Hymne der wütenden Mütter

19. März 2022. Die israelische Choreographin Reut Shemesh befragt in ihren Tanzstücken regelmäßig soziale Rollenvorstellungen. Mit "Bad Mothers" widmet sie sich jetzt am Theater Oberhausen den Bürden der Mutterschaft. Mit glänzendem Look, harten Beats und Stampf-Tänzen.

Von Sarah Heppekausen

Das Tanzstück "Bad Mothers" von Reut Shemesh am Theater Oberhausen © Isabel Machado Rios

19. März 2022. Draußen, am dunklen Himmel überm Oberhausener Gewerbegebiet, wo die Probebühne als Außenspielstätte des Stadttheaters angesiedelt ist, leuchtet der Vollmond. Im Inneren ebenso. Er prangt über der angedeuteten Hausfassade, strahlt mal im satten Gelb, mal im kühleren Hellblau. Hängt da wie eine Verheißung, wie ein Ausrufezeichen, wie eine Bürde. Die Mystik des Mondes reicht selbstverständlich auch hinein in den Bereich der Mutterschaft. Da gibt es dann etwa die Volksweisheit, dass bei Vollmond mehr Babys geboren werden. Wissenschaftliche Beweise gibt es dafür nicht. Aber um nüchterne Fakten geht es Reut Shemesh an diesem Abend nicht.

Stampf-Tänze gegen den Hormonstress

Die in Israel aufgewachsene und in Köln lebende Choreografin hat mit Schauspieler:innen des Theaters Oberhausen ein Tanztheaterstück entwickelt, das Mütter in den Blick nimmt. "Gute Mütter, alleinerziehende Mütter, penetrierende Mütter, schlechte Mütter… Mütter, die nicht auf Deutsch schreiben können, passive Mütter, Mütter von Nazis, Kühlschrankmütter, Bulldozer-Mütter…", wie sie zu Beginn in einer Hymne ausgesprochen und besungen werden. Ausbuchstabierte "Bad Mothers", die später in silber- und kupferfarbenen Glanzanzügen überm Schwangerschaftsbauch auf die Bühne treten. Ja, die drei Performerinnen be-treten den Boden, rhythmisch stampfend erarbeiten sie sich ihren Platz. In mechanischen, abgehackten Bewegungen bauen sie Hormonstress ab, motivieren sich im Gleichklang hüpfend und klatschend.

badmothers2 C IsabelMachadoRiosDie Mystik des Mondes und der Chor der Mütterlichkeit: das Oberhausener Ensemble spielt auf einer von Ronni Shendar gestalteten Bühne © Isabel Machado Rios

Jede Bewegung ist vielmehr ein sozialer Akt als ein individueller. Reut Shemesh befragt in ihren Arbeiten immer wieder den Menschen in seinen gesellschaftlichen Strukturen. In "Atara" (2019) ließ sie – die selbst in säkular-orthodoxen Familienverhältnissen aufwuchs – Klischees, Vorurteile und Lebensweisen des orthodoxen Lebens tanzen. Im Duett "Leviah" (2015) reflektierte sie die emotionalen und körperlichen Bedrängnisse aus ihrer Zeit beim israelischen Militär. In die Welt der Gardetänzerinnen arbeitete sich Shemesh auch schon ein, bis tief hinter die funkelnd-strahlende Maskerade. Amüsierendes und ein bedrohliches Unbehagen treffen da immer wieder aufeinander.

Das ist in "Bad Mothers" nicht anders. Wenn die von Kostümbildnerin Andrea Barba in Tennissocken und weißen Kurzhosen gesteckten, nicht-schwangeren Performer:innen chorisch die Mütter anrufen, mag das noch komisch wirken. Wenn ihre Laute dann aber immer schneller, immer dringlicher rausgedrückt werden, wenn sie ihre Köpfe und Oberkörper dazu im Takt schütteln, dann wird Gesellschaftsdruck körperlich spürbar.

Im Takt der Mütterlichkeit

Die Mütter atmen, stöhnen, schreien, sie formieren sich im Gleichschritt, feuern sich an. Eine kurze Begegnung zwischen Frau und Mann mutet beinahe zärtlich an, sie tragen sich abwechselnd, es endet dann aber doch in einer bedrängenden, gewaltvollen Geste. Jede Bewegung, jede hier rhythmisch ausgeführte Handlung ist ein Ausdruck der Zuschreibung, ob selbstauferlegt oder fremdbestimmt ist dabei nicht immer deutlich zu trennen.

badmothers3 C IsabelMachadoRiosMit Superheldinnen-Glanz: die Tänzer:innen in Kostümen von Andrea Barba © Isabel Machado Rios

Shemesh, selbst Mutter eines zweijährigen Sohnes, ist unerbittlich: Mutterschaft ist keine sinnstiftende Erfüllung, es ist eine Rolle, die ausgespielt werden muss, eine körperliche Anstrengung, ein sozialer Kraftakt.

Jedem Lächeln folgt ein Schaudern

Auch die Kinder sind keine Augenweide. Über ihren weiß bekleideten Tennis-Körpern tragen die Darstellenden jetzt übermenschlich große Masken, die mit ihren Falten mal an knautschige Babygesichter, mal an gealterte Fratzen erinnern. Rot glühend wie im Dauerfieber. Sinnbilder einer Lebensaufgabe. Eine Mutter saß gerade noch rauchend an der Rampe. Nun trägt sie ihr Riesenbaby auf dem Arm, schunkelt es beruhigend. Aber was für ein beunruhigendes Bild das ist.

Reut Shemesh ist keine Regisseurin der glanzvollen Oberflächen. Sie gräbt sich ein in ihre Themen, seziert Schichten, formuliert Ambivalenzen. Jedem Lächeln folgt ein Schaudern. Und so ist auch das Bild der Mutter hier ein vielschichtiges und vielschichtig deutbares. Raus aus dem Superheldinnen-Glanzanzug, rein in die Hirschkuh-Maske, um zu bekennen, dass nicht jede Mutter nach der Geburt ihres Kindes glücklich ist. "Ich hoffe, du vergibst mir das eines Tages", sind die letzten Worte des Abends. Und weil insgesamt so wenige Worte gesprochen werden in der Inszenierung, bohren auch die sich ein.

 

Bad Mothers
von Reut Shemesh
Regie, Choreografie, Text: Reut Shemesh; Bühne und Licht: Ronni Shendar; Kostüme: Andrea Barba; Komposition und Musik: Simon Bauer; Dramaturgie: Raban Witt.
Mit: Torsten Bauer, Susanne Burkhard, Agnes Lampkin, Niv Melamed, Ronja Oppelt, Lucija Romanova, Daniel Rothaug, Luna Schmid.
Premiere am 18. März 2022
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.theater-oberhausen.de
www.reutshemesh.com

 

Kritikenrundschau

Auf der Bühne werde Gebären zu einem brachialen Horrortrip, berichtet Anke Rebbert im WDR (19.3.2022). Reut Shemesh finde intensive Bilder, die sie assoziativ verknüpfe: "Bad Mothers feiert die dunkle Seite der Mutterschaft", heißt es im TV-Beitrag über die Produktion der israelischen Choreografin.

Dorothea Marcus beschreibt im Deutschlandfunk (20.3.2022), wie die Performer:innen mit den monströsen Babyköpfen das "Baby-Zucken oder Kleinkind-Toben" tänzerisch so imitieren, dass es gruselig und bedrohlich wirke. "Spannend und sehenswert, wie an diesem Abend fast ohne Worte gelingt, Unsagbares auszudrücken."

Sven Thielmann von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (21.3.2022) empfiehlt den Abend lediglich jenen Zuschauer:innen, "die sich eine Stunde in ihrem Muttersein selbstbestätigen, gepflegt langweilen oder aber niveauvoll ärgern wollen".

 

Kommentare  
Bad Mothers, Oberhausen: Großartige Leistung
Ergänzend möchte ich noch die großartige Leistung der Darstellerinnen und Darsteller erwähnen, insbesondere der Ensemblemitglieder des Theaters Oberhausen, die den Tänzern auf der Bühne in nichts nach standen. „Bad Mothers“ ist jetzt schon mein Bühnen- Highlight der letzten Jahre überhaupt.
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