss "gerade im Wandel großartig" dargestellt), gewinne das Ibsen-Stück "die bis dahin sorgsam vermiedene Tiefe": "Ideologie, große Worte und hohles Pathos als existentielle Gefahr bildlich und verbal mit einfachen Mitteln erfahrbar gemacht, das drehte die gesamte Aufführung überzeugend von Satire und Kabarett in die böse Parabel zurück".

Nach Lösch rechne nun auch Pataki "mit Betrug und Lüge skrupelloser Geschäftemacher ab", brülle Standpauken ins Parkett und gebe "einen satirischen Kommentar zur Finanzkrise", so Klaus Witzeling im Hamburger Abendblatt (24.11.2008). Ibsens Stockmann ergehe es "wie allen Revoluzzern": "Eitle Schreihälse verändern nichts". Samuel Weiss und Tim Grobe legten sich in den Streitszenen "wortmächtig ins Zeug", zeigten aber auch, dass sich die Brüder trotz konträrer Positionen an Rechthaberei und Selbstgefälligkeit gleich sind. Nicht zu übersehen sei bei Patakis "knackig konzentrierter Stückbearbeitung", dass sein Herz "für das experimentelle Puppen- und Objekttheater" schlage: "Mit der mechanischen Präzision einer Spieluhr lässt er es abschnurren". Die Figuren hätten "im absurden Tanz (...) gern noch grotesker gezeichnet sein können, um die Tableaus schärfer aufzuladen. Aber auch dann bliebe die soziale Parabel aus der Puppenstube holzschnittartiges Zeigefingertheater".

 

Kommentare  
Patakis Volksfeind: Theater zum Abgewöhnen
auch ich besuchte die premiere und erlebte harmloses provinz-theater, theater zum abgewöhnen.

die geschichte, die personen, alle bieder, eindimensional, kindisch, ohne tiefe und ohne geheimnis.
der mensch ist eben nicht bloß gut oder bloß schlecht, sondern er changiert und ringt mit sich und mit der welt - diese spannenden ambivalenzen fehlen gänzlich in dieser inszenierung.

ein banaler text zu einem banalen thema, braves gmk-oberstufenniveau, wenn überhaupt.
zwischendurch immer faschistoid anmutende, eklige wortraserei, die aber nie attackiert und in ihre grenzen gewiesen wird.

alle schauspieler geknechtet durch einen uninspirierten und einfältigen regisseur.
samuel weis zieht alle register, die wir leider schon aus anderen stücken kennen - 10 verschiedene gesten und betonungen, wenn überhaupt, immer wieder penetrant dargeboten. (weit entfernt von seinen grandiosen frühen hamburger sternstunden in "richard III"...)
tim grobe zieht leider gar keine register, ganz gegen seine gewohnheit.
katja danowski bleibt farblos und leer und verheddert sich im harm ihrer eklig pathetischen mutterrolle.

das bühnenbild anfangs wie gesponsert von teppichvorwerk und möbelikea, im zweiten teil weihnachtsmärchen "peterchens/tomas´ mondfahrt" plus kindergeburtstag "der plumpssack geht um".

die kostüme erst belanglos, dann aber erneut pennälerhaftes, schockierend albernes "wir nähen mit alu-folie"...

zum schluß peinliche bösartige psycho-esoterik, um die hauptfigur des arztes ungerechterweise gänzlich zu diskreditieren: der bis dahin nahezu unauffällige, schauspielerisch überflüssige sohn wirft dem vater aus heiterem himmel vor, er wage nie, ihm in die augen zu schauen. so what? und was beweist das? nichts!

in diese langweiligen augen hätte übrigens auch ich nicht schauen mögen.
Patakis Volksfeind: Ibsen auf Playstation-Niveau
toll,ibsen auf playstation niveau mit vorspultaste.das ist doch wirklich innovativ.vielleicht darf er als nächstes shakespeare auf bushidoformat bringen.ein hoch auf die jungen lustigen regisseure.
Kommentar schreiben