Lektionen in Wut

10. März 2022. Die westukrainische Stadt Lviv ist ein Anlaufpunkt für Flüchtende geworden. Auch für Künstler:innen aus dem ganzen Land stellt sich die Frage: gehen oder bleiben? Sie berichten von ihren Ängsten und Sorgen, aber auch von ihrer Wut auf die Invasoren.

Von Oleksii Palianychka

10. März 2022. Wenn heute in der Ukraine jemand schreibt: "Wie geht es dir?", dann heißt das soviel wie: "Bist Du noch am Leben? Bleibe stark, ich liebe dich. Es lebe die Ukraine!"

Am 3. März sagte mir ein Choreograf aus Sumy: "Jetzt ist es ruhig, aber die Spannung wächst ... Das ist doch alles Scheiße! Ich habe wirklich Angst, dass alles noch schlimmer wird: Unserer Stadt gehen die Medikamente aus, von Lebensmitteln ganz zu schweigen, weil jetzt alle am Essen sparen. Wenn man uns alle umbringt und meine Stadt zerbombt wird, sterbe ich lieber mit einer Waffe auf der Straße als einfach zu Hause erschossen zu werden. Scheiß-Putin, soll er verrecken!"

Kyiv Metro Sc hutzvorBombeninUbahndstationen OleksiiPalianychkaMenschen, die Schutz vor Bomben und Granaten in U-Bahnhöfen suchen – hier in der ukrainischen Hauptstadt Kyiv © Oleksii Palianychka

Kurz darauf war in der Zeitung "Ukrainska Prawda" zu lesen: "Putin hat Macron mitgeteilt, dass es keine Raketenangriffe auf Kyiv und andere Städte gibt." Gleichzeitig brannten alle Städte in der Nähe der Grenze zur Russischen Föderation und die Hauptstadt meines Landes – getroffen von Raketen, Marschflugkörpern und Vakuumbomben. Um wirklich erklären zu können, was gerade in der Ukraine passiert, muss ich Ihnen ein paar private Geschichten erzählen.

Fliehen oder Suppe kochen

Olena Schewtschenko, Dramatikerin, Schauspielerin und Animatorin. Lebt und arbeitet in Kyiv. Sie wurde in Soledar, in der Region Donezk, geboren.

Wie geht es Ihnen? Wie sind Sie hierhergekommen?

"Nun ... ich lebe, Gott sei Dank. Der Weg war hart und schwierig. Alle zentralen U-Bahn-Stationen werden als Luftschutzbunker genutzt, dort leben Menschen. Es ist unmöglich, mit der U-Bahn zum Bahnhof zu gelangen. Und der Bahnhof ist eine einzige Katastrophe. Sowohl in Lwiw als auch in Kyiv. Züge fallen aus, und die Leute bleiben auf dem Bahnhof. Es gibt immer mehr Menschen; es ist unmöglich, auf einen anderen Bahnsteig zu gelangen. Ich musste mir überlegen, wie ich in den Zug komme und auch, wie ich, Makar, den Kleinen wach halte; wir behandeln gerade sein Ohr ... Ich weiß nicht, was ich in dieser Situation tun soll. Früher gingen wir einfach zum Arzt, aber jetzt ..."

Wie haben Sie den 24. Februar (den Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine) verbracht?

"Wir sind von starken Explosionen aufgewacht. Wir haben große Panoramafenster, und es gibt kein Versteck in der Wohnung. Uns wurde klar: Es hat begonnen. Aber wir wussten nicht, was zu tun ist. Einiges hatten wir bereits vorab zusammengetragen: Dokumente, Geld. Aber wir mussten auch Kleidung und Lebensmittel mitnehmen. Dann gingen wir hinunter in den Luftschutzbunker, eine Tiefgarage, und setzten uns hin. Da wir im 19. Stock wohnen und der Aufzug ausgeschaltet ist, war klar, dass es für mein Kind und mich schwierig werden würde, bei jedem Luftalarm dorthin zu rennen.

Wir nahmen einen Roller für Makar mit und trugen Bänke von der Straße herein. Aber der Luftschutzbunker ist sehr kalt – etwa zehn Grad. Eine Weile dort zu sitzen, hält man noch aus, aber schlafen … Ich habe Makar wie in einen Kokon eingewickelt. Wenn er plötzlich krank würde, wüsste ich nicht, wo ich ihn jetzt behandeln lassen könnte. Bei Explosionen hämmerte mein Herz jedes Mal wie wild, meine Arme und Beine waren wie Watte. Ich habe mich weniger um mich als um das Kind gesorgt. Wenn sie Kyiv zum Beispiel jetzt umzingeln, werden sie die Leute nicht rauslassen, Essen und Wasser werden knapp. Für mich wäre das okay, aber was soll ich mit dem Kind machen? Er reagiert allergisch auf Milchprodukte."

Haben Sie Verwandte oder Freunde in Russland? Und wenn ja: Was sagen sie?

"Mein Mann hat zwei Onkel in Moskau. Sie sind beide Militärangehörige und glauben an ihren Präsidenten. Sie sind überzeugt, dass Russland seine Interessen verteidigt – also Russland und die Russen. Sie sagen: "Keine Sorge, sie schießen nur auf militärische Einrichtungen; ihr werdet nur ein bisschen besiegt, ihr bekommt einen neuen Präsidenten und alles wird gut." Sie haben sogar einen Namen genannt. Ich will nicht auf Konfrontationskurs gehen, weil es sonst zu einem großen Zerwürfnis kommt und weil sie nicht einmal versuchen, etwas zu verstehen. Mir ist klar, dass die Informationen, die sie bekommen, sich komplett von dem unterscheiden, was wir erleben. Ich versuche also, ihnen das Bild zu vermitteln, das ich sehe – 'in der Freizeit', wenn wir nicht bombardiert werden."

Wie würden Sie Ihre Gefühle beschreiben?

"Ich versuche immer noch, über all das nicht nachzudenken. Man muss ständig etwas tun; ich fühle mich sehr müde, und wenn ich einen freien Moment habe, versuche ich, mich einfach auszuruhen.

Ich habe sogar weniger Angst vor den Explosionen als vor der Tatsache, dass diese Irren in die Keller kommen. Ich habe einen Sohn, der ist drei Jahre alt. Wie soll ich ihm das erklären, und was wäre dann zu tun? Ich habe ein kleines Messer in der Tasche; damit kann man Gurken schneiden … Bei Explosionen beginnt man mit der Zeit zu unterscheiden, ob eine Rakete oder eine Granate abgefeuert wird. Wenn es eine Rakete ist, dann ist sie noch weit weg.

VersorgungderMenscheninderSchlangeamBahnhof OleksiiPaloianychkaMenschen waren vor dem  Bahnhof von Lviv auf eine Möglichkeit, das Land verlassen zu können © Oleksii Palianychka

Ich habe mich ständig gefragt, ob wir gehen sollten oder nicht. Wir saßen in der Wohnung und hörten das Geräusch der Rollkofferräder auf den Fliesen im Flur und dachten: Die Nachbarn verlassen jetzt Kyiv, vielleicht sollten wir auch gehen? Dann verstummte der Lärm, die Sirenen hörten auf zu heulen, wir erholten uns ein bisschen und ich sagte mir: Ich muss eine Suppe kochen. Wieder einmal steht die Suppe ganz oben auf der Liste.

Aber am 1. März habe ich dann gelesen, dass Lukaschenko offiziell erklärt hat, sich auch am Krieg beteiligen zu wollen. Ich dachte: Es sind nur ein paar Minuten Fahrt bis zur Absperrung. Also packten wir unsere Sachen und verließen Kyiv."

Wie man plötzlich mit seinem achtjährigen Kind die Rollen tauscht

Natalia Ribka-Parkhomenko, Schauspielerin des Les Kurbas Theaters Lwiw, geboren in Charkiw

Wie haben Sie den 24. Februar verbracht?

"Am 24. Februar hat sich mein Leben – wie das aller anderen auch – in ein Davor und ein Danach geteilt. Um 5:50 Uhr wachte ich auf, weil mein Mann aus Kyiv anrief und schrie, dass es "angefangen" habe. Ich war sofort hellwach, griff nach meinem Telefon und fand darauf einen Haufen verpasster Anrufe aus Charkiw. Ich bin in Charkiw geboren, lebe aber jetzt in Lwiw. In Charkiw leben mein Vater, mein Bruder und seine Freundin Diana; die beiden werden im Juni ein Baby bekommen. Ich rief sofort an, und mein Bruder sagte: "Natalia, es hat angefangen." Wir bekamen alle einen furchtbaren Schock; man nennt das wohl "Panikattacken". Ich war vollkommen entscheidungsunfähig. Denn das ist eine Realität, in der man noch nie gewesen ist und mit der man einfach keinerlei Erfahrungen hat.

Nach etwa der Hälfte des Tages begannen wir in der Wohnung herumzulaufen und zu überlegen, welche Entscheidungen wir treffen sollten. Mein Bruder, seine Freundin und mein Vater konnten leider nicht aus Charkiw flüchten, weil sie kein Benzin hatten. Sie machten sich schnell auf die Suche nach einer Tankstelle, aber es gab bereits kilometerlange Schlangen, und es war unmöglich zu tanken.

Mein Vater sagte, sie würden versuchen, im Laufe des Tages aufzutanken, aber wegen des Beschusses wurde daraus nichts. Die nächsten zwei Tage verbrachten sie im Luftschutzkeller. Am dritten Tag verließen sie das Haus nicht mehr. Weil es für die schwangere Diana sehr schwierig war, sich im Luftschutzkeller aufzuhalten, schließen sie sich jetzt, wenn die Sirenen angehen, im Badezimmer ein.

Auch wir hier in Lwiw standen einen Tag lang unter Schock; ich hatte noch nie eine solche psychische Extremerfahrung durchlebt; ich dachte, ich wäre nicht ich selbst. Ich habe eine kleine Tochter - acht Jahre alt. Und ich hatte das Gefühl, wir hätten die Rollen getauscht: als ob sie zur Mutter geworden wäre und ich zu ihrer Tochter."

Was macht das Theater in der Zeit des Krieges?

"Am 26. oder 27. Februar, als uns klar wurde, dass wir auf die Situation reagieren müssen, versammelten wir uns im Theater. Ich rief Kateryna Sadova (die Frau des Bürgermeisters von Lwiw; Anm. d. Autors) an und fragte sie, was wir machen sollen. Sie sagte, dass das Zentrum für Zeitgenössische Kunst eine Notunterkunft eingerichtet habe, damit alle hingehen und sich anschauen können, wie man so etwas macht. Ich bot dann an, eine solche Unterkunft auch im Theater einzurichten, und alle unterstützten das. Wir schickten die Infos dazu dann auf unseren offiziellen und privaten Facebook-Seiten raus, und die Leute reagierten sehr schnell: Nach drei Stunden hatten wir alles, was wir brauchten. Wir nahmen die ersten Menschen auf und erlaubten ihnen, so lange zu bleiben, wie sie wollten.

Zuerst nahmen wir alle auf und hatten plötzlich auch zwei seltsame Männer dabei, die sich sehr unangemessen verhielten. Da wurde uns klar, dass es wahrscheinlich so nicht funktionieren würde, einfach jeden so von der Straße zu holen. Bei uns waren dann sehr unterschiedliche Leute – aus Kyiv, Odessa, Saporischschja, Dnipropetrowsk und anderen ukrainischen Städten. Manche bleiben in Lwiw, aber viele gehen auch weiter nach Polen, Rumänien, in die Slowakei usw."

Viele Menschen in der Ukraine wissen heute nicht, wie es weitergehen soll. Wie beantwortest Du die Frage für dich?

"Ich glaube, dass man in diesen Zeiten sehr diszipliniert sein muss. Die Situation ist psychisch sehr belastend, und wenn man Verantwortung für andere Menschen übernimmt, hat man auch einfach kein Recht darauf, sich gehen zu lassen. Vielleicht habe ich keine Lust, mich zu schminken und würde lieber in meiner Jogginghose zu Hause sitzen, aber das kann ich mir nicht erlauben. Und wenn du Mutter bist, ist es einfach beschämend, wenn dein Kind deine Rolle spielen muss."

DieberuehmteKathetdralevonLviv wirdverpackt OleksiiPalianychkaDie Fenster der Kathedrale "Mariae Himmelfahrt" in Lviv, im 15. Jahrhundert erbaut, werden abgedeckt, um im Angriffsfall Schäden an dem historischen Gebäude vorzubeugen © Oleksii Palianychka 

Jetzt noch eine sehr seltsame Frage, aber: Was ist für Sie Theater?

"Ich glaube, je krasser das Theater ist, desto mehr ist es ein Spiegel unserer Zeit. Gute Schauspieler und Regisseure 'riechen' einfach die Gegenwart. Sie können nicht in einer Parallelwelt leben. Wir haben ja nun gesehen, was es bedeutet und welche Folgen es hat, wenn sich ein Staat in solch einer Parallelwelt befindet.

Ich glaube, dass dieser Krieg viele patriotische Lieder hervorbringen wird. Das ist jetzt wahrscheinlich das richtige Format: nachts für diese Menschen zu singen. Das ist die Aufgabe des Theaters zurzeit."

Es gibt kein Brudervolk

Dmytro Nekrasov, Direktor des Nationalen Schtschepkin-Theaters Sumy, geboren in Charkiw

Wie haben Sie den 24. Februar erlebt?

"Meine Frau Daria und ich haben am 22. Februar Hochzeitstag. Wir hatten ein Familienessen in einem Restaurant in Sumy. Und für den nächsten Tag hatten wir Fahrkarten für einen Zug: Wir wollten ein bisschen Zeit miteinander verbringen und in die Berge in der Nähe der Stadt Slawske (in der Region Lwiw) fahren. Danach wollten wir noch zu Freunden in Lwiw. Und am Ende der Reise wäre ich nach Kyiv wegen einer Ausschreibung für die künstlerische Leitung des Stadttheaters 'Aktor' gefahren. Also verließen wir Sumy am 23., und am 24. morgens weckt mich Daria auf und sagt: 'Der Krieg hat begonnen.' Wir waren gerade in der Nähe von Lwiw."

Was war das letzte Stück, das Sie inszeniert haben?

"Das war die Inszenierung von Olga Matsyupas Stück 'Soloveki Solovki' (das Stück hieß 'Unser Norden') im ukrainischen Theater Luhansk (seit Kriegsbeginn 2014 befindet es sich in Siverskodonetsk). Das Stück handelt von dem, was jetzt passiert: von diesem Kampf zwischen dem 'älteren' und dem 'jüngeren' Bruder."

Haben Sie Freunde oder Verwandte in Russland?

"Ich habe die Beziehung zu ihnen vor langer Zeit abgebrochen."

Daria: "Meine Klassenkameradin, mit der ich in Charkiw studiert habe, hat mich angerufen. Sie sagte, dass Kupjansk (im Gebiet Charkiw) erobert wurde und Charkiw bald erobert sein wird, dann würde alles ruhig und friedlich sein. Ich sagte sofort: 'Auf Wiedersehen.' Bis zum 24. Februar folgte ich noch einigen Russen auf Instagram, aber als ich nach der Invasion sah, was sie veröffentlichten – ein schönes Leben, in dem überhaupt nichts zu passieren scheint – habe ich mich abgemeldet. Sie leben in einer Art Paralleluniversum."

Sie arbeiten in Sumy, aber sind Sie von dort?

"Ich komme aus Charkiw, und gestern (am 1. März - Anm. d. Übers.) schlug eine Granate in der Autowerkstatt ein. Das war dreihundert Meter von meinem Haus entfernt. Ich fühlte so einen Schmerz und habe so eine grässliche Angst um meine Heimat ... Ich liebe Charkiw, ich bin ein Stadt-Patriot. Heute fiel eine Granate hundert Meter vom Opernhaus entfernt. In letzter Zeit wurde dort so viel aufgebaut, mit so viel Mühe. Mir tut das Herz weh, wenn ich all die Bilder von Charkiw jetzt sehe."

Was bedeutet für Sie der Satz: "Wir sind für den Frieden"?

"In diesen sieben Tagen habe ich ein starkes Gefühl von Hass und Abscheu gegenüber allem entwickelt, was mit dem Wort 'Russland' zu tun hat. Ich bin nicht für den Frieden. Nur für den Sieg."

Was fühlen Sie, wenn Sie tote russische Soldaten sehen?

"Wahrscheinlich ist es ein Gefühl der Genugtuung. Ein Sinn für Gerechtigkeit."

Wie sollten Ihrer Meinung nach die Beziehungen zu den Russen nach dem Krieg aussehen?

"Es soll einfach keine mehr geben. Wenn ich sehe, wie die Städte, die mir so am Herzen liegen, bombardiert werden: Charkiw, Sumy, Siverskodonetsk, dann wünsche ich mir, dass Moskau genauso brennt."

StatuenDer Brunnen aus der Zeit um 1800 in historischen Altstadt von Lviv wird verpackt und soll so vor Zerstörung geschützt werden. © Oleksii Palianychka

Aber schauen Sie sich die jüngste Generation in Russland an, also Kinder unter fünf Jahren. Mit unserem Hass werden wir ihre Haltung uns gegenüber prägen. Diese Kinder verstehen jetzt auch nichts, aber sie werden die Konsequenzen dessen aufklären, was ihre Eltern getan haben. Haben sie kein Mitleid mit ihnen?

"An russische Kinder will ich überhaupt nicht denken. Sie sterben nicht an Granaten und sie sterben nicht an Kugeln. So grausam es auch klingen mag, es ist mir egal, was mit den Kindern der Russen passiert. Mir ist wichtig, dass unsere Kinder jetzt sterben und leiden. Ich werde meinen Kindern beibringen, ihren eigenen Kindern beizubringen, dass es kein 'Brudervolk' gibt (die Russen sehen in den Ukrainern ein "Brudervolk" – Anm. d. Übers.)."

Wir sind für den Frieden

Oleksii Palianychka, Theaterkritiker in Lviv, Autor am Lviver Thetaer "People + Puppets"

"Wie geht es dir?" - fragt mich die beste Freundin meiner Mutter (Svitlana aus Chucovy im Ural). Ich fange an, ihr leidenschaftlich zu erzählen, was hier passiert, über den Beschuss von Städten … "Die Zivilbevölkerung ist in Sicherheit. Sie schießen nur auf strategische Ziele", stellt Svitlana klar. Ich sage, dass Zivilisten sterben, worauf sie antwortet: "Uns wird im Fernsehen gesagt, dass nur ukrainische Nazis auf Zivilisten schießen." Ich sage, dass es einen Krieg gibt, dass russische Panzer in mein Land gekommen sind und jetzt in einem Dorf in der Region Tschernihiw stehen, wo meine Schwestern und meine Mutter leben, woraufhin ich eine andere Kreml-These zu hören bekommen: "Zivilisten sind nicht betroffen … . Das ist alles wegen eurem Selenskyj, der eine Marionettenfigur Amerikas ist …" – danach war mir klar, dass jeder weitere Dialog unmöglich ist.

Russische Truppen sind in mein Land gekommen, russische Bomben und Raketen fallen auf ukrainische Städte (wie es in Luhansk und Donezk der Fall war, und auch auf der Krim 2014), und für die meisten Russen ist dies eine "notwendige Maßnahme" zur Rettung der "russischen Welt" ("russki mir"). Dieser Ausdruck hat eigentlich zwei Bedeutungen: "Russische Welt" und "Russischer Frieden". Putin verwendet diesen Ausdruck oft, um das Gebiet zu beschreiben, in dem Russisch gesprochen wird; und Russen verwenden es oft als Synonym für friedenserhaltende Operationen. In den letzten Tagen hat mich schon der Satz "Wir sind für den Frieden" in die Hysterie getrieben. Alle Russen, die ihn aussprechen, provozieren sofort Wut und Hass in mir.

Manchmal frage ich mich: Habe ich eigentlich das Recht so zu hassen? Sollen die Europäer von uns Ukrainern diesen Eindruck gewinnen? Aber wenn ich die Ruinen und die toten Ukrainer sehe, wenn sich gleichzeitig meine Freunde in Kellern verstecken und sie nur beten können, dass sie nicht getötet oder vergewaltigt werden (in Cherson gab es am 3. März Informationen über Vergewaltigungen, manche Frauen und Mädchen haben das nicht überlebt), dann bleibt in mir nichts als Hass zurück.

Ich appelliere an alle Russen: "Geht einfach nach Hause. Ihr habt in meinem Land nichts zu suchen. Ihr bringt nur Tod und Verderben, ihr zerstört unser Leben und die Zukunft von unzählig vielen Menschen." Als Antwort höre ich dann den vielstimmigen Chor russischer Verwandter und Freunde, die ich kürzlich interviewt habe: "Wir retten euch (vor den ukrainischen Nazis – Anm. d. Übers.) und dann wird Frieden sein."

Wut ist die Waffe, die uns zum Sieg verhelfen wird. Aber manchmal halte ich inne und denke: "Und dann? Mit welchen Emotionen werden wir das Land wieder aufbauen?" Aber vielleicht sollte man die Probleme so lösen, wie sie kommen.

 

OleksipalianychaOleksii Palianychka
arbeitet als Theaterkritiker in Lviv. Darüber hinaus ist er Autor am Lviver Theater "People + Puppets".
Vor der Invasion schrieb er eine wissenschaftliche Arbeit über Performancepraktiken der Revolution von 2014 und ihre Auswirkungen auf die ukrainische Gesellschaft. Foto: Oleksii Palianychka | Facebook

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Harry Lehmann

 

Aus der ukrainischen Stadt Lviv gibt es einen weiteren Report von Oleksii Palianychka.

Aus der ukrainischen Hauptstadt Kyiw berichtet Lena Mygashko.

Im Interview spricht die Autorin Sasha M. Salzmann über ihre Sicht auf das Geschehen.

Kommentare  
Report aus Lviv II: Phantomreflexe
Nie hätte ich gedacht, dass es einen solchen Rückfall in Zustände des Kalten Krieges je wieder geben könnte. Natürlich darf man heute nicht mit damals vergleichen. Es gibt neue Qualitäten. Es werden lediglich alte Reflexe abgerufen. Das heißt noch lange nicht, das sich die Geschichte wiederholt. Es heißt nur, das ererbte Reflexe missbraucht werden, um eine neue Situation zu verklären. In der Armee der russischen Föderation kämpfen Menschen, die nicht gegen ihre PartnerInnen in der Ukraine kämpfen wollen. Und natürlich gibt es in den ukrainischen Streitkräften Menschen, welche ebenfalls nicht gegen ihre russischen PartnerInnen kämpfen wollen. Der Bruderkrieg wahr eigentlich nicht Teil des kalten Krieges. Der war ein Krieg verschiedener Blöcke, die es heute so nicht mehr gibt. In Moskau, übrigens laut UN die Metropole mit der besten Lebensqualität, lebt man genauso wie in Paris, London und Berlin den freien Markt. Es sind Phantomreflexe eines nicht mehr vorhandenen Konflikts, die hier aktiviert werden. Niemand braucht diesen Krieg. Wozu auch? Wäre es nach Gorbatschow gegangen, wäre die Nato längst aufgelöst und die amerikanischen Stützpunkte in der EU ebenso Vergangenheit, wie die Sowjetischen. Es sind unglaubliche historische Verfehlungen, die dazu führten, dass dieser neue Wirtschaftskrieg in einem alten Kostüm daher kommt. (Eigentlich sollte es ein gemeinsames Sicherheitssystem mit Russland geben.) Die Ukraine ist nur der analoge Austragungsort. Und ein Clown bietet sie als Arena an. Ein Zirkus, in dem bildhaft um eine längst verloren gegangene Ehre der Ukraine gekämpft werden soll, mit alten Waffen der NVA. Was für ein Gassenhauer. Die Medien verdienen sich krumm und dämlich. Und das Weltpublikum glotzt auf die ukrainische Manege. Dort wird die russische Bevölkerung zu KollaborateurenInnen, die genauso enden werden, wie die russischen Invasoren. Six feed under. Manege frei. Der Clown lebt von seiner Dummheit und davon, dass er nicht sieht, wer ihm gleich an die Gurgel geht. Er sieht den Bären nicht. Das Publikum schon. Und kein Zuruf hilft. Im Zirkus steckt die Frau des Clowns im Bärenkostüm. Im Krieg wird er wirklich gefressen. Dann ist die Vorstellung zu Ende.
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